Florentine Paudel: Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten unter inklusiver Perspektive
Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 06.05.2024
Florentine Paudel: Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten unter inklusiver Perspektive: Eine Rekonstruktion der Handlungsrahmen von Lehrkräften. Logos Verlag (Berlin) 2023. 219 Seiten. ISBN 978-3-8325-5706-5. D: 49,50 EUR, A: 50,90 EUR.
Thema
Das als Dissertation konzipierte Buch setzt sich mit der Haltung und dem Umgang von österreichischen Lehrkräften in Integrationsklassen der Sekundarstufe mit Lese-/​Rechtschreibschwierigkeiten von Lernenden auseinander. Florentine Paudel geht von der These aus, dass die Komplexität der Thematik zu einer Verunsicherung bei Lehrkräften im Umgang mit diesem Phänomen geführt habe. Mithilfe einer qualitativ ausgerichteten, narrativ fundierten Interviewstudie (mit acht Interviews von Lehrpersonen in Integrationsklassen der Sekundarstufe, darunter zwei sonderpädagogischen Lehrkräften, drei Lehrpersonen für das Fach Deutsch und drei Förderlehrkräften) arbeitet sie die Perspektive der Lehrkräfte heraus und zeigt, welche Herausforderungen bzw. Handlungsorientierungen einerseits mit Lese-/​Rechtschreibschwierigkeiten unter einer inklusiven Perspektive momentan verbunden sind. Andererseits diskutiert sie, wie weit sich die Förderung von Seiten der Lehrpersonen inzwischen dem wissenschaftlichen Inklusionsdiskurs und davon nur mittelbar abhängigen gesellschaftlich-administrativen Orientierungsrahmen angenähert hat.
Autorin
Dr. Florentine Paudel absolvierte 2007 bis 2009 ein Bachelorstudium des Lehramts für Volksschule an der PH Wien. Von 2008 bis 2017 unterrichtete sie als Volksschullehrerin an verschiedenen Schulen in Wien, u.a. als Förder-, Team- und Klassenlehrkraft. Berufsbegleitend absolvierte sie den Master of Science in Pädagogik und Logopädagogik (2016) und ein Bachelorstudium in Psychologie (2011), ferner ist sie diplomierte Montessori-Pädagogin (2010) und diplomierte Legasthenietherapeutin des „Österreichischen Bundesverband Legasthenie“. Ab 2017 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Inklusive Pädagogik am Zentrum für Lehrer*innenbildung an der Universität Wien. Seit 2020 ist sie als Hochschullehrende im Bereich Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Wien tätig. Zudem ist sie ehrenamtlich aktiv, u.a. als Vorstandsmitglied in der „European Dyslexia Association“ und im „Österreichischen Bundesverband Legasthenie“.
Entstehungshintergrund
Die wissenschaftliche Studie „Lese-/​Rechtschreibschwierigkeiten unter inklusiver Perspektive. Eine Rekonstruktion der Handlungsrahmen von Lehrkräften in Integrationsklassen der Sekundarstufe“ basiert auf dem Doktoratsstudium der Autorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien in den Jahren 2017 bis 2021. Betreut wurde die Forschungsarbeit von den Professoren Michelle Proyer und Gottfried Biewer an der Universität Wien.
Aufbau und Inhalt
Nach einem kompakten Vorwort und einer knappen, als Orientierung konzipierten Einleitung ist das Buch in sechs unterschiedlich lange Kapitel gegliedert:
- Forschungsvorhaben
- (Theoretische) Verortung
- Methodologie und Methoden der Forschung
- Ergebnisdarstellung
- Interpretation und Kontextualisierung der Ergebnisse
- Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick
Abgerundet wird der Band durch ein Literaturverzeichnis und einen Anhang mit Auszügen aus den durchgeführten Interviews mit acht Lehrkräften.
Im zweiseitigen Vorwort betont Paudel die Lebensweltbezüge ihrer Forschung: „Mein eigenes Interesse an der Thematik steht in engem Zusammenhang mit der Erfahrung, die ich als sogenannte Legasthenietherapeutin außerschulisch sammeln konnte.“ (S. 1)
Die Einleitung unter der Überschrift Forschungsvorhaben verdeutlicht die qualitative Forschungsmethodik „in Form von narrativ fundierten Interviews und Gruppendiskussionen“ (S. 5), um den professionellen Alltagsdiskurs von Lehrkräften über die LRS-Thematik zu rekonstruieren und sich mit den Handlungsrahmen von österreichischen Lehrkräften in Integrationsklassen der Sekundarstufe auseinanderzusetzen.
