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Josefine Heusinger, Sarah Poppe et al. (Hrsg.): Altern in ländlichen Räumen

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 26.01.2024

Cover Josefine Heusinger, Sarah Poppe et al. (Hrsg.): Altern in ländlichen Räumen ISBN 978-3-8474-2688-2

Josefine Heusinger, Sarah Poppe, Lisa Reifert (Hrsg.): Altern in ländlichen Räumen. Sozialraumbezogene Beiträge zur Altersforschung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2023. 177 Seiten. ISBN 978-3-8474-2688-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - 26.

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Thema

Die soziale Unterstützung im vorgerückten Leben scheint in der alternden Gesellschaft vor allem in dünn besiedelten Regionen mit dem Rückgang der nachwachsenden Generationen und deren Fortzug aus den ländlichen in verdichtete Regionen wegzubrechen. Damit einher geht die infrastrukturelle Ausdünnung durch Rationalisierung und Digitalisierung an professionell-kommerziellen Angeboten wie Arztpraxen, Kaufläden, Konzentration der Verwaltung, Auflösung von Dorfschulen, Zusammenlegung pfarramtlicher Arbeit, Restaurantschließungen und vieles mehr. Die einstigen Respektspersonen im Dorf: Lehrer, Pfarrer und Arzt, sind in kleinen Gemeinden nicht mehr da. Die zurück bleibenden alten Menschen haben keine Anlaufstellen mehr. Wie kann Altenhilfe da noch agieren? Dem geht ein 2023 bei Barbara Budrich erschienener, 177-seitiger Sammelband „Altern in ländlichen Räumen“ mit Berichten aus sozialarbeitlicher Altenarbeits-Praxis in den Räumen Sachsen-Anhalt und Brandenburg nach.

Herausgeberinnen

Professorin Dr. phil. Josefine Heusinger, Diplom-Soziologin, lehrt Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Generationenbeziehungen und Lebenslauf an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Gesundheitsförderin Sarah Poppe ist in der Gesellschaft für Prävention im Alter PiA Sachsen-Anhalt tätig.

Sozialarbeiterin Lisa Reifert arbeitet nach wissenschaftlicher Mitarbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal in der interkulturellen Bildungsarbeit.

Aufbau

Die zwölf Einzelbeiträge des neuen Bandes „Altern in ländlichen Räumen“ sind in drei Abschnitte gegliedert. Nach einer Absteckung mit Einführung und einer Betrachtung von Altenarbeit im ländlichen Raum als Lebenswelt alter Menschen werden in einem empirischen zweiten Teil die spezifischen Herausforderungen ländlicher Altenarbeit erhellt und im dritten Teil Praxisbeispiele reflektiert.

Inhalt

Eingangs wird Altern umschrieben als von Multimorbidität betroffen bei gleichzeitigem Wunsch auf Partizipation, aber auch als Reservoir für anderen Menschen noch zu erbringende Hilfeleistungen. Solche Teilhabe setzt auf den Sozialraum. Dieser leidet jedoch unter Entflechtung und unter einer um sich greifenden De-Infrastrukturalisierung. Die öffentliche Daseinsfürsorge schwindet auf dem Land. Diese Defizite sind auf dem Land stärker als in verdichteten Regionen. Dennoch ist die Identifikation mit dem angestammten Land hoch, was ein „territoriales Kapital“ erbringt, das wahrgenommen und genutzt werden sollte. Beim Aufsuchen und Nutzen solcher Anknüpfungspunkte macht sich jedoch ein Mangel an neutraler Beratung für eine altersgerechte Wohnstatt bemerkbar. Bei der Nutzung der hilfefähigen Potenziale der alten Landbevölkerung sind zu Stabilisierung und Verstetigung professionelle Scharniere unerlässlich, wie Monika Alisch, die unter der Thematik bereits publizierte (vgl. socialnet.de/rezensionen/​24901.php), in ihrem Beitrag betont. Dies geschieht indes wegen verschieden starker örtlicher Ressourcen der Kommunen und mangels der kommunalen Pflichtaufgabe Altenhilfe in der Soll-Vorschrift § 71 SGB XII in sehr unterschiedlicher Weise. Jenseits gesundheitlicher, kommunaler und kirchlicher Dienste sind sozialräumliche Strukturen zu Teilhabe, Partizipation und gegenseitiger Hilfe anzuregen und zu befördern. Dabei divergiert der Sozialraum auf dem Lande in prosperierende, boomende Gebiete (meist am Rande von Zentren) und entdichtete, verarmende Regionen (in abgelegenen Gegenden). Gerade in letzteren bedarf es aufmerksamer, nachbarschaftlicher Netzwerke zur Abhilfe, die Angehörige und professionelle Dienste in Notlagen informieren. Voraussetzend sind Anlässe und Orte als Transmissionsriemen für Begegnungen. Anstöße für personale Netze erbringen der mobile Verkaufswagen, der Friedhof, Vorbereitungen auf Dorffeste, aber auch altengerechtes Gemeinschaftswohnen.

