Bernd Hontschik: Heile und Herrsche!
Rezensiert von Dr. Petra Schmidt-Wiborg, 20.12.2023

Bernd Hontschik: Heile und Herrsche! Eine gesundheitspolitische Tragödie. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2022. 142 Seiten. ISBN 978-3-86489-358-2. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Seit vielen Jahrzehnten gewinnen im Gesundheitsbereich marktwirtschaftliche Finanzierungs- und Organisationslogiken und unterdessen auch rein gewinnorientiert wirtschaftende Investoren an Gewicht und global wirtschaftlich starke Branchen wie der Pharmasektor und Digitalkonzerne üben einen sehr großen Einfluss aus. Dies, so der Kernpunkt, droht dem Gesundheitsbereich in Deutschland, soweit er Teil des Sozialsystems ist, schrittweise den Boden zu entziehen.
Autor
Hontschik ist als Herausgeber für den Suhrkamp Verlag und als freier Autor mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik tätig. Bis 2015 praktizierte er in eigener Praxis als Chirurg.
Inhalt
In einer knappen Einleitung formuliert Hontschik seine Kernthese und sein Anliegen, kritisch zu beschreiben, wie in Deutschland eine Gesundheitswirtschaft entsteht, welche zunehmend von Profitabilität geleitet ist. Im ersten Kapitel umreißt er drei Arten der Entlohnung medizinischer Leistungen in Form einer historischen Übersicht von der mesopotamischen Zeit bis zu gegenwärtigen Pay-for-Performance-Systemen in den USA und Großbritannien.
Das Kapitel über Krankenkassen erläutert zunächst, welch historischer Meilenstein die Einrichtung gesetzlicher Kassen war. Hontschik skizziert grob, wie Krankenkassen in anderen EU-Ländern organisiert sind. Er bemängelt, dass es keinen vernünftigen Grund dafür gibt, dass es nur in Deutschland eine private Krankenversicherung gibt. Hontschik zeichnet ferner nach, wie sich mit dem 2009 eingerichteten Gesundheitsfonds das Verhältnis der Kassen zueinander neu als Wettbewerb gegeneinander bzw. um „lukrative“ Patient*innen strukturierte und wie der Fonds zu einem verschärften Widerspruch zwischen ökonomischen gegenüber fachlichen Gesichtspunkten führte: Angesichts finanzieller Vorteile üben Kassen etwa gegenüber abrechnenden Ärzten Druck in Bezug auf fachliche Einordnungen vorliegender Krankheitsphänomene aus. Hontschik erkennt darin vor allem eine Verkehrung des ursprünglichen Sinns der Krankenkassen, dass diese im Sinn allgemeiner sozialer Sicherung jeden Einzelnen solidarisch gegen Krankheitsrisiken absichern. Sein Plädoyer lautet, dass man, z.B. ansetzend beim Gesundheitsfonds, eine Einheitskrankenkasse für alle einrichten sollte.
Im Kapitel über Krankenhäuser konzentriert Hontschik sich auf die zahlreichen Privatisierungen infolge der Umstellung der Finanzierung seit den 1970er Jahren auf Landesinvestitionen einerseits und DRG-System andererseits. An Hessischen Beispielen zeigt er, dass politisch, zumal auf der Ebene der Kommunen, grundsätzlich kaum ein Wille besteht, Privatisierungen rückgängig zu machen bzw. zu verhindern – trotz der extrem negativen Folgen für angemessene Arbeitsbedingungen und für flächendeckende gute Versorgung. Mit weiteren Beispielen belegt der Autor, wie trotz defizitärer Bilanzen sehr hohe Renditen abgezogen werden (z.B. erwartete 10 Prozent für 2021 seitens der Rhön AG). Anhand der Medizinischen Versorgungszentren verdeutlicht er, wie teils rein gewinnorientierte Finanzinvestoren sich in gut bezahlten ambulanten Bereichen ausgebreitet haben.
Unter dem Titel „Gier“ zeigt Hontschik an mehreren Beispielen das skrupellose, auf Gewinn ausgerichtete Agieren der Pharmaunternehmen auf. Deutlich wird, dass zum Geschäftsmodell etwa der Verkauf sogar lebensgefährlich schädigender Medikamente, Pseudoinnovationen oder überteuerte Preispolitik gehören, ganz zu schweigen von Umgehungstaktiken, Opfer zu entschädigen. Hocheffektive politische Lobbyarbeit verhindert Regelungen, durch die sehr hohe, aber medizinisch unnötige Ausgaben gespart bzw. stark gesenkt werden könnten. Letzteres wäre z.B. möglich mit einer Einführung einer Liste derjenigen Medikamente, die bei vertretbaren Kosten von Nutzen sind („Positivliste“, die es nahezu in der gesamten EU gibt, in Deutschland nicht). Hontschik sieht in deren Einführung eine Hauptforderung, um gegen den Diktat der Pharmakonzerne wirkungsvoll vorzugehen.
