Reva Yunus: ‘Labour Class’ Children’s Schooling in Urban India
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 30.10.2023
Reva Yunus: ‘Labour Class’ Children’s Schooling in Urban India. Routledge (New York) 2023. 170 Seiten. ISBN 978-0-367-64749-0.
Thema
Wenn der Blick auf Kinder fällt, die arbeiten, ist im Deutschen meist von Kinderarbeit, im Englischen von Child Labour die Rede, z.B. in den Massenmedien, im Internet, in Verlautbarungen von Regierungen oder in Spendenaufrufen von Kinderhilfsorganisationen. Das Wort Kinderarbeit (oder Child Labour) löst reflexartig Empörung aus, dass hier etwas Ungeheuerliches und Verabscheuungswürdiges passiert, das in der modernen Welt nicht mehr vorzukommen hat und schleunigst abzuschaffen ist. Es geht dann in der Regel unter, dass die Arbeit von Kindern unter sehr verschiedenen Bedingungen stattfindet, die von sklavenähnlichen und erzwungenen bis zu selbstbestimmten Formen von Arbeit reichen kann. Auch die Kinder selbst kommen dann als Subjekte mit eigenen Erfahrungen, Sichtweisen und Wünschen kaum noch vor, es sei denn als bedauernswerte Opfer einer kinderfeindlichen Welt, als „Kinder ohne Kindheit“. Um diesem unhaltbaren Zustand ein Ende zu bereiten, wird meist die Schule bzw. die Schulpflicht als eine Art Zaubermittel ins Feld geführt („Schule ist der beste Arbeitsplatz“). Es heißt dann, wenn alle Kinder eine Schule besuchen können, wird die Kinderarbeit verschwunden sein. Sind Kinder erst einmal in der Schule, dann arbeiten sie nicht mehr. Im Englischen wird dies als „school/​labour binary“, also gegenseitig sich ausschließendes Faktum bezeichnet. Das hier zu rezensierende Buch geht dieser These am Beispiel einer städtischen Schule in Indien nach, die von Kindern besucht wird, deren Familien in großer Armut leben.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist aus einer Feldforschung hervorgegangen, die Reva Yunus, eine junge indische Sozialwissenschaftlerin, im Rahmen ihrer Doktorarbeit in den Jahren 2014–2015 in der zentralindischen Stadt Indore durchführte. Sie beobachtete acht Monate lang eine Schulklasse und führte Interviews mit allen Kindern dieser Klasse und ihren Eltern durch. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Schulbesuch und Arbeit sich gegenseitig ausschließen, stellte sie fest, dass alle Kinder dieser Klasse einer Arbeit nachgingen, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen. Das besondere Interesse der Autorin galt den Sichtweisen der Kinder und ihren Strategien, wie sie mit ihrer prekären Lebenssituation umgingen. Im Unterschied zu vielen anderen Untersuchungen über Kinderarbeit standen also die Kinder als fühlende, denkende und handelnde Subjekte im Mittelpunkt.
Inhalt und Aufbau
Das primäre Ziel der Autorin besteht darin, die Beziehung zwischen sozioökonomischen Logiken und den Erfahrungen von arbeitenden Kindern in der Schule zu untersuchen. Zu diesem Zweck analysiert sie die Prozesse im Klassenzimmer unter Beachtung der sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, der Klasse und der Kaste sowie deren Überschneidungen. Im Zentrum stehen die Erfahrungen von Kindern, die im postkolonialen und dem heutigen neoliberal geprägten indischen Kontext gleichzeitig arbeiten und zur Schule gehen. Dank ihrer Untersuchungsmethode gelangt die Autorin zu dichten Beschreibungen der pädagogischen und disziplinären Prozesse in einer Schulklasse. Sie berichtet über die Ansichten und Erfahrungen von Kindern im Teenageralter in Bezug auf Schule, Arbeit und Familienleben und diskutiert die geschlechtsspezifischen Modi des Lebens in der Schule und zu Hause.