Die empirischen Beiträge des Bandes „Altern in ländlichen Räumen“ beziehen sich auf wissenschaftlich begleitete sachsen-anhaltinische Projekte wie Altersgerechtes Wohnen in Sachsen-Anhalt AWiSA und Beratende Quartiersentwicklung in Sachsen-Anhalt BEQISA. Die AWiSA-Vorhaben drehten sich neben Barrierefreiheit auch um leichte Erreichbarkeit von Diensten und um ein wertschätzendes Umfeld. Neutrale Beratung, Wissenstransfer und wirksam ankommende Öffentlichkeitsarbeit werden als unerlässlich empfunden. Aus Gruppendiskussionen mit Betroffenen und Professionellen ergaben sich Wünsche auf niederschwellige Beratung über Umzugsangebote, Verbleib im angestammten Wohnort und Kontakteröffnung zur Überwindung von Vereinsamung. Agrarfamilien haben bei den den Hof abgebenden Älteren einen Lernprozess, bei den Übernehmenden die Tauschbeziehung der neuen Selbstständigkeit gegen die Sorgearbeit für die Abgebenden zu bewältigen. Aus der dünn besiedelten Altmark ermittelte eine Befragung zur Behebung der mangelnden Daseinsvorsorge die Aktivität von positiven Multiplikatoren.

Bei den geschilderten Beispielen erwies sich ein zweijähriges BEQISA-Projektmodell mit dem Einsatz von 20.000 Euro als Mikro-Aktion von Belebung der Nachbarschaftshilfe mit persönlicher Anteilnahme als vorteilhaft. Geleistet wurden hier unter anderem die Einführung von technischer Assistenz, Chatten zwischen Jung und Alt sowie das Zusammentragen von Episoden in einem Band „Unsere Stadt“. Die Einrichtung eines Pflegebauernhofs („Green Care Farm“) wurde zwar nicht realisiert, sondern nur gedanklich durchgespielt und erbrachte die Erkenntnis, dass hierfür neben einer kolaborierenden Hof-Familie veränderungsbereite, kreative und flexible Bewohner-Persönlichkeiten sowie beratend Fachkräfte für Demenz, Pflege und Sterbebegleitung erforderlich wären. In der kontaktarmen Corona-Zeit versuchte das Projekt Bildung-Gesundheit-Technikkompetenz im Alter BiGeTA an verschiedenen Orten Sachsen-Anhalts über hybride Kontakte aus Präsenz und Onlinekontakten Gesundheitsförderung im Alter über Gruppenbildung und Transfer zu betreiben. Aktive Gesundheitsberatung im Alter durch partizipative Aktivierung setzte eine die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ressourcen bündelnde Initiative in der brandenburgischen Kleinstadt Baruth um, indem sie von der Dienste-Komm-Struktur auf eine aufsuchende Strategie mittels Einbindens und Selbstwirksamkeit bei den Älteren umschaltete. Als „Kümmerin“ etablierte sich im Ortsteil Letzlingen von Gardelegen in der Altmark eine Sozialarbeiterin über Zugänge via Hausärztin, Apotheke, Gaststätte, Blumenladen und Kirche mit Schaffung eines Ehrenamtskreises, den sie mit einem „Werkzeugkoffer“ schulend vorbereitete. Über den ehrenamtlichen Helferkreis errichtete sie aus Stadt, Kreis, Verbänden, Pflegekasse, Ärzten, Seniorenbeirat und Kirche ein beratendes Netzwerk.

