Almut Zeeck, Sebastian Euler: Mentalisieren bei Essstörungen (Mentalisieren in Klinik und Praxis, Bd. 8)
Rezensiert von Sebastian Kron, 29.12.2023

Almut Zeeck, Sebastian Euler: Mentalisieren bei Essstörungen (Mentalisieren in Klinik und Praxis, Bd. 8).
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2023.
304 Seiten.
ISBN 978-3-608-98332-6.
D: 45,00 EUR,
A: 46,30 EUR.
Reihe: Mentalisieren in Klinik und Praxis - 8. .
Thema
Essstörungen sind am Beispiel der Anorexia Nervosa eine Mischung aus schwersten Traumatisierungen (der Kindheit), einem enormen Zwang, „schön“ sein zu wollen und das Ergebnis eines Vorlebens vermeintlicher Schönheitsideale von außen. Oftmals sind sie ein Störungsbild, das von starken Ängsten und einem enormen Selbstwertverlust gekennzeichnet ist. Dysfunktionale, verzerrte Gedankenmuster bestimmen den Alltag der Betroffenen.
Das vorliegende Buch gehört zum Sammelband „Mentalisieren in Klinik und Praxis“.
Mentalisieren wird dabei als eine Fähigkeit verstanden, innerpsychische, mentale Zustände von sich selbst und anderen zu verstehen und diese zum entsprechenden Verhalten passend zu erkennen. Die Autor:innen glauben, dass durch das Mentalisierungskonzept, essgestörte Menschen besser verstanden werden können und damit das Erleben eines beeinträchtigten Menschen besser fokussiert werden kann. Das Konzept soll außerdem helfen, Denk-, Handlungs- und Gefühlsmuster der Betroffenen wahrnehmbar zu machen und unpassende Interventionsmaßnahmen als nicht zielführend zu erkennen, um sich entsprechend umzuorientieren und nach anderen Möglichkeiten zu suchen.
Autor:innen
Frau Prof. Dr. med. Almut Zeeck ist Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie trägt die Verfahrensrichtung Psychoanalyse und wurde bereits mit einigen Auszeichnungen in der Forschung rund um die Themen Essstörungen, pathologisches Sport- und Bewegungsverhalten sowie stationäre und tagesklinische Psychotherapie ausgezeichnet. Aktuell ist sie leitende Oberärztin in einer Klinik für Psychosomatik am Universitätsklinikum Freiburg.
Herr PD Dr. med. Sebastian Euler ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit der Zusatzqualifikation Psychosomatik. Er ist Psychoanalytiker mit den Forschungsschwerpunkten Essstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Herr Prof. Euler ist unter anderem zertifiziert in Mentalisierungsbasierte Therapie. Er arbeitet aktuell als Klinikdirektor der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Universitätsspital Zürich.
Entstehungshintergrund
Wenn Menschen aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes gemobbt werden, sich anschließend bei vermeintlich dünnen Menschen den „Kult des Abmagerns“ abschauen und sich systematisch dünn hungern, steckt meist die Anorexia Nervosa, eine Form der Essstörungen, dahinter. Dieses Störungsbild ist leider in unserer heutigen Gesellschaft, in der Models vermeintliche Schönheitsideale abbilden und Ausgrenzungsphänomene aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes stattfinden, keine Seltenheit mehr. Verzerrte, kognitive Gedanken im Erleben des eigenen Körpers führen zu einem Fortschreiten der Erkrankung.
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende Fachliteratur beinhaltet fünf wesentliche Teilbereiche:
- Essstörungen
- Grundlagen des Mentalisierungskonzeptes und der Mentalisierungsbasierten Therapie (MBT)
- Essstörungen aus Sicht des Mentalisierungskonzeptes
- Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) bei Essstörungen
- Komplexe Therapieprogramme
Der erste Teil des vorliegenden Fachbuches geht auf die drei wichtigsten Erkrankungen im Essverhalten ein (Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa, Binge-Eating-Störung). Unter anderem werden weiterhin ätiologische Aspekte, Folgen der Erkrankung oder (evidenzbasierte) Behandlungsmöglichkeiten diskutiert. Zusammenfassend zu diesem Kapitel lässt sich sagen, dass Essstörungen des Öfteren mit anderen psychischen Erkrankungen, wie Depressionen und Ängsten, auftreten, aus vielfältigen, ätiologischen Faktoren hervorgehen und meist nahtlos ineinander übergehen. Erkrankte Menschen leiden zumeist über die gesamte Lebensspanne nicht nur an einer Essstörung, sondern an mehreren pathologischen Essauffälligkeiten.
Im zweiten Teil werden zunächst Grundlagen des Mentalisierungskonzeptes thematisiert. Die Autor:innen machen auf entwicklungspsychologische Komponenten hinsichtlich der Fähigkeit zum Mentalisieren und Mentalisierungsdefizite in der Psychopathologie aufmerksam. Des Weiteren geht es um aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Im Absatz „Mentalisierungsbasierte Therapie“ werden Grundlagen eines solchen Verfahrens dargestellt. Dabei spielen das Vorgehen, die Ziele der Behandlung, die Grundhaltung des:der Therapeut:in sowie gruppentherapeutische Programme eine gehobene Rolle. Ziel dieses Kapitels ist das Vermitteln grundsätzlicher, allgemeiner Kompetenzen hinsichtlich der Mentalisierungsbasierten Therapie.
