Barbara Hochstrasser: Burnout und Erschöpfungsdepression
Rezensiert von Gertrude Henn, 19.04.2024
Barbara Hochstrasser: Burnout und Erschöpfungsdepression. Konzepte, Verursachungsmodelle, Therapieansätze. Hogrefe AG (Bern) 2023. 312 Seiten. ISBN 978-3-456-85693-3. D: 59,95 EUR, A: 61,70 EUR, CH: 77,00 sFr.
Thema
Das vorliegende Fachbuch vermittelt die wissenschaftlichen Grundlagen von Burnout und Erschöpfungsdepression. Gleichzeitig stellt es einen fundierten Leitfaden zur Behandlung und Begleitung der von Burnout betroffenen Menschen dar.
Autorin
Dr. Barbara Hochstrasser entwickelte und implementierte das erste integrierte Behandlungsprogramm für Burnout-PatientInnen in der Schweiz. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefärztin der Schweizer Privatklinik Meiringen und Präsidentin des Schweizer Expertennetzwerks für Burnout.
Entstehungshintergrund
Der Anteil dauergestresster und infolge gesundheitlich beeinträchtigter ArbeitnehmerInnen steigt. Krankheiten, Arbeitsausfälle und Behandlung verursachen Kosten in Milliardenhöhe. Burnout – als eine prozesshafte Stressbelastungsstörung in der Auseinandersetzung mit dem Arbeitsumfeld (vgl. S. 15) ist ein relevantes, zu behandelndes klinisches Syndrom. Es erfordert eine interdisziplinäre, multimodale Herangehensweise. Zahlreiche Publikationen zum Thema bewegen sich auf „Ratgeberniveau“ (S. 11). Konzipiert als praxisnahes Lehrbuch will die Autorin ein orientierendes Referenzwerk zur Burnout-Behandlung vorlegen. Sie adressiert ÄrztInnen, ärztliche und psychologische PsychotherapeutInnen, Coaches, CasemanagerInnen und BeraterInnen.
Aufbau
Das gedruckte Buch umfasst 295 Seiten. Es gliedert sich in 11 Kapitel, ein 27-seitiges (!) Literaturverzeichnis und ein detailliertes 12-seitiges Sachwortverzeichnis. Als Online-Materialien werden Info- und Arbeitsblätter zur Verfügung gestellt, die für eine psychoedukative Gruppentherapie, bestehend aus neun Modulen, genutzt werden können. Die Autorin greift dabei auf bereits vorhandene Konzepte zurück.
Die Kapitel lauten im Einzelnen:
- Konzept des Burnouts
- Symptomatologie des Burnouts
- Epidemiologie des Burnouts
- Ursachen und Risikofaktoren
- Psychiatrische Differenzialdiagnosen
- Medizinische Differenzialdiagnose
- Folgen von Burnout
- Stand der Forschung zur Burnout-Therapie
- Therapie des Burnouts und der Erschöpfungsdepression
- Entspannungsmaßnahmen
- Rehabilitation und Reintegration
Inhalt
1. Konzept des Burnouts
Im ersten Kapitel des Buches werden verschiedene Konzepte des Burnouts einschließlich entwickelter Testinventarien zu seiner Erfassung vorgestellt:
Herbert Freudenberger (1974) beschreibt Burnout als Krise des sozial Engagierten, der seine Kräfte erschöpft durch exzessive Anforderungen an sich, die eigenen Ressourcen, verbunden mit übertriebenem Engagement.
Maslach und Jackson (1976) untersuchten Menschen in sozialen Berufen hinsichtlich ihrer Belastungen und Bewältigungsstrategien. Sie definieren Burnout als „überdauerndes Reaktionsmuster in Folge von langwährenden zwischenmenschlichen Belastungen am Arbeitsplatz“ (S. 18). Sie beschreiben emotionale Erschöpfung, Distanzierung und Zynismus sowie subjektiv empfundene Leistungseinbußen als Folge. Maslach und KollegInnen entwickelten verschiedene Testverfahren (Maslach-Burnout Inventory (MBI), zunächst für die interaktionsintensiven Gesundheitsberufe und für Lehrpersonen, bis sie andere Berufsgruppen als leicht abgeänderte General Survey mit einbezogen. In letzterer wird Burnout als Ausdruck von Belastungsfaktoren und Stress am Arbeitsplatz verstanden und Verbindungen zu arbeitspsychologischen Konzepten genutzt.