In Kapitel 1 erläutert die Autorin die Fragen, denen sie in ihrer Studie nachgehen will. Dazu gehören: Welche Erfahrungen machen diese Kinder, wenn sie gleichzeitig arbeiten und zur Schule gehen? Was genau ist die Arbeit, die diese Kinder tun? Handelt es sich um bezahlte oder unbezahlte Arbeit? Welchen Beitrag leistet sie für die Familie und die Wirtschaft? (Wie) ist diese Erfahrung durch Armut und Patriarchat geprägt? Was machen ihre Eltern? Wie versorgt sich die Familie und unterstützt die Schulbildung ihrer Kinder? Welchen Platz nimmt die Schule im Leben dieser Kinder ein? Was geschieht im Unterricht? Wie ist ihr Verhältnis zu ihren Lehrer*innen? Was haben die Beziehungen zwischen Geschlecht, Kaste oder sozialer Klasse mit ihrer Erfahrung im Klassenzimmer zu tun? Wie nehmen sie ihre sozialen und schulischen Erfahrungen wahr? Wie setzen sie sich damit auseinander? Die Autorin begnügt sich also nicht mit einem pauschalen Blick auf Kinderarbeit und Schule, sondern fragt genauer, welche Art von Arbeit die Kinder ausüben und bezieht die sonst vernachlässigte, meist unbezahlte „reproduktive“ Arbeit mit ein, die meist von Mädchen verrichtet wird. Ebenso fragt sie, welche Bedeutungen die Arbeit für die Kinder und ihre Familien haben und wie dies mit ihrer sozialen Lage, ihrer Kastenzugehörigkeit und ihrem Geschlecht zusammenhängt sowie ihre Erfahrungen in der Schule mitprägt.
In Kapitel 2 gibt die Autorin einen Überblick über die vorhandene Literatur zu Ungleichheiten beim Zugang und der Erfahrung in der Schule und erläutert ihren theoretischen Rahmen. Bei der Konstruktion dieses Rahmens stützt sie sich auf die Perspektiven der Geschlechter-, Klassen- und Kastenbeziehungen aus der Wirtschaftssoziologie, der politischen Ökonomie und der feministischen Kapitalismus-, Kastenpatriarchats- und Globalisierungskritik und kombiniert diese Perspektiven mit der bestehenden Forschung über Bildungsungleichheit in Indien, um die Schulbildung von Kindern zu analysieren.
Kapitel 3 verortet Kinder innerhalb der Familien, um die Schulbildung und die Kindheit von Kindern, die arm sind, in einem bestimmten Kontext zu betrachten. Auf der Grundlage von Interviews mit Eltern und Schüler*innen werden in diesem Kapitel folgende Aspekte herausgearbeitet: die Geschichten der Familien über ihre Migration in die Stadt, die Bemühungen der Eltern, Arbeit zu finden, und ihre Arbeitsbedingungen, sowie der geschlechts- und klassenbedingte Charakter der Arbeit der Kinder. Das Kapitel befasst sich insbesondere mit der sozialen und wirtschaftlichen Ungewissheit, mit der die Familien konfrontiert sind, mit der Art und Weise, wie die Kastenzugehörigkeit der Familien den Zugang zu Arbeit beeinflusst, und mit der geschlechtsspezifischen Rolle der Kinder für ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien. Dieses Kapitel ist ein erster Schritt, um die angebliche Unvereinbarkeit von Schule und Arbeit in Frage zu stellen, die sich aus den vorherrschenden Diskursen über Kindheit ergibt. Dies geschieht insbesondere im Kontext von Hilfsprogrammen, die davon ausgehen, dass Kinder, die die Schule besuchen, nicht arbeiten.
