Irina Volf, Hannah Schipperges u.a.: Armutssensibles Handeln in der Kita
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Otto, 12.10.2023

Irina Volf, Hannah Schipperges, Simone Habel, Claudia Laubstein, Anita Kalustian: Armutssensibles Handeln in der Kita. Evaluation des Modellprojekts "Zukunft früh sichern!". Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 176 Seiten. ISBN 978-3-7799-7455-0. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR.
Thema
Das Werk „Armutssensibles Handeln in der Kita. Evaluation des Modellprojekts Zukunft früh sichern!“ stellt die Ergebnisse der Evaluation der Wirksamkeit eines Modellprojekts zur individuellen und talentorientierten Gestaltung frühkindlicher Bildungsangebote in der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen dar. Durch die Maßnahmen des Modellversuchs soll eine bestmögliche Teilhabe aller Kinder unabhängig von sozialer Herkunft und finanziellen Ressourcen aller Kinder ermöglicht werden.
Autor:innen
Dr. Irina Volf ist Bereichsleiterin des Themenbereichs „Armut“ des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main.
Hanna Schnipperges (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich „Armut“ des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main.
Simone Habel (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich „Armut“ des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main.
Claudia Labstein (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich „Armut“ des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main.
Anita Kalustian (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich „Armut“ des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main.
Entstehungshintergrund
Das Ruhrgebiet und insbesondere die dort gelegene Stadt Gelsenkirchen gelten als besonders von Armut betroffen. Knapp 40 % aller Kinder in Gelsenkirchen wachsen in Familien auf, in denen die Eltern Hartz IV beziehen (Volf, Schipperges, Habel, Laubstein, Kalustian, 2023). Dies ist insbesondere deshalb problematisch, da die Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe in besonderem Maße durch den sozioökonomischen Status des Elternhauses geprägt sind. So ist empirisch belegt, dass Kinder aus sozial schwachen Familien häufiger unter Entwicklungsverzögerungen leiden und Defizite in der sprachlichen, kognitiven und motorischen Entwicklung aufweisen (Zander 2011).
An diesem Umstand setzt das Projekt „Zukunft früh sichern“ (ZUSi) an, in dem im Rahmen eines Modellversuchs an sieben Kitas in Gelsenkirchen erprobt wurde, wie Lern- und Bildungsangebote armutssensibel gestaltet sein können. Armutssensibilität wird in diesem Kontext als Haltung von Fach- und Leitungskräften verstanden, Empathie und Einfühlungsvermögen gegenüber armutsbetroffenen Menschen zu zeigen, um armutsbedingte Barrieren abzubauen und eine bestmögliche Förderung aller Kinder zu ermöglichen (Volf, et al., 2023). Eine solche armutssensible Gestaltung soll dazu beitragen den Kreislauf aus Armutsfolgen in der Kindheit und daraus resultierenden Benachteiligungen in der eigenen Biographie zu durchbrechen und eine bestmögliche gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen.
Aufbau und Inhalt
Die Einleitung des Werks umfasst eine Darstellung des Modellvorhabens, grundsätzliche Erläuterungen zum mixed-methods Forschungsdesign (quantitative Längschnittstudie ergänzt um qualitative Interviews mit Kindern und deren Eltern) sowie eine kurze Zusammenfassung der zentralen Befunde.
Kapitel 2 führt dann in die theoretischen Hintergründe des Vorhabens ein und bietet einen Überblick soziale Ungleichheit in der frühen Kindheit sowie das Konzept der Armutssensibilität.
Nachfolgend werden in Kapitel 3 und 4 die zentralen Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Begleitforschung dargestellt. Die Befunde belegen einerseits, dass Kinder sozioökonomisch schlechter gestellter Eltern grundsätzlich bereits im Kitaalter Benachteiligungen erfahren, da diese Eltern aufgrund multipler Problemlagen (Kosten für Kitaplätze, Unwissen über staatliche Fördermöglichkeiten, Sprachbarrieren) einen schwierigeren Zugang zu Bildungsangeboten haben. Andererseits hat die armutssensible Gestaltung von Bildungsangeboten in der Kita im Rahmen des Modellprojekts einen positiven Effekt auf die Entwicklung der Kinder in den Bereichen kognitive Entwicklung, soziale Kompetenzen sowie der Grob- und Feinmotorik. Ebenfalls belegen die Ergebnisse den besonderen Bedarf für Sprachförderung bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern, da nur durch eine intensive Förderung Defizite bis zum Schuleintrittsalter aufgearbeitet werden können. Insbesondere die Ergebnisse der qualitativen Begleitforschung zeigen recht plastisch anhand konkreter Aussagen der Eltern und Kinder, inwieweit eine Förderung von benachteiligten Kindern bis zum Schulanfang entwicklungsbedingte Defizite angleichen kann. Zugleich verweisen die Befunde klar darauf, dass insbesondere bei Kindern, die in multiplen Problemlagen aufwachsen (Armut, wenig familiäre Unterstützung und Sprachbarrieren), trotz intensiver Förderung soziale Ungleichheiten nicht ausgeglichen werden können.