Pines und Aronson (1988) unterscheiden zwischen einem Burnout-Stress Syndrom als milde Form und einem Burnout mit psychischen Störungen als klinisch relevantes Syndrom. Sie sehen das Risiko eines Burnouts im menschlichen Grundbedürfnis nach Lebenssinn. Dieses wird häufig durch die Arbeit erfüllt. Ein Burnout entsteht dann, wenn das Bemühen, durch die Arbeit einen Lebenssinn zu finden, scheitert. Im Zentrum des Konzepts steht die Interaktion zwischen Individuum und Arbeitsumgebung.
Cherniss (1980) beschreibt den Praxisschock von Berufsanfängern im sozialen Bereich. Hohe Ziele und Erwartungen, gepaart mit einer inadäquaten Bewältigung des Berufseinstiegs, identifizieren sie als Faktoren, die ein Burnout bedingen können.
Hobfoll und Shirom (1989) definieren Burnout als Verlust von Ressourcen. Gemäß ihrer Conversation-of-Resources-Theorie entsteht Burnout aufgrund „eines kontinuierlichen Verbrauchs der intrinsischen Energien und Bewältigungsressourcen … infolge chronischer Stressbelastungen am Arbeitsplatz“ (S. 23). Körperliche Energie, mentale Energie, aber auch emotionale Energie gehen verloren.
Für Borritz et al. (2005) – eine dänische Forschungsgruppe – ist die Erschöpfung das zentrale Element des Burnouts, Depersonalisierung ein Bewältigungsversuch, die reduzierte Leistungseinschätzung eine Folge der Erschöpfung. Sie unterscheiden drei Typen von Burnout: persönliches, klientenbezogenes, arbeits- aber nicht klientenbezogenes Burnout.
Im ersten Kapitel diskutiert die Autorin nun Burnout aus Sicht der medizinischen Diagnostik, sie stellt die Exhaustion Disorder – postuliert durch eine schwedische Forschungsgruppe – vor. Letztere hat als Anpassungsstörung Eingang in die schwedische Fassung der ICD-10 gefunden (ICD-10 SE, F.43.8). In der aktuellen Fassung der ICD 11 wird das Burnout weiterhin nicht als Krankheit an sich, sondern als qualifizierende Diagnose, die eine andere Störung näher charakterisiert, bezeichnet.
Burnout ist aus Sicht der Autorin „eine Stressbelastungsstörung, […] die bei langer Stressexposition in den meisten Fällen zu einer Erschöpfungsdepression führt“ (S. 30). Es ist gekennzeichnet durch „ausgeprägte körperliche, psychische und kognitive Erschöpfung, reduzierte Belastbarkeit, verminderte Erholungsfähigkeit und multiple vegetative Symptome“ (S. 30). Dabei finden sich anfänglich die bekannten physiologischen und psychischen Symptome von Stress, bei zunehmender Belastung die Symptome einer gestörten Stressachse, bei anhaltender Belastung eine psychische Erkrankung. Letztere meist in Form einer Erschöpfungsdepression, die ab einem gewissen Stadium klinischen Wert hat. Hochstrasser ist der Ansicht, dass die Betonung des Arbeitsbezugs vieler Burnout-Definitionen zu kurz greift. Sie beobachtet, dass die Symptomatik genauso bei Müttern, pflegenden Angehörigen oder sogar bei Schülern auftritt.
Abschließend werden folgende Test-Inventarien zur Erfassung von Burnout erläutert: Maslach Burnout Inventory (MBI), Burnout Measure (MB) Shirom-Melamed Burnout Measure (SMBM), Copenhagen Burnout Inventory (CBI), Hamburger Burnout Inventar (HBI), Oldenburg Burnout Inventory (OLBIE). Die Autorin stellt die untersuchten Dimensionen, Testaufbau, Anwendungsbereiche nebst Validierung vor.
