David Rüger: Für eigensinnige Erfahrungen sorgen
Rezensiert von apl. Prof. Dr. Bettina Hollstein, 05.05.2025

David Rüger: Für eigensinnige Erfahrungen sorgen. Maßnahmen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 176 Seiten. ISBN 978-3-7799-7697-4. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Thema
Auf der Basis einer empirischen Untersuchung von Konflikten im bürgerschaftlichen Engagement werden Maßnahmen zur Engagementförderung entwickelt. Den Rahmen bildet dabei die Engagementtheorie rund um die Kategorie von Eigensinn von Corsten, Kauppert und Rosa 2008.
Autor
Der Autor kommt aus der Sozialen Arbeit und legt mit diesem Werk seine Dissertation vor, die einen Brückenschlag zwischen theoretischen Überlegungen zum Eigensinn und empirischen Erfahrungen in der Engagementförderung anstrebt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel (Einleitung, theoretische Hintergründe, Forschungsdesign, Ergebnisse (Beschreibung der Fallstudien), Diskussion der Ergebnisse und Verfahren „Zufriedenstellende Tätigkeiten vereinbaren“). Die Einleitung formuliert die zentrale Forschungsfrage: „Wie reagieren bürgerschaftliche Engagierte, wenn sie von anderen Engagierten gehindert werden, ihrem Eigensinn entsprechende Handlungen auszuüben oder zu erleben?“ (13) [1]. Die Bedingungen der Reaktionen sollen dabei genauso berücksichtigt werden wie die Folgen. Als zentral wird dabei der methodische Zugang betont, der sich aus dem Konzept des Eigensinns bürgerschaftlich Engagierter ableiten soll (14). Die Einleitung gibt weiterhin einen Überblick über die folgenden Kapitel der Arbeit.
Im zweiten Kapitel zu den engagementtheoretischen Hintergründen wird in Abschnitt 2.1 zunächst die Begrifflichkeit bürgerschaftliches Engagement geklärt, die der üblichen Definition (wie z.B. im Freiwilligensurvey) entspricht, dann dessen Strukturmerkmale beschrieben und begründet, warum der Begriff „bürgerschaftliches Engagement“ gewählt wird. Außerdem wird dargestellt, inwiefern bürgerschaftliches Engagement nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die engagierten Individuen positive Folgen hat. Abschnitt 2.2 widmet sich dem „Eigensinn“ der Engagierten, der ihre biografie- und handlungszentrierten Orientierungen beschreiben soll unter Rückgriff auf die Konzepte von Krug und Corsten (2010). Der Eigensinn stellt eine unbewusst verlaufende Selbstfestlegung dar, die sich als Ergebnis von Entscheidungsprozessen im Rahmen von biografischen Handlungsspielräumen ergibt. Engagierte entscheiden in ihrem alltäglichen Handeln, wer sie sein und wie sie ihr Leben entsprechend führen wollen. Dabei verortet sich der Eigensinn zwischen Wir-Sinn (hier geht es um angestrebte soziale Praktiken, die mit anderen ausgeübt werden – also um allgemeine Vorstellungen einer guten Gesellschaft) und fokussierten Motiven, die sich auf situative biografische Lebensentscheidungen der jeweiligen Person beziehen. Ausdrücklich meint der Eigensinn nicht „Egoismus, Egozentrik oder Trotz“ (27). Der Eigensinn kann sich verändern, ist aber in der Regel unbewusst und zeitstabil.
Wir-Sinn und fokussierte Motive bilden laut Corsten et al. (2008) die Quelle für bürgerschaftliches Engagement. Daraus folgert der Autor, dass der Eigensinn (als zusammenfassende Oberkategorie von Wir-Sinn und fokussiertem Motiv) die Quelle bürgerschaftlichen Engagements darstellt (29). Bürgerschaftliches Engagement ergibt sich, wenn ein unverwirklichter Wir-Sinn vorhanden ist, dessen Verwirklichung ein fokussiertes Motiv erfüllt, eine Wirksamkeitsüberzeugung bezüglich des Engagements besteht und man nicht befürchtet, instrumentalisiert zu werden (30). Dies alles wird mit dem Eigensinn identifiziert. Im Verlauf bürgerschaftlichen Engagements kann es zu Konflikten mit anderen Engagierten kommen, die verhindern, dass Engagierte im Engagement die Erfahrungen machen können, die ihrem Eigensinn entsprechen. Diese „eigensinnbetreffende[n] Konflikte“ (32) zwischen Engagierten stehen im Zentrum des Buches.
