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Peter Vermeulen: Autismus und das prädiktive Gehirn

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 11.06.2024

Cover Peter Vermeulen: Autismus und das prädiktive Gehirn ISBN 978-3-7841-3638-7

Peter Vermeulen: Autismus und das prädiktive Gehirn. Absolutes Denken in einer relativen Welt. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. 200 Seiten. ISBN 978-3-7841-3638-7. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.

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Thema

Um in einer unsicheren, komplexen und mehrdeutigen modernen Gesellschaft zurechtzukommen, braucht es ein Gehirn, das in der Lage ist, schnell und unbewusst Dinge vorherzusagen und dazu noch den jeweiligen Kontext angemessen zu berücksichtigen. Das vorgelegte Buch legt moderne Forschungsergebnisse zum prädiktiven Gehirn in Zusammenhang mit Autismus vor. Zielgruppe sind Fachleute, die mit Menschen im Autismus-Spektrum arbeiten, sowie Betroffene und deren Familienangehörige.

Autor

Peter Vermeulen ist ein international renommiert als Dozent/​Ausbildner im Bereich Autismus. Er hat mehrere Bücher geschrieben. 2019 bekam er für seine mehr als 30-jährige Arbeit im Bereich Autismus in Belgien den „Passwerk Lifetime Achievement Award“.

Aufbau

Das Buch ist im DIN A 5 Softcover erschienen und hat einen Umfang von 221 Seiten, die sich neben Vorwort und Einleitung in sechs Kapitel gliedern. Die Kapitel sind nicht durchnummeriert. Die Seiten sind eng beschrieben. Es gibt keine Zwischenüberschriften zur Orientierung, welche Inhalte gerade besprochen werden. Rote Punkte im Fließtext wirken strukturierend, sie heben zentrale Aussagen hervor. Fallvignetten sind eingeflochten, diese heben sich leider nicht vom Fließtext ab. Positiv ist, dass Fachwörter direkt übersetzt werden. Farbige Abbildungen und Textboxen ergänzen die Aussagen. Jedes Kapitel endet mit „das Wichtigste im Überblick“ und „wussten Sie schon?“. Es stehen zudem online Materialien zur Verfügung.

Inhalt

Schon im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass die Theorie des „prädiktiven Gehirns“ schwer zu verstehen ist. Das Anliegen von Vermeulen ist, diese Theorie verständlich zu erklären.

Das erste Kapitel erläutert grundsätzlich das prädiktive, „vorhersagendeGehirn im Allgemeinen. Die folgenden Kapitelüberschriften beginnen immer mit das prädiktive, „vorhersagende“ Gehirn. Erläutert werden dann verschiedene Aspekte wie

  1. Autismus,
  2. sensorische Verarbeitung bei Autismus,
  3. die soziale Navigation und
  4. Kommunikation.

Im Allgemeinen glaubt man, dass das Gehirn passiv Informationen aufnimmt und auf Ereignisse in der Umwelt reagiert, das ist nach Peter Vermeulen unrichtig, denn in Wirklichkeit sagt das Gehirn voraus, was passiert. Diese wissenschaftliche Erkenntnis ist Grundlage des Buches. Sie ist nicht grundsätzlich neu, das Neue daran ist, das Wissen auf das Erscheinungsbild Autismus anzuwenden.

Seine These: Was über die Sinne ins Gehirn kommt ist unzuverlässig. Das Gehirn muss die Kontrolle übernehmen und den Erlebnissen zuvorkommen statt sie zu erwarten. Vermeulen stützt sich auf Kahnemann/​Tversky, die einen Nobelpreis für ihre Erkenntnisse bekommen haben, dass das Gehirn nicht permanent so logisch und rational denkt, wie angenommen. Menschen machen mehr Fehler, wenn sie logisch nachdenken, zudem braucht dieser Vorgang viel Zeit.