2. Symptomatologie des Burnouts
In diesem – dreiseitigen- Kapitel werden die sich zeigenden Symptome eines Burnouts aufgelistet. Sie lassen sich vier Kategorien zuteilen: psychische Symptome (z.B. Ängste, Nervosität), körperliche Symptome (z.B. Schlafstörungen, Schwindel), kognitive und motivationale Symptome (z.B. Konzentrationsstörungen), Änderungen im Verhalten (z.B. sozialer Rückzug). Jedes Individuum zeigt eine eigene Kombination der Symptome. Sie äußern sich in unterschiedlich schwerer Ausprägung.
Burnout ist auch als Prozess zu verstehen, wozu verschiedene Prozessmodelle entwickelt wurden. Alle Modelle zeigen dieselbe Abfolge von Veränderungen: Anzeichen von erhöhtem Stress, diese treten zunehmend häufiger auf, führen allmählich zu dauerhaften emotionalen, psychosomatischen, kognitiven und verhaltensbezogenen Beeinträchtigungen. Sie setzen sich fort in Erschöpfung, Rückzug, Abschottung, Demotivierung, veränderter Emotionalität bis hin zum Zusammenbruch. Zur Verdeutlichung wird beispielhaft in Stichworten das siebenstufige Prozessmodell von Burisch (2006) vorgestellt.
3. Epidemiologie des Burnouts
Nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Burnout-Skalen und Definitionen ist die Ermittlung der Häufigkeit eines relevanten Burnouts in der Gesamtbevölkerung schwierig. Es werden verschiedene Studien mit ihren Ergebnissen herangezogen, um zu Aussagen zu kommen. Eine schwedische Querschnittstudie von Hallsten findet 2005 eine Häufigkeit von 9,1 % unter den 18-64-jährigen Erwachsenen – mit einem höheren Anteil an Frauen. Untersucht wurden häufiger Ärztliches Personal, MedizinstudentInnen, Lehrpersonen, Soziale Berufe. Auch hier sind die Studienergebnisse unterschiedlich, aufgrund der bereits genannten verwandten Skalen und Definitionen.
4. Ursachen und Risikofaktoren
Das mit 80 Seiten umfangreichste Kapitel widmet sich den Ursachen und Risikofaktoren, die zur Entstehung eines Burnouts herangezogen werden können. Es gliedert sich in die beiden großen Abschnitte Stress als Burnout verursachender Mechanismus und arbeitspsychologische Erklärungsmodelle, ergänzt durch Untersuchungen zur Rolle von sozialer Unterstützung, gefolgt von der Diskussion um individuelle Risikofaktoren.
Zunächst wird Stress als Burnout verursachender Mechanismus genau durchleuchtet. Es werden unterschiedliche Modelle zur Stressentstehung erklärt, beginnend beim allgemeinen Adaptationssyndrom nach Selye (Alarmreaktion – allgemeine biologische Reaktion von Organismen auf verschiedene Belastungen; Resistenzphase – begrenzte Anpassungsfähigkeit bei anhaltender Stressexposition; Erschöpfungsphase), samt der Kampf-Flucht-Reaktion nach Cannon als zentraler Mechanismus.
Es folgt das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkman, das Stress aus psychologischer Sicht erklärt. Gemäß diesem Modell hängen die Wahrnehmung eines Stressors und dessen Bewältigung „von individuellen Vulnerabilitäten und Ressourcen“ (S. 53) ab. Die Stressreaktion wird beeinflusst durch die individuelle Bedeutung plus Bewertung, die Stressoren zugemessen wird (irrelevant, positiv, stressig – primäres Appraisal) gepaart mit den zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien und Ressourcen (sekundäres Appraisal) was letztlich zu einer Stressreaktion oder einer Neubewertung der Situation führt. Persönliche Variablen, die die Einschätzung beeinflussen, die unterschiedlichen Copingstrategien und mögliche Ressourcen werden beschrieben.
Das Zusammenspiel von neuronalen, endokrinen sowie autonomen Mechanismen bestimmt die biologische Stressreaktion. Zum Verständnis von Stress und Stressfolgen ist die Kenntnis der Stressphysiologie wichtig. Sie wird durch die Autorin eingehend dargestellt.
