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Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 26.10.2023

Cover Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen ISBN 978-3-499-01105-4

Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen. Eine neue Sicht auf unsere Emotionen. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2023. 671 Seiten. ISBN 978-3-499-01105-4. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.

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Thema

Das Buch ist ein wissenschaftlicher Beitrag zur Emotionspsychologie. Es enthält eine Alternative zu der von der Autorin so genannten „klassischen Auffassung der Emotionen“ (S. 12), die in der westlichen Kultur seit Platon dominiert, den meisten Leser(innen) als selbstverständlich, weil intuitiv nachvollziehbar, erscheint und bis vor wenigen Jahrzehnten in der psychologischen Lehre, so wie ich sie in den 1970ern erfahren habe, alleinherrschend war.

Ihre in diesem Buch ausgebreitete „Theorie der konstruierten Emotion“ (S. 16) fasst sie in der Einleitung prägnant so zusammen:

„Wir haben herausgefunden, dass unsere Emotionen keineswegs angeboren sind, sondern aus grundlegenden Bausteinen bestehen. Es handelt sich nicht um universelle Reaktionsmuster, sondern [sie] variieren von Kultur zu Kultur. Sie werden nicht getriggert [aktiviert/​ausgelöst], sondern erzeugt. Sie sind äußere Anzeichen einer Kombination aus den physischen Eigenschaften unseres Körpers, einem flexiblen Gehirn, das sich auf seine Umgebung einstellt, und der Kultur, in der wir aufwachsen, denn diese ist Teil unserer Umgebung. Emotionen sind real, aber nicht im selben objektiven Sinn wie Moleküle oder Neuronen – eher auf eine Weise, wie Geld real ist – also keineswegs eine Illusion, sondern ein Produkt der Übereinkunft zwischen Menschen“ (S. 16).

Entstehungsgeschichte

Das Buch ist die von der renommierten Elisabeth Liebl besorgte Übersetzung des bereits 2017 erschienenen US-amerikanischen Originals. Den Rowohlt-Verlag musste man freilich erst auf dieses Buch stoßen. Getan hat das, wie in seinem Vorwort nachzulesen ist, Leon Windscheid. Der ist Psychologe, Autor und Handelsreisender in Sachen Psychologie; manche kennen ihn von seiner „Guten Gefühle Tour“ oder seinen Auftritten im Terra X-Kosmos des ZDF her.

Autorin

Die 1963 geborene Kanadierin ist derzeit Distinguished Professor für Psychologie an der privaten Northeastern University in Boston, MA. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem Gebiet der Emotionspsychologie, einem Teilbereich der Allgemeinen Psychologie. Lisa Feldman Barrett ist Direktorin des Interdisciplinary Affective Science Laboratory, Mitbegründerin und -herausgeberin der Zeitschrift Emotion Review sowie Mitbegründerin der Society for Affective Science. Sie hat mehrere akademische Auszeichnungen erhalten, wartet mit einer eindrucksvollen Publikationsliste auf und zählt zu den meistzitierten Psycholog(inn)en.

Aufbau und Inhalt

Den Kern des Buches machen 13 Kapitel aus, die durch verschiedene Beiträge hinten und vorn gefasst sind. Zu den zwei voranstehenden zählen das werbende Vorwort von Leon Windscheit sowie die Einführung in eine 2000 Jahre alte Hypothese, deren zentrale Botschaft oben unter „Thema“ bereits dargelegt wurde.

Den Inhalt der nachfolgenden 13 Kapitel lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. In den ersten drei Kapiteln wird die neue Wissenschaft von den Emotionen erkundet: wie Psychologie, Neurowissenschaften und verwandte Disziplinen sich von der Suche nach dem „emotionalen Fingerabdruck“, wie ihn die klassische Auffassung der Emotionen postuliert, abwenden und stattdessen fragen, wie Gefühle konstruiert werden. In den Kapiteln 4 bis 7 wird dann dargelegt, wie Gefühle nach Ansicht der Autorin tatsächlich entstehen. Anschließend gehen die Kapitel 8 bis 12 der Frage nach, welche praktischen Implikationen diese neuen Erkenntnisse für den Alltag haben und was sie für unsere hergebrachte Haltung zu Gesundheit, emotionale Intelligenz, Kindererziehung, persönlichen Beziehungen, Rechtssysteme, ja für die menschliche Natur im Allgemeinen bedeuten. In Kapitel 13 schließlich beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, was die neue Theorie der Emotionen zu sagen hat zur immer wieder kehrenden Rätselfrage, wie das menschliche Gehirn den menschlichen Geist hervorbringt.

Betrachten wir die 13 Kapitel näher.

In „Die Suche nach dem ,Fingerabdruck‘ der Gefühle“ führt uns die Autorin beispielhaft vor, was eine Methoden-kritische Analyse von Forschungsergebnissen und deren Interpretation bedeuten kann. Ihr wohl begründetes inhaltliches Fazit: Es gibt, anders als dies die klassische Auffassung der Emotionen impliziert, keine emotionalen Fingerabdrücke in Gesicht, Körper und Gehirn.