Im dritten Kapitel werden Forschungsdesign und -prozess beschrieben. Es handelt sich um eine „Grounded-Theory-Untersuchung pragmatistisch-interaktionistischer Lesart“ (36). Der Autor begründet zunächst die Auswahl dieser Methode und beschreibt dann sehr ausführlich und kleinteilig das Vorgehen bei Datenerhebung und -analyse der autobiografisch-narrativen Interviews. Die Datenerhebung wurde nach nur vier Fällen beendet, da deutlich wurde, dass Engagierte bei Konflikten sich zur Wehr setzen oder das Engagement abbrechen. Zum Schluss des Kapitels wird noch auf forschungsethische Fragen eingegangen.
Das vierte Kapitel stellt die Ergebnisse der vier Fallstudien vor. Zunächst werden die vier Engagierten (drei in der freiwilligen Feuerwehr und eine in der Flüchtlingshilfe) vorgestellt, der jeweilige Konflikt beschrieben und die Reaktion darauf. Dabei wird für die Fallbeschreibungen stark auf die Begrifflichkeiten des Theoriekapitels zurückgegriffen. Danach werden zwei fallübergreifende Kernkategorien bezüglich der Reaktionen der Engagierten auf Konflikte im Engagement entwickelt, nämlich Gegenwehr und ‚Notbremsung‘ (93) (letztere ist ein Zitat eines Engagierten, der sein Engagement beendet hat). Gegenwehr erfolgt überwiegend in verbaler Form, etwa durch Appelle (95), die mal erfolgreich sind und mal nicht (97). Wenn die Appelle keinen Erfolg haben, kommt es zum Abbruch des Engagements. Da dieser Abbruch eigentlich nicht gewollt ist – schließlich streben die Engagierten mit dem Engagement für sie biografisch wichtige Handlungen an –, kann er zu psychosozialen Krisen führen (100).
Im fünften Kapitel werden die Ergebnisse diskutiert. Zunächst wird festgehalten, dass aufgrund des kleinen Samples die „Untersuchungsergebnisse höchstwahrscheinlich nicht hinreichend theoretisch gesättigt sind“ (105). Da die negativen Auswirkungen von Engagementabbruch für Engagierte wie für die zivilgesellschaftlichen Organisationen, in denen Engagement stattfindet, beträchtlich sind, argumentiert der Autor dafür, im folgenden Kapitel ein Verfahren vorzustellen, dass präventiv das Entstehen der genannten Konflikte vermeiden soll. Er ordnet noch die Ergebnisse in den Forschungsstand ein, wobei er überwiegend auf Corsten et al. (2008) sowie Kewes und Munsch (2020) eingeht. Als Schlussfolgerung für die Engagementförderung werden sieben Maßnahmen festgehalten:
„1. Dem Eigensinn entsprechende Tätigkeiten vereinbaren 2. Engagierte anerkennen und wertschätzen 3. Regelmäßig die Aktualität des Eigensinns von Engagierten reflektieren und auf Veränderungen reagieren 4. Engagierte ihrem Eigensinn entsprechend informieren und qualifizieren 5. Engagierte bei der Vereinbarung von Engagement und Lebenslage unterstützen 6. Engagierte bei der Lösung eigensinnbetreffender Konflikte mit anderen unterstützen 7. Ehemals Engagierte nach schmerzhaften Engagementabbrüchen psychosozial beraten“ (110), die jeweils erläutert werden.
Im sechsten Kapitel wird das Verfahren „Zufriedenstellende Tätigkeiten vereinbaren“ beschrieben. Es besteht aus unterschiedlichen Phasen (Kennenlerngespräch, Reflexion des Kennenlerngesprächs und Nachgespräch), die sehr detailliert und mit Beispielformulierungen (etwa für die Gesprächsführung oder in herausfordernden Situationen) dargestellt werden. Die Darstellung stellt eine Anleitung dar und kann in der Praxis verwendet werden. Zum Schluss wird das Verfahren gewürdigt in Bezug auf Chancen und Grenzen, seine Validierung durch Studentinnen im BA Soziale Arbeit und bezüglich der Möglichkeit es auf weitere Fälle anzuwenden. Das Fazit am Ende fasst die Ergebnisse noch einmal zusammen.