Als „neues Modell der regulativen Prozesse“ wird das Konzept der Allostase nach Sterling und Eyer (1988) erläutert. Im Gegensatz zur Homöostase (konstantes inneres Milieu) beinhaltet die Allostase, „dass das innere Milieu stets variiert, um aktuell vorliegenden und vorhersehbaren Herausforderungen zu begegnen“ (S. 68). Der komplexe Prozess der Allostase ermögliche eine feine Regulation von Anpassungsvorgängen (vgl. S. 71). Auf der Basis der Allostase entstand mit dem Konzept der „Allostatic Load“ nach McEwen (1998) ein neues Konzept, „um die kumulative Belastung darzustellen, der der Körper im Rahmen der allostatischen Adaptationsprozesse ausgesetzt ist“ (S. 72).
Ein weiterer Abschnitt widmet sich der Neurobiologie von chronischem Stress. Zusammenfassend erläutert wird, wie er sich auf die Ausschüttung von Kortisol, die Neuroplastizität mancher Hirnstrukturen – die zu strukturellen Veränderungen führen kann – und auf die Funktion des autonomen Nervensystems auswirkt. Aus diesen Veränderungen lassen sich einige der Stressfolgeerkrankungen erklären.
Wie biologische und psychische Faktoren zu unterschiedlichem Stresserleben beitragen, wird ergänzt durch Informationen zu genetischen Faktoren und epigenetischen Mechanismen. Zu den psychischen Faktoren zählen negative kognitive Konstrukte, mangelnder Selbstwert, fehlende Selbstwirksamkeit sowie dysfunktionale Bewältigungsstrategien (vgl. S. 85).
Arbeit als zentraler Lebensbereich trägt „wesentlich zur Identitätsentwicklung und Lebensgestaltung bei“ (S. 85). Sie hat folglich einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden. Der zweite Abschnitt des Kapitels widmet sich daher den arbeitspsychologischen Verursachungsmodellen. Er geht der Frage nach, „welche psychosozialen Faktoren der Arbeit zu Stress, psychischer Belastung, gesundheitsschädlichen Einwirkungen und psychischen Störungen wie Burnout und Depression führen“ (S. 86).
Herangezogen werden unterschiedliche allgemeine sozialpsychologische und arbeitspsychologische Modelle:
Selbstbestimmungstheorie nach Ryan und Deci: Um gesund und motiviert zu bleiben, müssen die drei Grundbedürfnisse Autonomie, Zugehörigkeit und Kompetenz befriedigt werden.
Equity-Theorie nach Walster et al: Ergebnisse einer sozialen Interaktion und eigener Aufwand müssen in einem gerechten Verhältnis zu Aufwendungen und Ergebnissen des Interaktionspartners stehen (Tauschgerechtigkeit).
Emotionsarbeit nach Hochschild: Regulation und Steuerung sowie Ausdruck von erwünschten Emotionen am Arbeitsplatz. Besonders bei emotionaler Dissonanz und organisationalen Problemen zeigt sie negative Konsequenzen.
„Six Areas of Worklife“ nach Maslach und Leiter: Erhöhtes Burnout-Risiko bei chronisch fehlender Übereinstimmung in den Bereichen Arbeitslast, Kontrolle, Wertschätzung, Gemeinschaft, Fairness, Werte.
Modell der inadäquaten Bewältigungsstrategien nach Cherniss: (s.o., Kapitel 1).
Job-Strain-Modell nach Karasek et al.: Stressbelastung entsteht durch eine Interaktion zwischen Arbeitsbelastung (Job-Demand) und Kontrolle (Decision latitude). Unter Decision latitude werden eigene Autorität, Entscheidungsfreiheiten, Einsatzmöglichkeiten eigener Fähigkeiten verstanden.