Wie der Autorin Emotionen konzeptualisiert, zeigt sich in „Emotionen sind konstruiert“.

Die zentrale Botschaft des Kapitels lautet: „Wir sind die Architekten unserer eigenen Erfahrungen“ (S. 87). Das ist der logische Schluss, wenn die Vorstellung der konstruierten Emotion konsequent zu Ende gedacht wird. Der theoretische Entwurf nimmt Elemente aus dem sozialen, dem psychologischen und dem Neuro-Konstruktivismus auf.

Der Mythos der universellen Emotion

Emotionen seien universell wird im Rahmen der klassischen Emotionstheorie postuliert, und dafür eine Unmenge an Belegen aufgeboten. Die Autorin zweifelt deren Beweiskraft Methoden-kritisch an, zeigt auf, dass scheinbar eindeutige Befunde auch anders als im konventionellen Sinne interpretiert werden können und bietet aus ihrer Forschung Gegenbelege an.

„Der Ursprung der Gefühle“ ist das erste von vier aufeinander folgenden Kapiteln, in denen Einzelheiten einer Theorie der konstruierten Emotion näher betrachtet werden. Das vorliegende ist eine gedrängte Darstellung der relevanten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse. Von zentraler Bedeutung sind dabei die miteinander verknüpften Konzepte „Interozeption“ und „Affekt“. Die Interozeption ist ein Schlüsselelement der Emotionen, die aber dadurch allein nicht erklärt werden können. Emotionskategorien wie „Trauer“ oder „Wut“ sind nämlich sehr viel komplexer als Affekte, die sich auf den voneinander unabhängig gedachten Dimensionen „angenehm/​unangenehm“ und „erregt/​ruhig“ bewegen.

Damit stellen sich verschiedene Fragen wie etwa die, wie aus interozeptiven Empfindungen Emotionen werden. Oder jene, weshalb wir Empfindungen auf sehr unterschiedliche Weise – von Körperempfinden bis hin zur „echten“ Emotion – erleben.

Auf diese finden sich Antworten im Kapitel „Konzepte, Ziele und Worte“.

Mit den Worten der Autorin: „In diesem Kapitel werde ich erläutern, wie Sie jedes Mal, wenn Sie eine Emotion erleben oder diese an anderen wahrnehmen, diese mit Konzepten kategorial ordnen und den Empfindungen der Interozeption und der fünf Sinne eine Bedeutung zumessen. Das ist das Herzstück der Theorie der konstruierten Emotion“ (S. 160). Zur Erläuterung sei auf den Unterschied zwischen „Kategorie“ und „Konzept“ aufmerksam gemacht: Konzepte existieren im Kopf, die entsprechenden Kategorien in der Welt da draußen.

Wie das Gehirn Gefühle macht

Das menschliche Gehirn ist in der Lage, Bedeutung zu erzeugen. Emotionen sind Bedeutung. Sie erklären unsere interozeptiven Veränderungen und das zugehörige Erleben vor dem Hintergrund einer aktuellen Situation. Emotionen sind ein Rezept für Handeln. Die Hirnregionen, die im Laufe des individuellen Entwicklungsprozesses zunehmend mehr und präzisere Konzepte bilden, sind die biologischen Fundamente der Bedeutungskonstruktion.

Emotionen als soziale Realität

Emotionen haben nach Ansicht der Autorin fünf Funktionen. Die ersten drei: Sie schaffen Bedeutung, sie konfigurieren Bedeutungen vor und sie regulieren das Körperbudget (etwa den Cortisolausstoß). Diese drei betreffen einen jeweiligen Menschen alleine. Mit den beiden letzten, werden andere Menschen in unsere soziale Realität geholt. Da ist einmal die emotionale Kommunikation, bei der zwei (oder mehr) Menschen ihre Emotionskonzepte synchron anwenden. Und dann gibt es noch die Funktion „sozialer Einfluss“: Man kann beispielsweise durch sein Schwitzen und Hecheln einen anderen Menschen dazu bringen, diese körperlichen Zeichen als Angst wahrzunehmen, was dann seinerseits Folgen bei jenem anderen hat. Diese beiden letzten Funktionen setzen voraus, dass wir Mitglieder der gleichen Kultur mit ihren spezifischen Emotionskonzepten sind.

Ein neues Menschenbild

Hier wird erklärt, wie das neue Menschenbild aussieht, das sich aus der Theorie der konstruierten Emotion ergibt. Das im Vergleich zur klassischen Auffassung von Emotionalität, nach dem der Mensch zumindest in Sachen Emotionen gleichsam ein reaktives Tier sei, das auf Ereignisse der Außenwelt reagiert. Damit stellen sich verschiedene grundsätzliche Fragen neu; etwa das der persönlichen Verantwortung. So formuliert die Autorin etwa: „‘Verantwortung’ heißt, dass Sie sich bewusst entscheiden, Ihre [emotionalen] Konzepte zu ändern.“ (S. 270)

Wie Sie mit Ihren Emotionen umgehen können

Das Kapitel ist das erste von vier, in denen dargelegt wird, welche theoretischen und praktischen Folgen die Theorie der konstruierten Emotionen hat – für emotionale Intelligenz, Gesundheit, Gesetze und schließlich unsere Beziehung zu Tieren. Hier geht es zunächst darum, wie wir ein gutes Körperbudget entwickeln (gesundes Essen, regelmäßig, ausreichend Schlaf) und emotionale Intelligenz aufbauen.