Diskussion
Das Buch nimmt ein interessantes Thema, nämlich Konflikte im bürgerschaftlichen Engagement in den Blick. Dass die Reaktion auf Konflikte Gegenwehr in Form von verbalem Protest oder Ausscheiden ist, scheint aber keine sehr originelle Erkenntnis zu sein. Schließlich hat bereits Hirschman 1970 auf Voice oder Exit als Reaktionen auf Probleme in Organisationen hingewiesen (Hirschman 1970). Von größerem Interesse ist daher das Kapitel, das sich mit einem Verfahren beschäftigt, wie man bei der Vereinbarung von bürgerschaftlichem Engagement präventiv solche Konflikte möglichst vermeiden kann. Hier wird sehr praxisnah ein Verfahren beschrieben, das darauf zielt, die biografisch wichtigen Vorstellungen eines guten Lebens und damit verbundenen Engagements zu ermitteln – jenseits der vordergründigen Aussagen der Engagierten. Allerdings ist mit diesem Konzept auch immer die Gefahr verbunden, dass die Engagementkoordinierenden immer besser als die Engagementinteressierten wissen, was diese wirklich wollen. Damit ist potentiell ein gewisses Machtgefälle verbunden, das dem eigentlichen Sinn des Verfahrens widerspricht.
Der Rekurs auf Eigensinn als zentraler Kategorie ist nicht immer plausibel. Teilweise entsteht der Eindruck, dass diese Formulierung (eigensinnbetreffene Konflikte) etwas erzwungen ist, da die Engagierten selbst eher sachbezogen argumentieren (101) oder schlicht Machtkonflikte austragen, sodass nicht deutlich wird, inwiefern die Kategorie des Eigensinns zu einem besseren Verständnis der Konflikte beiträgt. Außerdem werden die theoretischen Unterscheidungen in Bezug auf Wir-Sinn, fokussierte Motive, Wirksamkeitserwartungen usw. durch die Zusammenfassung im Konzept Eigensinn zu stark verwischt, sodass eine differenziertere Konzeptionalisierung der Fälle nicht mehr möglich ist. Die aus den Fällen entwickelten sieben Maßnahmen sind für sich durchaus plausibel, allerdings nicht unbedingt konsistent aus den Fällen entwickelt. Die Anzahl der behandelten Fälle (4) ist für verallgemeinerbare Aussagen grenzwertig. Hier hätte man sich weitere kontrastive Fälle gewünscht.
In der Darstellungsweise ist das Werk an vielen Stellen (insbesondere in den ersten Kapiteln) etwas redundant, was den Lesefluss erschwert. Auch ist nicht ganz klar, an wen sich das Buch richtet. Für ein Fachpublikum sind manche Erläuterungen fast schon zu trivial und kleinteilig (etwa im Methodenkapitel), für interessierte Praktiker*innen sind die ausführlichen Beschreibungen des Forschungsdesigns und der Fälle irrelevant. Für diese Leser*innen ist das Kapitel zum Verfahren zur Vereinbarung von bürgerschaftlichem Engagement hilfreich – das allerdings bereits in Teilen schon publiziert ist.
Fazit
Das Buch behandelt ein wichtiges Thema (Konflikte im Engagement), zerfällt allerdings ein wenig in zwei Teile, die nur oberflächlich zusammengehalten werden: eine Fallstudie von vier Fällen von Konflikten zwischen bürgerschaftlich Engagierten einerseits und eine Anleitung zur Vereinbarung von bürgerschaftlichem Engagement, das solche Konflikte vermeiden soll, andererseits. Der erste Teil ist inhaltlich wenig überraschend, enthält aber einige interessante Beobachtungen. Der zweite Teil kann für Personen aus der Praxis eine hilfreiche Anleitung darstellen.
Literaturangaben
Corsten, M./Kauppert, M./Rosa, H. (2008): Quellen bürgerschaftlichen Engagements. Die biographische Entwicklung von Wir-Sinn und fokussierten Motiven, Wiesbaden: VS.
Hirschman, A. O. (1970): Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organízations, and States, Cambridge: Cambridge University Press.
Kewes, A./Munsch, C. (2020): Engagement im Feld der Wohlfahrt zwischen Resonanz und Widerspruch, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 33, S. 37–50.
Krug, N./Corsten, M. (2010): Sind Nicht-Engagierte nicht eigensinnig? In: Pilch Ortega, A./Felbinger, A./Mikula, R. (Hrsg.): Macht – Eigensinn – Engagement. Lernprozesse gesellschaftlicher Teilhabe, Wiesbaden: Springer VS, S. 41–61.
[1] Die Zahlen in Klammern verweisen auf die Seiten im rezensierten Werk.
Rezension von
apl. Prof. Dr. Bettina Hollstein
Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt
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