Marvin Giehl, Ruprecht Mattig (Hrsg.): Bildung als (De-) Zentrierung - (De-) Zentrierung der Bildung
Rezensiert von Joschka Sichelschmidt, 17.11.2023
Marvin Giehl, Ruprecht Mattig (Hrsg.): Bildung als (De-) Zentrierung - (De-) Zentrierung der Bildung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 168 Seiten. ISBN 978-3-7799-7068-2. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.
Thema
Das vorliegende Buch ging aus einer im Sommersemester 2022 stattgefundenen Ringvorlesung an der TU Dortmund des Instituts für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik (IAEB) hervor und beschäftigt sich konzeptuell mit dem Begriffspaar bzw. den Prozessen von Zentrierung – Dezentrierung und wie sich Bildung, verstanden als eine Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen (S. 8), darin verwirklichen lässt. Dazu werden verschiedene Positionen (z.B. ökonomische, kulturelle, geographische) aus bildungstheoretischer Sicht beleuchtet.
Aufbau und Inhalt
Zentrierung und Dezentrierung verstanden als Pole eines Kontinuums bedeutet, dass der Mensch „einerseits in seinem Leib zentriert [ist] und lebt damit im Hier und Jetzt; gleichzeitig kann der Mensch sich aber im Bewusstsein, mit Hilfe des Denkens und der Einbildungskraft, vom Hier und Jetzt lösen und damit auch zu sich selbst in Distanz gehen“ (S. 9). Dieser Prozess wird markant für soziale Entwicklungen gesehen, denn so können auch kritische und konstruktive Aspekte bestimmter Entwicklungen in den Diskurs überführt werden.
Bildung spielte und spielt im Anthropozän eine wichtige Rolle zur Entwicklung von Gesellschaften. Kritisch betrachtet wird aber auch der Bildungsgedanke an sich laut Ruprecht Mattig und Marvin Giehl in seiner Definitionslogik bereits stark zentriert wahrgenommen. Überlegungen zur Bildung beziehen sich immer auf den Menschen und Dinge um ihn herum. Zum Beispiel werden die den Menschen umgebende Natur und Umwelt als Objekte, nicht aber als Subjekte von Bildung verstanden.
Grundlegend wird als Forderung gestellt, dass sich in Zeiten des Wandels von Gesellschaften auch die bereits etablierten Denkfiguren einer kritischen Überprüfung standhalten müssen. Ein humanistischer Bildungsbegriff und generelle Begriffs- und Definitionsbildung muss immer mit Ambivalenzen und Ambiguitäten (Was ist alt und was ist neu, was ist etabliert und was noch nicht) umgehen können und akzeptieren, dass sich Entwicklungsprozesse in einer „nie abzuschließenden Wechselbewegung zwischen Dezentrierung und Zentrierung“ (S. 11) befinden.
Ausgehend dieser Grundlage werden in neun Kapiteln unterschiedliche Aspekte der leitenden Forschungsfrage untersucht:
Ruprecht Mattig und Marvin Giehl beschäftigen sich in ihrem in die Thematik einführenden Kapitel mit der Erörterung von ‚Bildung als Wechselspiel von Dezentrierung und Zentrierung‘ (S. 7–15).
Malte Brinkmann betrachtet in seinem Kapitel das Thema ‚Bildende Wiederholung – Zentrierung und Dezentrierung mit Geistigen Übungen‘ (S. 15–32) und versucht anhand der Beschreibung des ‚Übens‘ als Prozess in unterschiedlichen Kulturkreisen das Phänomen von Zentrierung und Dezentrierung zu skizzieren.
Yuzo Hirose beschäftigt sich in seinem englischsprachigen Artikel schwerpunktmäßig mit der Rolle des Geographieunterrichts an Schulen im Kontext der globalisierten Welt (S. 33–50), um in den Spannungsfeldern des gesellschaftlichen Zusammenlebens in dieser Welt bestehen zu lernen.
In dem englischsprachigen Artikel von Jeremy Rappleye wird der Frage nachgegangen, wie Wohlbefinden und generelle Zufriedenheit kulturell beschrieben und definiert werden können (S. 51–75). Explizit wird sich auf buddhistische Traditionen des Lernens berufen, um den westlichen Fokus auf den Prozess des Lernens zu öffnen und zu erweitern.
Janina Loh diskutiert bildungstheoretische und ethische Punkte im Kontext von Trans- und Posthumanismus (S. 76–96). Dazu werden aus den bestehenden trans- und posthumanistischen Ansätzen drei unterschiedliche Positionen zur Kritik am Menschen formuliert und diese in Bezug zum Bildungsgedanken gesetzt.
