Lotte Rose, Ulrike Schmauch (Hrsg.): Jungen - die neuen Verlierer?
Rezensiert von Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker, 13.12.2005
Lotte Rose, Ulrike Schmauch (Hrsg.): Jungen - die neuen Verlierer? Auf den Spuren eines öffentlichen Stimmungswechsels.
Ulrike Helmer Verlag
(Sulzbach/Taunus) 2005.
175 Seiten.
ISBN 978-3-89741-183-8.
14,00 EUR.
CH: 25,60 sFr.
Reihe: Unterschiede: Diversity - 4.
Fragestellungen des Buchs
Das Buch antwortet auf die aktuelle, mediale Konstruktion von Jungen als Verlierer, Benachteiligte, Vernachlässigte, Dumme, Böse, Kranke, Verhaltensgestörte und so weiter. Von den vielen Fragen, die die Einleitung der Herausgeberinnen stellt, beantwortet das Buch besonders folgende:
- Ist der skandalisierenden These der Medien über die "Jungen als Verlierer" zuzustimmen?,
- Welche Folgen entstehen aus dieser medialen Konstruktion für die Geschlechterpädagogik? und
- Wie könnte eine aktuelle geschlechtsbewusste Pädagogik konzipiert werden, die sich nicht auf kurzfristige und skandalisierende Medienhypes einläst?
Herausgeberinnen und AutorInnen
Zur Beantwortung der Fragen wurde eine ganze Reihe von renommierten Protagonisten und Protagonistinnen der Gender- und Pädagogikdebatte beteiligt: neben den Herausgeberinnen Lotte Rose und Ulrike Schmauch im weiteren Uwe Sielert, Rainer Neutzling, Reinhart Winter, Corinna Voigt- Kehlenbeck, Christoph Blomberg, Sabine Maschke und Ludwig Stecher.
Inhalt
Die Autorinnen und Autoren widersprechen einheitlich der platten, ausschließlich defizitorientierten Annahme der Medien. Ein aufgeheizter Wettbewerb darum, ob eher Jungen oder eher Mädchen Opfer seinen, sei abzulehnen, weil a) ein ausschließlich defizitorientierter Blick auf die Geschlechter zu kritisieren sei und b) dennoch für beide Geschlechter geschlechtspezifische Probleme, wie Chancen aus ihren Sozialisationsbedingungen entstünden, die jeweils differenziert analysiert, aber nicht dramatisieret werden sollten.
- Lotte Rose argumentiert zum Beispiel, dass in dem neuen Entdecken der Benachteilung von Jungen die simplifizierende Geschlechterdualität nicht überwunden, sondern nur umgedreht würde (S. 23). Rose hält zudem die "Aufrechungsprozedur" (S. 19) (Wer ist die/ der Benachteiligste/ r im ganzen Land?) für unergiebig, weil sie verhindere Alternativen zu polaren Kategorien der Geschlechter zu entwickeln.
- Ähnlich wie Rose sieht auch Schmauch (S.34) kleine Chancen dafür, "dass durch eine etwas breitere Debatte über Jugendprobleme allmählich mehr Menschen als bisher wahrnehmen, dass die hegemoniale Geschlechterordnung und die ihr zugehörige Männlichkeitskonstruktion auch auf männlicher Seite Folge- und Konfliktkosten erzeugen, ja sogar gerade zu kontraproduktiv und anachronistisch für die gesellschaftliche Weiterentwicklung werden". Im Anschluss daran sieht sie die Möglichkeiten für eine geschlechtsbewusste Jungenarbeit, "die ihre Zukunft noch vor sich hat" (S.36).
- Uwe Sielert sieht die Chance, dass auch Männer das bisherige "Geheimwissen" (S.51) über die problematische Seiten ihrer Existenz zur Kenntnis nähmen, aber auch die Gefahr, dass durchaus weiter bestehende Benachteiligungen von Mädchen in den Hintergrund gerückt werden könnten.
- Corinna Voigt-Kehlenbeck sieht in der "vermeintlichen Katastrophe der Jungen" (S.112) die Chance zu einer gesamtgesellschaftlich notwendigen Veränderung im Geschlechtervertrag, sowie zu einer weniger theorielastigen, sondern eher politischen Einmischung der Genderpädagogik in diese Debatte.
Zur Frage der Konsequenzen aus der "Verliererdebatte" für die Genderpädagogik gibt es bei den Autorinnen und Autoren eine durchgängige Empfehlung einer Entdramatisierung und Entmoralisierung der Debatte. Benachteiligung von egal wem sei entgegen zutreten (Reinhart Winter; es gehe besonders um Selbstreflexion der Fachkraft in Hinblick auf die eigenen Geschlechterkonstruktionen und die Beobachtung der Geschlechterinszenierungen auf Seiten der Adressaten, statt um normierende, erzieherische Eingriffe (Corinna Voigt- Kehlenbeck). Genau ohne die Apokalyptik und Darmatisierung, die Medien UND Pädagogik gemeinsam seinen, bliebe darüber nach zu sinnen, wie "Schmerzen vermieden und Glücksmöglichkeiten eröffnet werden können" (Christoph Blomberg, S.136).