Job-Demands-Resources-Modell von Bakker und Demerouti als Weiterentwicklung des Job-Strain-Modells: Job Demands sind die physikalischen, sozialen und organisationalen Aspekte der Arbeit. Sie sind nicht zwangsläufig negativ, können sich aber zu Stressoren entwickeln. Job Resources sind die physischen, sozialen und organisationalen Aspekte, die die Job-Demands und ihre „Kosten“ reduzieren, der Zielerreichung dienen und das „persönliche Wachstum, Lernen und Entwicklung“ (S. 102) fördern. Als Beispiele werden Autonomie, soziale Unterstützung, Feedback, Chancen Neues zu lernen genannt.
Das Job-Demands-Resources-Modell hat, gemäß Hochstrasser, hunderte von Studien inspiriert. Es hat sich von einem Modell zu einer Theorie entwickelt. Die Autoren haben hierzu acht Thesen postuliert, die in Kürze erläutert werden.
Conversation of Resources Theorie nach Hobfoll: Menschen erwerben, erhalten oder schützen, was ihnen wichtig ist (= Ressourcen). Psychischer Stress entsteht, wenn ein Verlust von Ressourcen droht.
Berufliche Gratifikationskrise nach Siegrist: Arbeit ist verknüpft mit Selbstwert und Selbsteffizienz. Arbeit ist ein Tauschprozess zwischen Leistung der Arbeitnehmenden und Gegenleistung der Arbeitgebenden. Eine Gratifikationskrise entsteht, wenn die Tauschgerechtigkeit verletzt wird.
Stress as Offence to Self nach Semmer et al.: Stress entsteht, wenn die Erfüllung wichtiger Bedürfnisse oder Ziele behindert oder gefährdet wird.
Eine zentrale Ressource für die Bewältigung des Alltags stellt soziale Unterstützung dar. Sie ist „relevanter Faktor für die körperliche und psychische Gesundheit“ (S. 118). Die protektiven Effekte werden im nun folgenden Abschnitt diskutiert.
Abschließend wirft die Autorin noch einen genaueren Blick auf die individuellen Risikofaktoren, die zur Entwicklung einer Stressbelastungsstörung führen können.
Auf einfache Weise zusammengefasst durch Kaschka, Korzak und Broich zählen dazu hohe idealistische Erwartungen, starkes Bedürfnis nach Anerkennung, eigene Bedürfnisse unterdrücken, das Gefühl unersetzbar zu sein, Selbstüberforderung, Arbeit als Ersatz für soziales Leben (vgl. S. 121).
Diskutiert werden weiterhin die „Big Five“ – Persönlichkeitsmerkmale in den Dimensionen Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit (nach Borkenau und Ostenford); Burnout als Folge einer narzisstischen Selbstregulation (grandiose Narzissten/vulnerable Narzissten), untersucht von Cain, Pincus und Ansell sowie Burnout als Muster arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens nach Schaarschmidt. Letzterer erfasst Burnout im Kontext „komplexer, individueller arbeitsbezogener Bewältigungsmuster“ (S. 128). Anhand von Merkmalen nebst Clusteranalysen lassen sich vier Muster erkennen: gesundes und gesundheitsförderliches Verhältnis, Schonung, überhöhtes Engagement, Resignation.
Zusammenfassend schließt Hochstrasser, „scheint die Verursachung von Burnout aus einer komplexen Interaktion individueller biologischer und psychologischer Faktoren und arbeitsbezogenen Gegebenheiten zu bestehen, wobei soziale Unterstützung auf unterschiedlichen Ebenen modifizierend wirkt“ (S. 130).
5. Psychiatrische Differenzialdiagnosen
Erschöpfung als Hauptmerkmal betrifft auch andere Störungen. In Kapitel fünf erfolgt daher eine Beschreibung der wesentlichen Störungen, um diese differenzialdiagnostisch zum Burnout zu erfassen. Die Autorin stellt verschiedene Studien vor. Sie zeigt Zusammenhänge, Überlappungen inklusive Abgrenzungen auf. Sie untersucht die Krankheitsbilder von Depression, Angststörungen, Anpassungsstörung, Zwangsstörung, PTBS, Psychische Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen, ADS/ADHS Erwachsener, Persönlichkeitsakzentuierung/Persönlichkeitsstörung, Chronic Fatigue Syndrome, Long-/Post-Covid, Neurasthenie.