Vermeulen führt aus, dass es von Nachteil ist, zeitaufwändig alles zu durchdenken, denn manchmal wird das Überleben dadurch gesichert, dass Entscheidungen schnell gefällt werden. Durch unterschiedliche Beispiele z.B. aus dem Tennis (S. 26) erklärt er, dass unser Gehirn nicht nur aktiv ist, sondern pro-aktiv, denn die Flugbahn eines schnell geschlagenen Balls (der bis zu 250 Stundenkilometer schnell sein kann) wird nicht mühselig errechnet, um dann zu reagieren, sondern seine Flugbahn wird pro-aktiv unbewusst vorausgesagt. Seine zentrale Aussage ist, dass das Gehirn weniger auf die Informationen durch die Sinne angewiesen ist als allgemein angenommen. Neben der Wahrnehmung steht das Konzept des prädiktiven Gehirns auch für eine Theorie über die Art und Weise wie ein Mensch lernt. Es ist auch bekannt, dass das Gehirn sich ständig verändert. Das Gehirn ist kontextsensitiv, weil es sich immer wieder an den Kontext anpasst. Vermeulen folgt dem Autor Hohwy, der sagt, dass Kontextsensitivität und die Minimierung von Vorhersagefehlern dasselbe sei.

Im Kapitel zur sozialen Navigation führt Vermeulen aus, dass Menschen aus dem autistischen Spektrum bewusste logische Zusammenhänge genauso schnell erkennen wie Menschen ohne Autismus. Die Schwierigkeit liegt darin, dass der Kontext eine entscheidende Rolle spielt. Die Forschungsergebnisse in der Emotionsforschung wurde lange durch die Aussagen von Paul Ekman überschattet, der davon ausging, das Gesichtsausdrücke für sieben grundlegende Emotionen universell sind und das auf der ganze Welt. Was Ekman nicht beachtet hat, welche Rolle der jeweilige Kontext hat. Vermeulen fordert deshalb, dass diese derzeitige Denkweise dringend über Bord geworfen werden muss. Was unter Emotionserkennen verstanden wird ist nach Erkenntnis des Autors kein Erkennen, sondern eine emotionale Vorhersage. Dabei wirkt der Kontext auf der basalen und vorbewussten Ebene der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung.

Nach Vermeulen muss diese Erkenntnis Auswirkungen auf Trainings zur Emotionserkennung haben, denn allein das Auswendiglernen von Gesichtern führt nicht zur adäquaten Einschätzung der Situation. Trainings brauchen Erklärungen zu verschiedenen sozialen Situationen, dieser Erkenntnis folgt auch Carol Gray. Auf dieser Erkenntnisgrundlage entwickelte sie ihre Methoden, die sog. Social Stories, in denen Kontexte erläutert werden. Wichtig ist auch das Wissen darüber, dass soziale Kontexte nicht immer absolut sind. Wir leben in einer sozialen Welt als offenes System, in dem es keine festen absoluten Regeln gibt. Daraus ergibt sich, das neben der wahrscheinlichen Reaktion (Kind freut sich über Geschenk) auch Varianten zu lernen im Sinne von üben und wiederholen sind, dafür muss genügend Zeit zur Verfügung stehen.

Das Kapitel zur Kommunikation untersucht die Schwierigkeiten von Menschen aus dem Autismus Spektrum. Das Problem ist nicht, dass sie langsamer sind, sondern dass sie sich (unbewusst) unsicher sind und deshalb alles genau prüfen wollen, was Zeit braucht. Auch braucht es Geduld und keine Aufregung. Was in der Kommunikation eine zusätzliche Schwierigkeit ist, dass es Wörter mit mehreren Bedeutungen gibt.

Das Kapitel mit der Überschrift „das prädiktive Gehirn und Autismus, was nun?“ bildet eine Zusammenfassung und Ausblick. Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben sind mit einer VUCA – Welt konfrontiert, damit meint Vermeulen das die Welt volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig ist, was mit einem hohem Maß an Ungewissheit und Verunsicherung einher geht, mit der Folge, dass permanent Unsicherheitsstress vorhanden ist.

Vermeulen widerspricht allerdings Aussagen, die behaupten, dass das Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit von autistischen Menschen höher ist als bei anderen. Nach seiner Meinung sind die Bedürfnisse nach Sicherheit menschlich ist (bei der Maslov'schen Bedürfnispyramide steht Sicherheit an zweiter Stelle), der Unterschied ist, dass Menschen aus dem Autismus Spektrum in einer für sie hochgradig unsicheren Welt leben. „Die Gehirne von Menschen mit Autismus schaffen es nicht, die Welt ausreichend vorhersehbar zu machen und sie sind daher auch nicht in der Lage, die Zahl ihrer Vorhersagefehler zu reduzieren (S. 193)“.