Ausführlich wird in Kapitel 5 die Verstetigung des Modellversuchs an den beteiligten Gelsenkirchener Kitas dargestellt, um auch weiterhin die Potenziale der armutssensiblen Bildungsangebote nutzen zu können. Dies soll einerseits über Fortbildungen sowie Handreichungen zu Armutssensibilität für Fachkräfte sichergestellt werden und andererseits über einen Roll-out des Angebots auf bis zu 40 weitere Kitas im Ruhrgebiet. Zudem bietet das Kapitel in einen konkreten Einblick in armutssensible Angebote in Kitas (z.B. Medienverleih, Tauschbörsen, Tanz- & Turn-AG), die in den Modellkitas während der Projektlaufzeit eingerichtet worden sind.
Kapitel 6 beschließt dann das Werk mit einem Fazit und Handlungsempfehlungen. Die Autorinnen zeigen noch einmal deutlich auf, dass Armut ein erhebliches Entwicklungsrisiko darstellt, welchem durch die Maßnahmen des Modellversuchs zumindest partiell entgegengewirkt werden kann. Die Handlungsempfehlungen beziehen sich dann unmittelbar auf die Arbeit mit Kindern und verweisen auf die Notwendigkeit einer individuellen Diagnostik und Förderung der Kinder entsprechend ihrer Voraussetzungen.
Diskussion
Das Werk untermauert insgesamt die besondere Bedeutung frühkindlicher Bildungsangebote für die Bekämpfung sozialer Ungleichheit und zeigt klar auf, dass Armutssensibilität eine wichtige Ressource darstellen kann, um ungleiche Voraussetzungen von Kindern entgegenwirken zu können.
Die insgesamt ausführliche Darstellung der theoretischen Rahmung des Projekts hilft interessierten Leser:innen noch einmal die gesellschaftlichen Herausforderungen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem und die Möglichkeiten der Kompensation von Ungleichheiten durch das Bildungssystem nachvollziehen zu können. Etwas bedauerlich ist allerdings, dass das für das Werk zentrale Konzept der Armutssensibilität nur vergleichsweise wenig Raum erhält und eine der zentralen Quellen, auf die in diesem Kontext verwiesen wird, nicht im Literaturverzeichnis auftaucht.
Der Ergebnisteil erlaubt einen differenzierten Einblick in die Wirksamkeit des ZUSi-Modellversuchs, wobei insbesondere die qualitativen Befunde durch ihre besondere Anschaulichkeit bestechen. Der Fettdruck zentraler Befunde und auch grau unterlegte Zusammenfassungen der Studie sind in diesem Kapitel besonders hilfreich, um sich in kurzer Zeit einen Überblick über die zentralen Ergebnisse verschaffen zu können.
Die Autorinnen von „Armutssensibles Handeln in der Kita“ ermöglichen mit ihrem Werk einen umfassenden Einblick in ein wichtiges Forschungsvorhaben, welches mit der sozialen Ungleichheit in der frühkindlichen Bildung eine zentrale Herausforderung des deutschen Bildungssystems untersucht und wichtige Impulse für eine bessere Förderung von benachteiligten Kindern liefert.
Fazit
Insgesamt bietet das Werks somit wichtige Impulse für unterschiedliche Zielgruppen, die Interesse an der armutssensiblen Gestaltung von frühkindlichen Bildungsangeboten haben: Forschende Lehrende an Hochschulen und Universitäten, Berufspraktiker:innen in Kindertageseinrichtungen und Schulen aber auch Studierende der Kindheitspädagogik, die sich auf ihre zukünftige Tätigkeit vorbereiten wollen. Da soziale Ungleichheit auch ein für ganz Deutschland relevantes Problem ist, ist das Werk auch für Zielgruppen über das Ruhrgebiet hinaus von besonderem Interesse.
Literatur
Volf, I.; Schipperges, H.; Habel, S.; Laubstein, C.; Kalustian, A. (2023): Armutssensibles Handeln in der Kita. Evaluation des Modellversuchs „Zukunft früh sichern!“. Weinheim. Beltz Juventa.
Zander, Margherita (2011): Armut als Entwicklungsrisiko – Resilienz als Entwicklungshilfe? In: Zander, Margherita (Hrsg.): Handbuch Resilienzförderung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 275–313.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Otto
Professor für Kindheitspädagogik an der IU internationale Hochschule
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Es gibt 4 Rezensionen von Stephan Otto.
Zitiervorschlag
Stephan Otto. Rezension vom 12.10.2023 zu:
Irina Volf, Hannah Schipperges, Simone Habel, Claudia Laubstein, Anita Kalustian: Armutssensibles Handeln in der Kita. Evaluation des Modellprojekts "Zukunft früh sichern!". Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7455-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31282.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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