Reingard Spannring und Tomasž Grušovnik erörtern anhand der ‚Critical Animal Pedagogy‘ das Verhältnis zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren (S. 97–113). In ihren Überlegungen kommen die Autoren zu der Überzeugung, dass der Lernbegriff an sich subjektiv belegt ist und im Sinne einer Critical Animal Pedagogy, in welcher Tiere als eigenständige Subjekte aufgefasst werden, überarbeitet und neu gedacht werden muss.
Im Zeitalter des Anthropozän hat der Mensch die Welt nach seinen Bedürfnissen gestaltet. Christoph Wulf markiert den Punkt, wie der Mensch sich kritisch mit seinem eigenen Handeln auseinandersetzen muss, um den Fortbestand zu sichern (S. 114–133). Dazu wird der Punkt des Subjekts als globaler Weltbürger in einer vernetzten Welt beleuchtet. Kritisch stellt sich in diesem Zustand dar, wie wir uns zur Alterität anderer Menschen und auch der Alterität in uns selbst stellen und nach außen verhalten.
Die Beziehung in ihren vielfältigen Facetten zwischen Menschen und ihrer Umwelt betrachtet Kocku von Stuckrad auf Basis der von ihm rekonstruierten Naturspiritualität (S. 134–146). Dies bedeutet ein Anerkennen und im wissenschaftlichen Diskurs zu tolerierendem Verständnis von Themen wie Esoterik oder Spiritualität, damit im bildungspolitischen Diskurs gelegbte Inklusion und Exklusion von Wissensinhalten stattfinden kann. Dies bedeutet im Umkehrschluss mündige Bürger zu erziehen, welche differenzierte Strömungen erfassen lernen und zu Urteilen über die Welt kommen, ohne in Extreme zu verfallen.
Ruprecht Mattig entwickelt ein Konzept einer planetarischen Bildung, die uns Menschen anleiten soll, unser anthropozentrisches Denken langfristig überwinden zu lernen (S. 147–168). Der Bildungsbegriff wird im wissenschaftlichen Diskurs anthropozentrisch gefasst. Es wird zwar in aktuellen Debatten und erlebten Umweltphänomenen beschrieben, bzw. leiblich erfahren, ‚was macht die Welt mit uns Menschen‘ macht (z.B. globale Erwärmung, Artensterben), eine kausale und kritische Rückkopplung in der Mensch-Umwelt-Beziehung wird dagegen nur wenig vorgenommen. Eine planetarische Bildung kann helfen den Blick weg von „Verformung und Deformierung“ (S. 166) der Welt, hin zu einer wahren wechselnden Beziehung zwischen Menschen und Welt und auch den Auswirkungen des Handelns zu legen.
Diskussion
Das vorliegende Buch zum Thema Bildung als (De-)Zentrierung – (De-)Zentrierung der Bildung beleuchtet mit Aufsätzen unterschiedlicher Autoren den Bildungsbegriff in unterschiedlichen Kontexten.
Grundlegend passend zur aktuellen geopolitischen Situation beziehen sich die Autoren auf aktuelle Phänomene, um ihre oftmals eher als abstrakt zu beschreibenden Erklärungen verständlich zu machen.
Anzumerken ist, dass das Inhaltsverzeichnis in meinem Rezensionsexemplar einen Fehldruck aufwies. Die abgedruckten Seitenzahlen stimmten teilweise nicht mit den im Buch tatsächlichen Seitenzahlen überein. Z.B. wurde der Autor Jeremy Rappleye im Inhaltsverzeichnis mit zwei Texten angeführt, wobei sich beim Lesen herausstellte, dass einer von dieserTexte von der Autorin Janina Loh stammte.
Fazit
Für das Fachpublikum sind die Aufsätze durchaus interessant gestaltet, nehmen differenzierte Positionen ein und zeigen sich in ihren Forderungen integrativ und Anschlussfähig an bestehende theoretische Modelle. Für einen Einstieg in bildungswissenschaftliche Modelle zeigen sich die Aufsätze eher weniger geeignet, denn die vokabularischen Hürden lassen viele bei Kenntnis der Materie gut verstehbare Sachverhalte, als äußerst komplex aussehen und erschweren einen Zugang.
Rezension von
Joschka Sichelschmidt
M.A. Erziehungswissenschaften, M.A. Klinische Sozialarbeit, B.A. Sozialpädagogik/Psychologie, klinisch arbeitender Pädagoge in einem intensivpädagogischen Setting,
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Zitiervorschlag
Joschka Sichelschmidt. Rezension vom 17.11.2023 zu:
Marvin Giehl, Ruprecht Mattig (Hrsg.): Bildung als (De-) Zentrierung - (De-) Zentrierung der Bildung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7068-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31281.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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