Der Autor wünscht sich mehr Autismusfreundlichkeit. Autismusfreundlichkeit besteht zu 90 % aus Sicherheit und Vorhersehbarkeit und zu 10 % aus Freundlichkeit, damit wird die Lebensqualität von Menschen mit Autismus erhöht. Mehr Vorhersehbarkeit bedeutet weniger Stress, weniger Stress bedeutet mehr Widerstandskraft und damit Weiterentwicklung und Entfaltung.

Diskussion

Schon 1965 schrieb Eric Schopler, der in den USA gemeinsam mit Robert Reichler TEACCH entwickelte, dass die Ursache für Autismus im Gehirn zu suchen ist, diese Erkenntnis wurde in der Fachszene leider viel zu lange nicht weiter beachtet (S. 128).

Dieser Hinweis belegt: TEACCH ist so aktuell wie eh und je und findet leider immer noch viel zu wenig Beachtung. Das Arbeiten mit gezielt eingesetzter Strukturierung und Visualisierung erleichtert das Leben von uns allen sehr, aber besonders die Lebensbedingungen von Menschen aus dem Autismus Spektrum. In meinen Kursen und Beratungen werde ich immer noch mit dem Vorurteil konfrontiert, TEACCH sei nur etwas für Menschen, die neben dem Autismus auch noch in der Intelligenz gemindert seien. Solche Aussagen zeigen, dass nicht verstanden wurde, was der Kern ist. Vorhersehbarkeit, Sicherheit und Reduzierung von Stresserleben. Die Folge ist, dass auf erprobte Methoden zur Strukturierung und Visualisierung verzichtet wird, sehr zum Nachteil der Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben. Die Folge ist Unsicherheitsstress, der nicht förderlich ist. Stress macht krank und ist Ursache für viele weitere Erkrankungen.

Vermeulen hat erkannt, dass das Wissen zum prädiktiven, „vorhersagenden“ Gehirn und dessen Bezug zu Autismus von enormer Bedeutung ist. Nach seiner Meinung berücksichtigen viele Maßnahmen in der Arbeit mit Menschen aus dem autistischen Spektrum dieses Wissen noch nicht. Er fordert: Es ist dringend geboten, diese zu aktualisieren, es werden entsprechende Möglichkeiten aufgezeigt.

Alle Bücher von Vermeulen erweitern auf besondere Weise den Erkenntnishorizont zum Autismus Spektrum. Seine Gedankengänge und Schlussfolgerungen zu verstehen ist anspruchsvoll. Das ist auch wieder in dem hier vorgelegten Buch der Fall. Wenn es dann gelingt und ausreichend Zeit vorhanden ist, diese zu durchdringen, ist der Erkenntnisgewinn hoch und verändert das Verstehen zum Erscheinungsbild Autismus.

Das Buch aus dem Jahr 2011 mit dem Titel „Das ist der Titel: über autistisches Denken“ ist vergriffen, zum Buch „Autismus als Kontextblindheit“ (2016) liegt eine Rezension bei socialnet.de vor www.socialnet.de/rezensionen/​20286.php

Fazit

Absolutes Denken in einer relativen Welt, das ist in diesem Buch die Definition von Autismus. Autismusfreundlichkeit besteht zu 90 % aus Sicherheit und Vorhersehbarkeit und zu 10 % aus Freundlichkeit, das zusammen erhöht die Lebensqualität von Menschen mit Autismus. Mehr Vorhersehbarkeit bedeutet weniger Stress, weniger Stress bedeutet mehr Widerstandskraft und damit Weiterentwicklung und Entfaltung. Vermeulen stellt viele Aussagen über Autismus auf den Prüfstand. Das Buch ist lesenswert aber die Inhalte sind komplex, das steht im Widerspruch zur Ankündigung im Klappentext, dass moderne Erkenntnisse leicht verständlich zusammengefasst seien.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Es gibt 313 Rezensionen von Petra Steinborn.

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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 11.06.2024 zu: Peter Vermeulen: Autismus und das prädiktive Gehirn. Absolutes Denken in einer relativen Welt. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. ISBN 978-3-7841-3638-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31249.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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