6. Medizinische Differenzialdiagnose
Auch bei vielen somatischen Erkrankungen ist Erschöpfung ein bedeutendes Symptom. Die Autorin gibt auf einer Seite einen kurzen Überblick über die wichtigsten somatischen Krankheitskategorien, die ärztlich gründlich abgeklärt, überdies entsprechend behandelt werden müssen, z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen, neurologische Erkrankungen, onkologische Erkrankungen.
7. Folgen von Burnout
Im siebten Kapitel werden die Auswirkungen auf die Gesundheit und die arbeitsbezogenen Auswirkungen dargestellt.
Zu den verbreitetsten psychischen Störungen als Folge eines Burnouts zählt die Depression. Häufigste Depressionsform ist die Depression Major. Die Übergänge sind fließend. Es „kann geschlossen werden, dass eine komplexe Beziehung zwischen Burnout und Depression besteht, die sich als zirkuläre kausale Beziehung bezeichnen lässt“ (S. 165, mit Verweis auf Bianchi et al, 2015).
Für das Entwickeln mentaler wie körperlicher Störungen ist Burnout ein Risikofaktor. Hierzu zählen kardiovaskuläre Störungen, muskuloskelettale Schmerzen, Diabetes Typ 2, Veränderungen des Schmerzempfindens, gastrointestinale Beschwerden, lang andauernde Erschöpfung, schwere Verletzungen sowie eine Mortalität unter dem 45. Lebensjahr.
An arbeitsbezogenen Folgen zeigen sich eine erhöhte Arbeitsunzufriedenheit (hier besteht ein bidirektionaler Einfluss), viele Ausfälle durch Krankheiten oder Neuberentungen. Eine Zunahme von Burnout wird besonders bei hohen Job-Demands über sechs Monate bei fehlenden Job-Ressourcen verzeichnet. Hervorzuheben ist das Phänomen des Präsentismus, das in einen Teufelskreis münden kann. Die Betroffenen gehen trotz Krankheit zur Arbeit, müssen dort zusätzliche Kräfte mobilisieren, was ihre Erschöpfung weiter verstärkt.
8. Stand der Forschung zur Burnout-Therapie
Folgende Interventionen lassen sich unterscheiden: Mit Schwerpunkt auf der betroffenen Person, an der Schnittstelle Individuum/Organisation oder mit dem Hauptfokus auf die Organisation. Zu differenzieren ist ebenfalls nach Maßnahmen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention.
Interventionen mit Fokus auf das Unternehmen sind beispielsweise eine gute Schulung wie Unterstützung der Führungskräfte, Sensibilisierungskampagnen zu den Themen Stress, Burnout, Resilienz verbunden mit einem Bewusstsein der Unternehmensführung, welche Rolle organisatorische und interaktionelle Aspekte hierbei spielen. Die Autorin stellt beispielhaft ein groß angelegtes Projekt aus der Schweiz vor, das in acht Pilotbetrieben durchgeführt wurde (Projekt SWiNG, initiiert von den Organisationen Gesundheitsförderung Schweiz und Schweizerischer Versicherungsverband).
Bei stressbelasteten Personen im Arbeitsprozess – hier werden verschiedene Studien und Untersuchungen skizziert – zeigt sich, dass Interventionen wirksam sind, „wobei kognitiv-behaviorale Methoden sich am effektivsten erwiesen“ (S. 179).
Nachfolgend stellt die Autorin Studienergebnisse zu therapeutischen Maßnahmen bei klinischem Burnout vor. Ihr zufolge gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen hierzu. In ihrer eigenen katamnestischen Untersuchung ließen sich vier Gruppen identifizieren. Sie unterschieden sich hinsichtlich motivationaler, psychologischer und interpersoneller Charakteristika, ferner hinsichtlich ihrer Copingstrategien.
Das Kapitel endet mit einem Kurzüberblick zu Ansätzen der Reintegration in den Arbeitsprozess nach Burnout.
