Claire Alet, Benjamin Adam: Kapital und Ideologie
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 06.10.2023
Claire Alet, Benjamin Adam: Kapital und Ideologie. Die Graphic Novel nach dem Buch von Thomas Piketty. Verlagshaus Jacoby & Stuart GmbH (Berlin) 2023. 176 Seiten. ISBN 978-3-96428-174-6. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Er hängt von Menschen und ihren Entscheidungen ab und wird durch diese perpetuiert. Das Ergebnis sind Gesellschaften mit ungleicher und ungerechter Verteilung des Reichtums. Sklavenhaltung und Kolonialismus spielen für das Entstehen der sozialen wie ökonomischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten eine entscheidende Rolle. Deshalb verwundert es kaum, „dass in ganz unterschiedlichen Gesellschaften…die Eliten es darauf anlegen, Ungleichheiten zu naturalisieren…“ (Piketty 2020, S. 22). Wenn diese Ideologie als solche entlarvt und die ökonomischen und politischen Ursachen des Kapitalismus verstanden werden, dann können die notwendigen Schritte für eine gerechtere und zukunftsfähigere Welt gegangen werden. Das ist das übergreifende Thema im Originalwerk und auch in der Graphic Novel.
Autoren
Claire Alet ist Journalistin und Autorin von Dokumentarfilmen über wirtschaftliche Themen. Benjamin Adam ist Autor und Zeichner von Comics.
Entstehungshintergrund
Das Originalwerk von Piketty „Kapital und Ideologie“ ist mit seinen rund 1.300 Seiten Text eine echte Leseherausforderung. Dankenswerter Weise haben Claire Alet und Benjamin Adam sich der großen Herausforderung gestellt, Piketty's theoretisches Werk mittels einer acht-Generationen-übergreifenden französischen Familiengeschichte in der Form einer Graphic Novel umzusetzen. An der Familiensaga kann man ablesen, wie die jeweiligen politischen und ökonomischen Verhältnisse sich auf den Reichtum der Familie auswirken. Eine Graphic Novel ist ein Comic Buch mit einem klaren Erzählstrang. Die 172 Seiten der Graphic Novel folgen der Struktur des Originalwerks.
Aufbau und Inhalt
Piketty's Original hat 17 Kapitel, in denen eine Analyse sozialer und ökonomischer Ungleichheit von den Feudalgesellschaften über die Kolonialgesellschaften bis hin zum Hyperkapitalismus der Moderne vorgelegt wird. Das letzte Kapitel befasst sich mit den Elementen eines partizipativen Sozialismus für das 21. Jahrhundert.
Alet und Adam beginnen ihre Darstellung im Jahr 1901 mit Jules Guérain, der ein konsequenter Gegner der progressiven Steuer ist, wie sie der damalige französische Finanzminister Joseph Caillaux einführen will. Jules ist einer der 10 % Franzosen, die 80 %-90 % allen Eigentums besitzen. Die Ur-Urgroßväter von Jules gehören zum Adel und zum Klerus, verfügen somit über eine Reihe von Privilegien, die letztlich den Reichtum von Jules begründen. Germaine, die Urgroßmutter von Jules, profitiert von der Abschaffung der Sklaverei 1834 auf Santo Domingo und erbt Schuldtitel für den früheren Landesbesitz ihres Vaters. Das ermöglicht ihr die Investition in den Bau einer Villa in Arcachon, damals wie heute ein sehr beliebtes Seebad an der französischen Atlantikküste. Der Vorteil des Einen ist der Nachteil des Anderen. Haiti, der Nachfolgestaat von Santo Domingo, braucht bis zum Jahr 1950, um alle Schuldtitel zu tilgen und ist heute eines der ärmsten Länder der Welt.
Das Verbot des Imports von bedruckten Tüchern aus China und Indien sichert den Aufstieg der britischen Textilproduktion. Der Anteil von Indien und China an der weltweiten Manufakturproduktion schrumpft von 53 % im Jahr 1800 auf 5 % im Jahr 1900. Charlotte, die Mutter von Jules, genießt die Früchte des Kolonialismus und ist unfähig zu sehen, „dass der Kolonialismus einzig den Kolonialherren Vorteile bringt“ (S. 49). Der Mechanismus der Akkumulation von Eigentum und Reichtum wird plastisch an dem Leben von Urgroßeltern, Großeltern und Eltern von Jules gezeigt.