In einem weiteren Kapitel werden die allgemeinen Grundlagen zum Mentalisierungskonzept auf das Erkrankungsbild der Essstörungen angewandt. Weiterhin geht es unter anderem um die Fragestellung, wie Psychotherapie hinsichtlich der Selbsterfahrungen und des Körpererlebens bei einem solchen Erkrankungsbild agieren kann. Unsichere Bindungsmuster und interaktionelle Probleme zusammen in Diskurs zu bringen, damit beschäftigt sich der Abschluss dieses Kapitels. Da Essstörungen zumeist aus einer oder mehreren Traumatisierungserfahrungen hervorgehen und auf missglückte Bindungserfahrungen zurückzuführen sind, schildert dieses Kapitel komplexe Zusammenhänge zwischen Traumata, Selbst- und Körpererleben und dem Verhältnis zum Mentalisierungskonzept.
Nach der grundlegenden Erörterung der mentalisierungsbasierten Therapie fokussiert sich das Folgekapitel mit den Zielen, der Struktur der therapeutischen Behandlung, dem phasenspezifischen Vorgehen und individuellen Themen der Betroffenen im mentalisierungsbasierten Therapieprozess bei Essstörungen. Ziel dieses Kapitels ist das Kennenlernen, wie die mentalisierungsbasierte Therapie auf ein pathologisches Essverhalten oder eine pathologische Esssymptomatik angewendet werden kann. Einzeltherapien gehen auf Schwierigkeiten im Selbstwertempfinden, Angstreaktionen, Traumatisierungen, unsichere Bindungserfahrungen und verzerrte Gedanken ein. Gruppentherapeutisch geht es darum, soziale Ängste und Unsicherheiten abzubauen. Von zentraler Bedeutung ist dabei eine gelungene Patient:innen- und Therapeut:innenbeziehung.
Komplexe Therapieformen werden abschließend diskutiert und bringen ein interessantes Werk zum Abschluss. Komplexe Therapieformen helfen bei der Implementierung einer guten und ausgeglichenen Tages- und Essstruktur.
Resümierend stellen die Autor:innen dar, dass sich die Forschung im Bereich Essstörungen stetig wandelt und noch immer nicht alle Hintergründe erhoben werden können. Wissenschaftliche Fortschritte helfen, ätiologische Faktoren beispielsweise noch tiefgründiger zu fokussieren.
Diskussion
Soziale Arbeit kann vom Konzept der Mentalisierung durchaus profitieren und psychisch erkrankten Menschen Möglichkeiten einräumen, ihren eigenen Körper-, ihre eigenen Gefühls- und Emotionswahrnehmung besser und sensibler zu erkennen. Neben einer gelungenen Emotionserkennung und Körperwahrnehmung braucht es sozialpädagogische Interventionen, die sich empathisch, wertschätzend „anbieten“, enge:r Vertraute:r der Betroffenen zu sein.
Bei Menschen mit Essstörungen möchte ich mögliche Interventionen in der Sozialen Arbeit darstellen:
a.) Gestaltung der Beziehungsebene: Essgestörte Menschen sind zumeist unsicher gebundene Menschen. Sie brauchen Sicherheit und Vertrautheit. Daher ist eine gelungene Beziehungsgestaltung von besonderer Bedeutung.
b.) Charakterliche Eigenschaften nutzen: Betroffene Menschen sind zumeist sehr sensibel. Diese Eigenschaft beispielsweise muss nicht negativ sein. Soziale Arbeit kann mittels Ressourcenaktivierung herausfinden, wie man vermeintlich negative Eigenschaften positiv nutzen kann. Vielleicht ist der sensible Mensch besonders achtsam und empathisch?
c.) Soziale Unsicherheiten abbauen, Bindungsmuster überdenken: Bei sozial unsicheren Menschen existiert zumeist ein vermeintlicher Widerspruch. Sie scheuen die Gemeinschaft, da sie Angst davor haben, beobachtet, bewertet und beurteilt zu werden. Dennoch wollen diese Menschen zur Gemeinschaft gehören. Soziale Arbeit kann helfen, neue Kontakte aufzubauen, zu pflegen und zu nutzen.
d.) Abbau depressiver Grundstimmungen: Soziale Arbeit kann dabei unterstützen, einfühlsam und achtsam auf die Gefühle der Menschen einzugehen. Sie kann durchaus helfend zur Seite stehen, wenn es darum geht, eigene Gefühle zu erkennen, zu benennen und wahrnehmbar werden zu lassen.
e.) Abbau von Stress und innerer Unruhe: Durch die Implementierung anerkannter Entspannungsverfahren (wie die progressive Muskelentspannung oder das autogene Training) kann innerer Stress abgebaut werden. Des Weiteren lernen Betroffene, sich selbst und ihre eigenen Gefühle (noch) besser zu verstehen und damit umzugehen.
Diese Übersicht erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und kann im praktischen Prozess ergänzt werden.
Fazit
Das vorliegende Werk ist für jene, helfenden Berufsgruppen geeignet, die sich im Kontext Essstörungen und Selbstwirksamkeitsprozesse fortbilden möchten. Bedeutsam ist dieses Buch, aus meiner Sicht, auch für Sozialarbeitende, die ihren Horizont im Bereich „Mentalisieren bei Essstörungen“ erweitern möchten.
Rezension von
Sebastian Kron
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