In „Emotionen und Krankheiten“ geht es um die Auflösungen zweier traditionell als strikt gedachter Grenzen: der zwischen körperlichen und geistigen Krankheiten und jener zwischen der physischen und der sozialen Welt. Beispielhaft ausgeführt wird das anhand von chronischem Stress und Schmerz, anhaltender Angst, Depression und Autismus.

Emotionen vor dem Gesetz

Dass Emotionen und Recht(ssprechung) etwas miteinander zu tun haben, ist vielleicht wenigen bewusst. Es ist aber so – auch in Deutschland. Begeht etwa jemand im Affekt eine unerlaubte Handlung, so kann nach § 827 BGB die Verantwortlichkeit für den Schaden, die „Deliktsfähigkeit“, ausgeschlossen sein. Außer im Zivilrecht spielen Emotionen eine bedeutsame Rolle im Strafrecht: Geschieht eine Tat im Affekt, so kann das nach § 21 StGB zur Strafmilderung führen.

Die Autorin bezieht sich in ihren Ausführungen und Veränderungsvorschlägen auf US-amerikanische Verhältnisse, die aber, sieht man einmal von der Institution „Jury“ ab, gut auf deutsche Verhältnisse zu übertragen sind.

Ist ein knurrender Hund wütend?

Behandelt werden die Fragen, ob Tiere Affekte erleben (ja), sie Emotionskonzepte haben (nein) und Emotionskonzepte miteinander teilen sowie sie an Nachkommen weitergeben können (nein).

Das abschließende Kapitel „Vom Gehirn zum Geist: neue Grenzgebiete“ liest sich als Zusammenfassung, der ein Ausblick auf die künftige Forschung folgt.

Nach dem Hauptteil des Buches folgen vier Anhänge (A – D): Grundlegendes über das Gehirn, Ergänzung zu Kapitel 2 bzw. 3 sowie Belege für die Konzeptkaskade. Danach finden sich: eine Danksagung, ein (leider unvollständiges) Stichwortverzeichnis, die Bibliographie, der Bildnachweis sowie die Endnoten (Literaturnachweise, erläuternde Fußnoten etc.).

Diskussion

Die Lektüre des Buches war für mich mit der Erschütterung festgefügter Überzeugungen verbunden; und das, obschon ich konstruktivistische Denkansätze seit frühen Philosophie-Seminaren aufmerksam verfolge, seit Jahren „Gehirn&Geist“-Leser bin und mir vollauf bewusst bin, wie Vieles an den Ausführungen der Autorin spekulativ ist. Aber nur Mut! möchte ich allen sagen, die das Buch aufschlagen; ins Wanken kommen gehört hier zur Lektüre. Die Autorin hat ja eindrücklich gewarnt: „Um Emotionen wirklich zu verstehen – auf eine Weise, die sich mit dem zeitgenössischen Wissen über Evolution und Neurowissenschaften verträgt –, müssen Sie tief verwurzelte Denkweisen aufgeben“ (S. 88).

Eine Erkenntnis fördernde Lektüre des Buches erfordert einige Aufmerksamkeit und langen Atem. Dem Verstehen hilft, dass die Autorin oft anschauliche Vergleiche anstellt und meist im Stil eines guten Wissenschaftsjournalismus schreibt. Man erspart sich Zeit und Mühe, wenn man immer wieder kehrende Begriffe, von denen jeder eine zentrale Rolle in der Theorie der konstruierten Emotion spielt, mitsamt der Definition auf separate Zettel schreibt. Diese Begriffe haben nämlich hier oft eine andere Bedeutung als die gewohnte; ich denke etwa an „Core-System“, „Degenerationseffekt“, „Instanz (einer Emotion)“, „(emotionale) Kategorie“, „Konzeptkaskade“ oder „Simulation“.

Fazit

Die Lektüre ist zu empfehlen allen, die sich in Sachen „Emotionen“ hilfreich verstören lassen wollen. Besonders ans Herz gelegt sei das Buch jenen, die von Berufs wegen schwerpunktmäßig „Emotionsarbeit“ zu leisten haben: Erzieher(inne)n, Klinischen Sozialarbeiter(inne)n, Psychotherapeut(inn)en, und Sozialpädagog(inne)n etwa. Das Buch lesen sollten all jene, die die vorgenannten Emotionsarbeiter(innen) ausbilden und/oder sie bei ihrer Arbeit beratend, supervisorisch oder weiterbildend begleiten.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 180 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 26.10.2023 zu: Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen. Eine neue Sicht auf unsere Emotionen. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2023. ISBN 978-3-499-01105-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31287.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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