Im 19. Jahrhundert glaubte man dank Adam Smith (Der Reichtum der Nationen), dass sich Angebot und Nachfrage durch die Kräfte des Marktes vollkommen ausgleichen. Und jetzt kommt John Maynard Keynes ins Spiel: Öffentliche Mehrausgaben senken die Arbeitslosigkeit und kurbeln den Konsum an. Der US-Präsident Roosevelt setzt diese Theorie als New Deal um.
Nach dem 2. Weltkrieg wird durch das Experiment von progressiver Besteuerung in großem Maßstab plus Investitionen in Bildung und den Sozialstaat das sogenannte „Wirtschaftswunder“ eingeläutet. Gab es vor 1980 eine klare Einteilung in „Linke“ (Arbeiter und niedriger Bildungsabschluss) und „Rechte“ (Eigentümer und leitende Angestellte) erfolgte nach 1980 die Rückkehr der gesellschaftlichen Spaltung, diesmal nach Bildungsschichten. Es entstanden die „Kultur-Linken“, für die Schulerfolg und Spaß an geistiger Arbeit zählt, und die „Business-Rechten“, die auf Berufserfahrung und Geschäftssinn setzen. Eine Welle von wirtschaftlichen und finanziellen Liberalisierungsmaßnahmen, das heißt freier Verkehr von Kapital, Gütern und Dienstleistungen, der Ordoliberalismus, ergoss sich über die Welt. „Die öffentliche Gewalt greift immer weniger ein, komplette Wirtschaftssektoren werden privatisiert und allgemein ist man davon überzeugt, dass nichts effizienter ist als der Markt und die privaten Akteure“ (S. 110).
Auch wenn der Reichtum der Familie Guérin im Jahr 2010 durch eine Folge von Erbschaften in den Generationen davor stark abgenommen hat, erhält die Ur-Enkelin von Jules, Lea, ein Stipendium in Yale/USA. Die Ideologie der Meritokratie folgt auf die des Eigentums. Niemand ist zufällig in seiner sozialen Stellung und nur die Kinder aus den herrschenden Schichten kennen die Codes, um sich Anerkennung zu verschaffen. Mittels Leas Lebenslauf werden die „Nicht-Rettung“ Griechenlands, die Pleite der Lehmann Brothers, die Veröffentlichung der Panama Papers, der Brexit, die Zunahme identitärer Positionen (Viktor Orban, Narendra Modi, Jaroslav Kaczynski, Donald Trump, Jair Bolsonaro) abgehandelt. Leas Familie hat von Systemen abgrundtiefer Ungleichheit profitiert. Die Autoren stellen am Ende des Comics die Frage: wofür werden sich Leas nachfolgende Generationen nicht schämen, um dann Piketty's Vorschläge für eine gerechtere Gesellschaft zu präsentieren. Das sind 1. gesellschaftliches Kapitaleigentum, 2. temporäres Kapitaleigentum, 3. ein soziales und föderales Europa, 4. Gutscheine für demokratische Gleichberechtigung, 5. eine progressive und individuelle CO2 Steuer und 6. ein persönliches Ausbildungs- und Berufsbildungskapital.
Diskussion
Die Graphic Novel ist eine großartige Umsetzung von Piketty's Original. Die Idee, die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung in der Welt anhand der Generationenabfolge in einer reichen französischen Familie bildlich und textlich darzustellen, ist hervorragend gelungen. Mit dieser Publikationsform dürfte man Lesergruppen erreichen und erschließen, die von dem Umfang des Originals abgeschreckt werden. Die Botschaften Piketty's, warum die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Welt so abgelaufen ist, wie sie es ist, und was man tun muss, damit es besser wird, kommen in beiden Veröffentlichungen gleichermaßen herüber. Durch die Bebilderung und die Story ist die Graphic Novel jedoch weitaus besser konsumierbar. Man kann das Buch während einer fünf-stündigen Bahnfahrt in einem Zug lesen.
Fazit
Diese hervorragend gezeichnete Publikation fesselt und ist uneingeschränkt zu empfehlen. Sie erschließt Lesern und Leserinnen jedweder Couleur Einsichten über den Zusammenhang von Kapital und Ideologie. Die Form der Graphic Novel ist auch bestens für Studierende und den Lehrunterricht geeignet.
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 17 Rezensionen von Dieter Korczak.
Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 06.10.2023 zu:
Claire Alet, Benjamin Adam: Kapital und Ideologie. Die Graphic Novel nach dem Buch von Thomas Piketty. Verlagshaus Jacoby & Stuart GmbH
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-96428-174-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31247.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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