Hontschik benennt im Kapitel „Digitales“ als vorrangige Risiken der Digitalisierung Cyberkriminalität und die zentrale Speicherung individueller Gesundheitsdaten. In Rücksicht auf die politisch geförderte und gewollte digitale Durchdringung aller Lebensbereiche, und so auch Gesundheit, hebt er hervor, dass die Freiwilligkeit der Abgabe von Daten immer mehr untergraben wird, sei es in Einzelprodukten (z.B. digitale Stromzähler), sei es strukturell (z.B. digitales Abwassermonitoring). Sein Vergleich mit der digitalen Überwachungspolitik Chinas führt Hontschik zu dem Urteil, dass – auch soziale – digitale Kontrollsysteme in westlichen Demokratien überwiegend im Verborgenen eingeführt werden. Anhand der estnischen Digitalstrategie beschreibt der Autor, wie das alleinige Recht der Bürger*innen, Zugriffsberechtigung auf Daten zu erteilen, digitalen Fortschritt und Datenschutz im Gesundheitswesen unter einen Hut bringt.
Hontschik argumentiert für ein anderes, konstruktivistisches Verständnis von Humanmedizin. Kernproblem aktuell, theoretisch und praktisch, ist ihre Reduktion auf all das, was sich im Rahmen objektiver Messbarkeit erkennen lässt. Individuelle Sinngebung und Umgangsweise mit Gesundheit werden zu sehr ausgeblendet. Befördert wird dies durch eine Gesundheitspolitik, welche laut Autor zu einer Tragödie zu führen droht, wenn Medizin und Gesundheitswirtschaft für eine Gesundheitsherrschaft instrumentalisiert werden, welche die humanen Fundamente unserer Gesellschaft infrage stellt.
Abschließend führt Hontschik ausgewählte Elemente eines Gesundheitswesens der Zukunft an, darunter die Bürgerversicherung, Abschaffung der Trennung von stationärem und ambulantem Sektor und des DRG-Systems zugunsten pauschaler Bezahlung von Leistungen, Krankenhäuser, die ausschließlich gemeinnützig betrieben werden oder die, privat betrieben, Gewinn reinvestieren müssen, Digitalisierung bei dezentraler Speicherung oder die Etablierung einer evidenzbasierten ärztlichen Kunst, die im Dienst des Individuums steht.
Das Buch gibt am Ende auf zwei Seiten Hinweise, bei welchen fachlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen und Initiativen Leser*innen sich engagieren können.
Diskussion
Hontschik bietet entlang verschiedener Themenschwerpunkte erste Einblicke in grundsätzliche Probleme des deutschen Gesundheitssystems mit Bezug auf Gefahren für eine menschenwürdige Humanmedizin. Die Kapitel bieten keine Detailanalysen, keine Detailkritik, in welcher Weise das Gesundheitssystem dem Primat marktwirtschaftlicher Kriterien bis hin zu reiner Profitabilität unterworfen wurde. Das ist auch nicht der Anspruch. Vielmehr beschränkt Hontschik sich darauf, seine Kernthese schlaglichtartig anhand ausgewählter Merkmale zu belegen oder mit Hilfe von Beispielen zu veranschaulichen. Dies ist sehr überzeugend gelungen.
Teilweise wären umfangreichere Erläuterungen und Begründungen hilfreich gewesen, z.B. zu ausgewählten Schwerpunktsetzungen wie beim Krankenhaussektor die Privatisierung oder wie bzgl. individueller Gesundheitsdaten zentrale versus dezentrale Speicherung. Gerade Laien hätte es zu einem besseren Verständnis geholfen.
Das lange Kapitel mit dem historischen Überblick über ärztliche Bezahlsysteme steht gänzlich isoliert da und seine Funktion für die Kernthese erschließt sich nicht. Man vermisst Auseinandersetzungen mit Argumenten derjenigen, die die von Hontschik kritisierten Maßnahmen anders beurteilen. Dies hat aber wohl damit zu tun, dass der Autor es nicht auf wissenschaftliche Kritik, sondern auf engagierte publizistische Aufklärung anlegt.
Dass wir die Tragödie der gezielten Einrichtung einer Gesundheitsherrschaft erleben, ist eine zu starke These angesichts der wenigen Indizien, die Hontschik dafür nennt. Dies ist auch daran zu erkennen, dass Hontschik bei seinen Reformvorschlägen darauf in keinster Weise zurückkommt. Insofern hätte auch der Verlag sich nicht dafür entscheiden sollen, gerade diesen Punkt mit dem Untertitel aufzugreifen.
Die Reformvorschläge selbst gehen deutlich hinaus über die aktuellen politischen Reformvorhaben, zu denen Hontschik sich leider nicht positioniert, obwohl es teils große Schnittmengen gibt, z.B. DRG-Reform und Regelungen zu Medizinischen Versorgungszentren. Insbesondere die Forderungen nach gemeinnütziger Verfasstheit der Krankenhäuser bzw. Reinvestitionspflicht für Gewinne verdeutlichen, mit welchen grundlegenden Änderungen dem Primat von Marktwirtschaft und Profit gebrochen werden kann – wenn man es politisch denn will.
Fazit
Das Buch richtet sich an eine breite Leserschaft. Es ist mit viel Herzblut und Lust an kritischer Pointierung, nicht selten an provozierender Zuspitzung, geschrieben. Man wünscht dem Buch zahlreiche Leser*innen, die sich mit dem Autor auf den Weg zu kritischem Engagement begeben.
Rezension von
Dr. Petra Schmidt-Wiborg
Autorin und Referentin
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