In Kapitel 4 wird dargelegt, dass sich die Unterschiede in den Regeln, die das Leben von Mädchen und Jungen bestimmen, auch in der Bedeutung, die die Schule für ihr Leben hat, manifestieren. Es wird dargelegt, wie die zutiefst geschlechtsspezifische Unterscheidung zwischen ghar/bahar (Zuhause/Außen) die von armen Kindern bewohnten Welten und folglich ihre Arbeit, ihr soziales Leben, ihre Bildungsbeteiligung und ihre Motivation für die Schule grundlegend prägt. Darüber hinaus wird gezeigt, dass die Geschlechterbeziehungen und -rollen auch grundlegend von der Klassenlage beeinflusst sind. Vor allem aber unterstreicht die in diesem Kapitel geführte Diskussion die Fähigkeit der Kinder, ihre Erfahrungen und die Zwänge zu reflektieren, die sich aus Armut und patriarchalen Strukturen ergeben.
Kapitel 5 erörtert die geringe Wertschätzung, die staatliche Schulen und die von ihnen abhängigen Gemeinschaften durch Lehrer*innen erfahren, die meist der städtischen Mittelschicht angehören. Auf der Grundlage von Analysen der klassen- und kastenbasierten Herrschaft und entsprechender kultureller Praktiken wird dargelegt, wie diese institutionalisierte geringe Wertschätzung die pädagogischen und disziplinarischen Praktiken der Lehrer*innen und die sozialen Beziehungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen prägt. Außerdem werden einige Aspekte des Schulalltags erörtert, die die Frustration der Lehrer*innen über ihre Arbeitsbedingungen in staatlichen Schulen hervorrufen. Der letzte Teil dieses Kapitels konzentriert sich auf die Perspektiven der Kinder und Eltern, ihre Kämpfe und Bemühungen, das Überleben und den Bildungserfolg angesichts ihrer sozioökonomischen und bildungspolitischen Marginalisierung zu sichern. Dabei wird die defizitorientierte Sicht der Lehrer*innen auf die Familien und Schüler*innen der Arbeiterklasse in Frage gestellt.
Kapitel 6 befasst sich mit dem versteckten moralischen und kulturellen Lehrplan, der den Unterricht durchdringt. Er manifestiert sich in einer negativen Bewertung der Schüler*innen – und damit auch der Familien und Gemeinschaften – anhand von Normen, die sich aus der Weltanschauung der oberen Kaste und der Mittelschicht ergeben. Das Kapitel konzentriert sich insbesondere auf drei der durchdringendsten Merkmale der Prozesse im Klassenzimmer und der Erfahrungen der Schüler*innen: (a) die Abhängigkeit der Familien von staatlichen Sozialleistungen, die von den Lehrer*innen oft als „moralischer“ Makel angesehen wird; (b) die Rhetorik der Sauberkeit und (c) die Praktiken der Geschlechterpolitik. Für jedes Element des moralischen Curriculums bietet das Kapitel Einblicke in die Weltanschauungen, Erfahrungen und eigenen Strategien der Schüler*innen, um diesem „geheimen Lehrplan“ zu begegnen. Diese Einblicke tragen auch dazu bei, die dem moralischen Curriculum zugrunde liegenden geschlechtsspezifischen, kasten- und klassenbezogenen Annahmen zu hinterfragen.
Kapitel 7 fasst die Themen zusammen, die in den vorangegangenen Kapiteln erforscht und entwickelt wurden, und erzählt die Geschichten des Lebens von Kindern als Teil von Familien und Gemeinschaften sowie die Erfahrungen arbeitender Kinder im Unterricht. Es zeigt, wie der im Buch entwickelte theoretische Rahmen eine nuanciertere und komplexere Analyse der Verbindungen zwischen Armut, Kastensystem, Patriarchat und informeller Arbeit einerseits und den Erfahrungen der Kinder im Klassenzimmer andererseits ermöglicht. Als Antwort auf die in Kapitel 1 erörterten Fragen problematisiert die Autorin die vorherrschenden Entwicklungsdiskurse über Armut und die Schulbildung der Kinder armer und marginalisierter Familien. Abschließend skizziert die Autorin einige der Veränderungen in der Bildungs- und Sozialpolitik, die ihr zufolge unabdingbar sind, um die bildungspolitische und sozioökonomische Ungleichheit im heutigen Indien zu überwinden.