Diskussion

Altern auf dem Land schien lange von der Idylle der die Alten umsorgenden Drei-Generationen-Familie geprägt. Durch die Ausdünnung vieler ländlicher Regionen und durch die Differenzierung des „Landes“ in lebendige, großstadtnahe Nachbargebiete und von den Verdichtungsräumen weit entfernte, sich entvölkernde Randgebiete, hat sich eine neue Situation ergeben. Auf dem abgelegenen Land können zurück bleibende alte Menschen nicht mehr hinreichend auf kommerzielle Leistungen, auch nicht auf konkurrierende, schnell aktivierbare Dienste und nicht mehr auf ortsnahe Verwaltungen zurückgreifen.

Was tun, wenn es bei schwindenden Eigenkräften, unzureichenden Anbindungen, fehlenden gesundheits-präventiven Anstößen dann auch kaum Beratung zur förderlichen Modifikation des Alltagslebens gibt? Angesagt wären barrierefreie Um-(Neu-)Bauten, gegenseitige Hilfen und kommunikative Belebungen. Es braucht zu deren Implementierung und Belebung neben den hergebrachten verwaltenden und pflegerischen Diensten und zu den wenigen, verbleibenden kommerziellen Versorgern eigene sozialarbeitliche Strukturen zur Lebenssicherung, zu Mobilität und Kommunikation. Dies zeigen die vor allem von der Hochschule Magdeburg-Stendal wissenschaftlich begleiteten und evaluierten empirischen Erkundungen sowie die Praxisbeispiele im Band „Altern in ländlichen Räumen“ in eingängiger Weise. Soziale Fantasie und auch glückliche Zufälle vor Ort sind in die untersuchten und begleiteten Aktionen geflossen.

Über befristete Modelle hinaus mögen hier dauerhafte sozialräumliche Strukturen entwickelt worden sein. Dies vor allem, wenn die angeregten Ehrenamts-Aggregate und Netzwerk-Gebilde von professionellen Organisationen dauerhaft begleitet und supervisiert werden können. Wunschbegriffe wie professionelles Scharnier, Halt gebende Transmissionsriemen, organisationale Anbindung sowie Verstetigung der finanziellen Förderung ziehen sich wie ein roter Faden durch die Projekt-Darstellungen.

Entsprechend der demografischen Ausdünnung in den intervenierten Landstrichen abseits der verdichteten Regionen (fern der beiden einzigen sachsen-anhaltinischen Großstädte Magdeburg und Halle) ist die empirische Datenlage der geschilderten Projekte vielfach sehr kleinzählig: Die quantitativen Erhebungen fußen auf mitunter nicht mehr als zwei Dutzend Fragebögen (mit Rückläufen weit unter 50 Prozent, vgl. Seite 47), die qualitativen Gruppendiskussionen wurden teils nur mit einer einstelligen Personenzahl geführt. Für den ansatzweise projektiv-theoretisch geschilderten Pflegebauernhof fand sich kein einziges „lebendes“ Beispiel-Objekt.

Typografisch ist der Sammelband einladend gestaltet. Die Skizzen springen optisch griffig ins Auge, lediglich die Flächenschraffur des Kreisdiagramms auf Seite 53 ist über die Legende kaum identifizierbar. Ein Abkürzungsverzeichnis für die vielen oft verwendeten Projektkürzel wäre hilfreich.

Fazit

„Altern in ländlichen Räumen“ ist für diejenigen, die sich um die vielen unversorgt und vereinsamt in strukturschwachen Gebieten Zurück-Bleibenden kümmern wollen, ein hilfreicher und Hoffnung gebender Ideen-Sammelband. Er ruft voll des Schweißes der Edlen zur sozialräumlichen Strukturbildung zum Wohle einer Bevölkerungsgruppierung auf, die leider noch zu oft im Schatten steht.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Es gibt 105 Rezensionen von Kurt Witterstätter.

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ISSN 2190-9245