9. Therapie des Burnouts und der Erschöpfungsdepression
Hochstrasser propagiert ein multimodales Therapiekonzept, da die Störung „vielschichtig und durch unterschiedliche Faktoren bedingt ist“ (S. 187). Die Symptome zeigen sich in mehreren Bereichen, nämlich psychisch, körperlich, vegetativ, kognitiv und im Verhalten (vgl. S. 187).
Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren ist eine gute Beziehungsgestaltung. Sie setzt sich zusammen aus Kommunikation auf Augenhöhe, gemeinsamer Entscheidungsfindung, vorurteilsloser Akzeptanz, gepaart mit einer humorvollen, positiven, gelassenen Grundhaltung.
Nachdem die PatientInnen zunächst zu spontanem Erzählen ermutigt werden, woraus sich daraus bereits Anhaltspunkte ergeben, sollen Evaluation und Informationserfassung systematisch erfolgen. Auf den Folgeseiten werden die zu klärenden Sachverhalte/Themen im Sinne eines anamnestischen Leitfadens beschrieben.
Im nächsten Schritt werden die Informationen beurteilt, des Weiteren ein Erklärungsmodell entwickelt – unter Nutzung psychoedukativer Elemente – „über das Wesen von Stress und welche Prozesse zu Schädigungen im Organismus führen“ (S. 195).
Wesentliche Elemente sind gleichfalls Motivationsklärung einschließlich Zieldefinition.
Erste Maßnahmen bestehen aus einer wirkungsvollen Entlastung von allen relevanten Belastungsfaktoren, ggf. Krankschreibung oder gar einer stationären Behandlung. Tagesstrukturierung und Energiemonitoring sind zentrale Elemente des Therapiekonzepts. Die PatientInnen erhalten dazu den Vorschlag einer Tageseinteilung in drei Abschnitte – Vormittag, Nachmittag, Abend. Alle Abschnitte sollen in eine Phase der Aktivität plus eine Phase der Ruhe eingeteilt werden. Dabei können Energie, Stimmung und Anspannung in Abhängigkeit von den Aktivitäten in einem Kurvenblatt festgehalten werden.
Die klinische Depression bedarf unter Umständen der Behandlung mit Antidepressiva, psychoedukativ begleitet. Zu Stress, Burnout und Depression stellt die Autorin eine allgemein verständliche Psychoedukation zur Verfügung.
Weitere Therapieelemente sind Schlafregulation, verbunden mit einer Anleitung zu einer guten Schlafhygiene, Entspannungsmaßnahmen als zentrale Interventionen bei Ängstlichkeit, Nervosität, Anspannung, Psychotherapie als Gruppen- und Einzeltherapie und eine psychoedukative Gruppentherapie.
Hochstrasser verweist auf geeignete Gruppenmodule und bekannte Ausgangskonzepte, die hier genutzt werden können. Sie stellt acht Gruppenmodule vor mit den Themen: Stress und Burnout, Arbeitsplatzanalyse, Achtsamkeit, Zeit- und Stressmanagement, Soziale Kompetenz, Umgang mit Gefühlen, Wert, Körper und Gesundheit, Selbstfürsorge.
Für die Gestaltung der Gruppenmodule ist im Downloadbereich ein 50-seitiges Handbuch mit Arbeitsblättern zugänglich.
10. Entspannungsmaßnahmen
Wie bereits im vorangehenden Kapitel als Intervention bei Nervosität, Ängstlichkeit oder Anspannung erwähnt, erhalten die verschiedenen Techniken, Verfahren und Möglichkeiten von Entspannungsmaßnahmen hier auf etwa 30 Seiten ihren eigenen Platz.
Vorgestellt und mit Anleitungen versehen sind Autogenes Training und Progressive Muskelentspannung. Formen, Wirkung, Aufbau, Nutzen einschließlich Anwendungsmöglichkeiten von Qi Gong oder Yoga werden in ihren Grundsätzen auf mehreren Seiten beschrieben. Ebenso reflektiert werden Achtsamkeit und Meditation mit ihren Kernelementen samt positiven Auswirkungen.
Ausführlich wiedergegeben wird zudem das Biofeedback, dessen Einsatzmöglichkeiten und Effekte.