Diskussion
Mit dem Buch von Reva Yunus liegt eine Untersuchung der Lebenswelt arbeitender Kinder des Globalen Südens vor, die auf eindringliche und empirisch evidente Weise gängige Thesen über die Schule als Hebel zur Abschaffung der Kinderarbeit infrage stellt. Die Einbeziehung eines breiteren und sich verändernden sozioökonomischen Kontexts ermöglicht es der Autorin, die vorherrschende (inter-)nationale Politik- und entsprechende Entwicklungsdiskurse zu hinterfragen, die sich mit der Beziehung zwischen Armut und der Schulbildung der Kinder armer Familien im Globalen Süden befassen. Indem sie sich mit der weit verbreiteten Annahme auseinandersetzt, dass Bildung der Schlüssel zur Armutsbekämpfung und zur Förderung des Wirtschaftswachstums in „Entwicklungsländern“ sei, stellt sie insbesondere die Annahme in Frage, dass Arbeit von Kindern und Schulbesuch sich gegenseitig ausschließen.
Im Gegensatz zu den Veröffentlichungen von Regierungen und mancher internationaler Organisationen, insbesondere der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), wird Schule als ein Erfahrungsraum sichtbar, in dem die Diskriminierung, Unterdrückung und Ausgrenzung arbeitender Kinder nicht endet, sondern reproduziert wird. In der Schule werden die Kinder z.B. mit Schulbüchern konfrontiert, die negative Stereotypen über ihre Gemeinschaften verstärken und sie so darstellen, als benötigten sie moralische Führung durch den Staat oder privilegierte Gruppen. Zu begrüßen ist auch, dass die Autorin das von unternehmernahen Stiftungen wie der Nike und NoVo Foundation sowie der Weltbank verbreitete Narrativ vom „Girl Effect“ hinterfragt, demzufolge die formale Bildung von Mädchen der Schlüssel zu ausgeglichenem Wirtschaftswachstum und Abbau von sozialer Ungleichheit sein soll.
Die Autorin hat es sich mit der Darstellung der sozialen Verortung und der spezifischen Erfahrungen der Kinder nicht leicht gemacht. Sie begnügt sich nicht mit einem abstrakten Begriff von Arbeiterklasse, sondern analysiert die soziale Marginalisierung und Diskriminierung der Kinder auf differenzierte und intersektionale Weise als das Zusammenwirken von Klassen-, Kasten- und Geschlechterzugehörigkeiten und der damit verbundenen Stereotypisierungen. Dabei geht sie auch auf die spezifischen Formen von (Kinder-)Arbeit ein, die mit der Einführung der kapitalistischen Produktionsweise im kolonialen Indien entstanden und sich im postkolonialen Indien bis heute in modifizierter Weise fortsetzen. Sie zeigt, dass die weit verbreitete, unsichere und ungeschützte informelle Arbeit ebenso wie die Arbeit der Kinder keine marginale Fehlentwicklung, sondern „konstitutiv“ für Indiens Wirtschaftswachstum war. Erst in jüngster Zeit wird die formale Schulbildung ausdrücklich als Mittel zur Lösung des „Problems der Kinderarbeit“ propagiert. Doch diese führt nicht, wie oft behauptet, zu mehr (Chancen-)Gleichheit, sondern trägt nach Bekunden der Autorin durch die Vernachlässigung des öffentlichen Schulwesens und seine zunehmende Privatisierung sogar dazu bei, die soziale Ungleichheit zu vergrößern.
Fazit
Mit dem Buch liegt eine Studie vor, die auf konkrete und differenzierte Weise zeigt, wie arbeitende Kinder eine staatliche Schule in Indien erleben und den dort erfahrenen Diskriminierungen begegnen. Die Studie widerspricht damit auch der These, dass die Schule ein Hebel zur Abschaffung der Kinderarbeit sei und den arbeitenden Kindern ein besseres Leben ermögliche.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
Website
Mailformular
Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.
Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 30.10.2023 zu:
Reva Yunus: ‘Labour Class’ Children’s Schooling in Urban India. Routledge
(New York) 2023.
ISBN 978-0-367-64749-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31258.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.