In allen Texten lässt sich eine pädagogische Grundorientierung ausmachen, die erzieherische Normierungen (von Mädchen in Richtung einer Emanzipation im Sinne des Feminismus und für die von Jungen in Richtung einer Domestizierung) relativieren oder zurückweisen. Übrig bleibt die Aufgabe einer differenzierten Wahrnehmung der jeweils sehr spezifischen Zielgruppen und dabei ist eher für die männlichen Autoren des Bandes "Geschlecht" nur eine der relevanten Wahrnehmungsrichtungen, neben Herkunft, Alter, Religion, Region, und so weiter (Uwe Sielert S. 52).
Im Grund bleiben Essentials einer bildungsorientierten Sozialpädagogik, die sich als Assistent der selbsttätigen Aneignung von Person und Welt (inklusive des Geschlechtes) im Zusammenhang versteht. Damit verwandelt sich Genderpädagogik zurück in eine auch geschlechtsbewusste Sozialpädagogik. Das ist zu begrüßen, denn die wichtige wissenschaftliche Analyse und politische Kritik von und an Geschlechterverhältnissen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten hatte sich in der Genderpädagogik in eine normierende Erziehung verwandelt, die wie immer, wenn Pädagogik ihre Adressaten zum Vehikel von Gesellschaftsveränderung macht, in Entfremdung von den Subjekten und ihren Lebenswelten enden musste.
Besonders Christoph Blomberg kritisiert die pädagogische Grundhaltung, den Adressaten ein Defizit zu unterstellen und ihnen im Gegenzug erzieherische Rettungs- und Heilungsmaßnahmen zu verordnen, als ein aus der christlichen Tradition stammenden Zusammenhang von "Erbsünde und Erlösung" im Sinne von: "Erkenne, dass du unvollkommen bist und folge dem von mir vorgezeigten Weg ins Heil" ( S.127). Das diese pädagogische Grundhaltung zu erzieherischem Missionismus und Imperialismus führt, der den Jungen und Mädchen fremdbestimmte, "richtige" Haltungen und Handlungen beibiegen will, ist eine nicht neue, aber immer wieder zu erneuernde Erkenntnis.
Ist man sich tendenziell in der Autorenschaft des Buches einig, solche erzieherischen Übergriffe zurück zu weisen, bleibt aber doch ein gewisses Bedürfnis irgendeine normative Orientierung des pädagogischen Umganges mit Jungen und Mädchen zu bestimmen. Zumindest die Wahrnehmungen der Pädagoginnen und Pädagogen sollen geschärft werden. Denn wenn "Geschlecht" nur noch eine Kategorie der Beobachtung der Adressaten unter anderen ist, dann kann man zumindest Beobachtungskriterien vorgeben. So tut es Uwe Sielert mit einer Erweiterung des "Diagnostikinstrumentes" (dieser technokratische Begriff scheint hier naiv verwendet) zu dem Variablenmodell "balancierten Junge- und Mannseins" von Neubauer/ Winter um eine dritte Ebene des "Flow". Corinna Voigt-Kehlenbeck gerät angesichts der Notwendigkeit einer neuen normativen Neutralität der Geschlechterpädagogik in einen Zwiespalt. Einerseits weiß sie, dass eine subjekt- bzw. bildungsorientierte Pädagogik sich auf die Lebenswelten und Selbstdeutungen des Adressaten einlassen muss. Entsprechen schlägt sie eine inhaltlich offene Beobachtungskategorie vor, nach der geschlechtsreflexive pädagogische Interventionen angesagt seinen, wenn man beobachte, dass Jungen wie Mädchen sich angesichts rigider "Ordnungen der Geschlechter" sich "in der eigenen Haut nicht wohl fühlen" (S. 98). Andererseits kann Voigt- Kehlenbeck die begrüßungswerte Konsequenz dieser Subjektorientierung nicht durchhalten und bringt dann doch für jede Sozialisationsphase von Kindheit und Jugend in der Kürze verkürzende inhaltliche Vorgaben, wie denn die massiven Geschlechterinszenierungen jeweils beschaffen seinen. Damit verstellt sie den vorher geöffneten pädagogischen Blick auf die Subjekte durch anscheinend objektive Analysen der Geschlechtersozialisation.
Fazit
Wie viele Bücher zur Genderpädagogik scheint mir dieses Buch eher für die theoretische Debatte relevant. Es bezeichnet deutlich den paradigmatischen Wechsel von einer geschlechtsnormierenden Veränderungs- und Heilspädagogik zu einer geschlechtsreflexiven, subjekt- und bildungorientierten Sozialpädagogik. Es wäre zu wünschen, dass diese Umorientierung auch von den Praktikerinnen und Praktikern der Jungen- und Mädchenarbeit zur Kenntnis genommen, reflexiv genutzt und handlungsrelevant würde.
Rezension von
Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker
Universität Hamburg
Fakultät für Erziehungswissenschaft
Fachbereich 2, Arbeitsbereich Sozialpädagogik/Außerschulische Bildung
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Es gibt 7 Rezensionen von Benedikt Sturzenhecker.
Zitiervorschlag
Benedikt Sturzenhecker. Rezension vom 13.12.2005 zu:
Lotte Rose, Ulrike Schmauch (Hrsg.): Jungen - die neuen Verlierer? Auf den Spuren eines öffentlichen Stimmungswechsels. Ulrike Helmer Verlag
(Sulzbach/Taunus) 2005.
ISBN 978-3-89741-183-8.
Reihe: Unterschiede: Diversity - 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3126.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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