Informiert wird zusätzlich über komplementärmedizinische Anwendungen wie Shiatsu, Cranio-Sacral-Therapie und Fußreflexzonenmassage. Hierbei lassen sich Entspannungseffekte und ein allgemeines Wohlbefinden beobachten.
Als Maßnahmen der Naturheilkunde wird ein Überblick über Entspannungsbäder, Leberwickel und Aromatherapie gegeben.
Weiter wird die Wirkung körperlicher Aktivität, Fitness und Sport auf die Gesundheit untersucht, ferner Empfehlungen zu geeigneten Aktivitäten vorgeschlagen.
Den Abschluss der Entspannungsmaßnahmen bilden Beispiele erlebnisorientierter Therapien, „die eine besondere Selbsterfahrung vermitteln, aktiv entspannen und die achtsame Wahrnehmung der Umgebung ermöglichen“ (S. 242). Als Anregungen werden Wanderungen, Gartenarbeit, Kreativtherapien, Musiktherapien etc. genannt.
11. Rehabilitation und Reintegration
Das letzte Kapitel führt aus, wie die Rehabilitation (Wiederherstellung der psychischen und physischen Leistungsfähigkeit) und die Reintegration (Wiedereingliederung in ein Arbeitsumfeld) gestaltet werden sollten. Das Prinzip von Tagesstrukturierung und Energiemonitoring (s.o.) bleibt wichtiges Hilfsmittel.
Im Arbeitszusammenhang ist eine „gründliche Auseinandersetzung mit der bisherigen Arbeitsweise und dem Arbeitsumfeld, den eigenen Stärken und Schwächen und dem erwünschten Arbeitsinhalt“ (S. 244) notwendig.
Drei unterschiedliche Szenarien werden mit der jeweils passenden Herangehensweise vorgestellt: einvernehmliches Verhältnis mit Arbeitgeber und stimmiger Aufgabenbereich; ausgeprägte Erschöpfungssymptomatik und lang andauernde Arbeitsunfähigkeit; ausgeprägte interpersonelle Konflikte zwischen PatientInnen und Schlüsselpersonen am Arbeitsplatz.
Diskussion
Die LeserInnen finden auf 295 Seiten gründliche Informationen in großer Tiefe. Angefangen von Konzepten, Studien, Testinventarien bis zu differenzialdiagnostischen Klärungen, Ursachen und Risikofaktoren, dem Stand der Forschung und wie eine multimodale und interdisziplinäre Behandlung ausgerichtet sein muss. Mit dem Literaturverzeichnis für weitere Vertiefung, den vorgestellten Studien und Testinventarien leistet es sehr gute Dienste als wissenschaftliches Referenzwerk. Es orientiert sich in all seinen Aussagen an wissenschaftlicher Evidenz. Wo sie fehlt (bspw. bei den komplementärmedizinischen Therapien), wird darauf hingewiesen.
Teilweise ist das Werk – insbesondere für Nicht-MedizinerInnen oder „Statistik-Fremde“ etwas schwer verdaulich. Es enthält viele Zahlen, Daten und eine Fülle von Details, in denen man sich mitunter verlieren kann. Die benötigten Informationen müssen dann sehr herausgefiltert werden. Eine kurze Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen an den Kapitelenden wäre hier als Ergänzung hilfreich.
Fazit
Ein hervorragendes interdisziplinäres Lehrbuch für alle, die in Behandlung und Therapie des Burnouts tätig sind oder sich umfassend informieren wollen. Die umfangreichen Angaben zu weiterer Fachliteratur, Studien und Testinventarien machen es darüber hinaus zu einem wissenschaftlichen Referenzwerk.
Rezension von
Gertrude Henn
Diplom-Sozialpädagogin, Entspannungs- & Stressmanagement-Trainerin
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Es gibt 11 Rezensionen von Gertrude Henn.
Zitiervorschlag
Gertrude Henn. Rezension vom 19.04.2024 zu:
Barbara Hochstrasser: Burnout und Erschöpfungsdepression. Konzepte, Verursachungsmodelle, Therapieansätze. Hogrefe AG
(Bern) 2023.
ISBN 978-3-456-85693-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31241.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.
Urheberrecht
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