Kapitel 2 ist der theoretischen Verortung gewidmet. An erster Stelle geht die Autorin auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen des sozialen Konstruktivismus ein, da ihre Leitthese lautet, „dass Lese-/​Rechtschreibschwierigkeiten sozial konstruiert werden“ (S. 17). Daran schließt sich eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Handlungsrahmen von einzelnen Lehrkräften und des schulorganisatorischen Kontextes an, wie beispielhaft an einem Förderplan für Schüler erläutert wird. Darauf aufbauend wird der Begriff der Lese-/​Rechtschreibschwierigkeiten historisch und theoretisch erläutert, um daran anknüpfend schulische Perspektiven auf Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten im Allgemeinen und die Perspektive auf Lehrkräfte im Besonderen herauszuarbeiten. Paudel konstatiert, „dass Lehrpersonen aufgrund unterschiedlicher, teilweise auch widersprechender, Anforderungen an die eigene Rolle vor einem Spannungsverhältnis stehen“ (S. 43), gerade dann, wenn sie in Integrationsklassen tätig sind. Im Zentrum der theoretischen Verortung steht sodann der Vergleich unterschiedlicher Paradigmen auf Lese-/​Rechtschreibschwierigkeiten. Ausführlich und gestützt auf den wissenschaftlichen Fachdiskurs werden medizinisch-psychologische, lern- und entwicklungstheoretische sowie systemisch-konstruktivistische Perspektiven vorgestellt und in den Kontext der Inklusionsdebatte eingeordnet.
Das dritte Kapitel referiert die Methodologie und Methoden der Forschung. Dazu bezieht sie sich auf die Prinzipien der rekonstruktiven Sozialforschung in Anlehnung an Fritz Bohnsack und die damit verbundene Dokumentarische Methode. Detailliert beschreibt Florentine Paudel die konkrete methodische Umsetzung – vom Sampling der Interviewstudie, die aus acht Interviews mit Lehrpersonen in Integrationsklassen der Sekundarstufe besteht, darunter zwei sonderpädagogischen Lehrkräften, drei Lehrpersonen für das Fach Deutsch, zwei Förderlehrkräften und einer Lehrperson, sie „sowohl Förder- als auch Lehrkraft für das Fach Deutsch war“ (S. 63). Nachvollziehbar wird der Forschungsverlauf dargestellt, die Durchführung der narrativ fundierten Interviews nach dem Standardwerk von Arnd-Michael Nohl erläutert und die Herausforderungen bei der Datenanalyse beschrieben.
In Kapitel 4 erfolgt die Ergebnisdarstellung in Form der detaillierten und interpretativen Interviewauswertung, die Rückschlüsse auf Orientierungen der Lehrkräfte zu Heterogenität, Erfahrungen mit LRS und Ursachenzuschreibungen ermöglicht. Differenziert werden dazu die Äußerungen der Lehrpersonen analytisch geordnet. Zudem werden die Attribuierungen zu den Handlungsmöglichkeiten für die Aspekte pädagogische Testverfahren, Grundhaltungen zur Differenzierung im Unterricht, Wahrnehmung von Förderkursen, die Funktion von Lesen als „das Schaffen eines Zugangs zu Büchern“ (S. 117) einerseits und die Einbindung in den Unterricht andererseits betrachtet, ferner die Trainierbarkeit der Rechtschreibung, der Schreibprozess und Formen von Verbesserungen sowie die Gestaltung der Beurteilung bei LRS analysiert. Dabei werden viele unterschiedliche Sichtweisen der Lehrkräfte deutlich, die auch durch Veränderungen sowohl innerhalb als auch außerhalb des individuellen Handlungsrahmens beeinflusst werden.
Das fünfte Kapitel liefert die Interpretation und Kontextualisierung der Ergebnisse, die in Bezug auf die Forschungsfragen und die wissenschaftlichen bzw. theoretischen Erkenntnisse umfassend eingeordnet und ausführlich ausgewertet bzw. in den Kontext des aktuellen Fachdiskurses eingeordnet werden. Abgerundet wird dieses Kapitel durch eine Metaperspektivierung: inklusive Bildung aus kritischer bildungspolitischer Sicht. Es wird gezeigt, dass sich in einigen Feldern das Denken der Lehrkräfte über Lese-/​Rechtschreibschwierigkeiten weiterentwickelt hat „zu einem ressourcenorientierten Ansatz“ (S. 164). Allerdings wird dies von Florentine Paudel relativiert: „Aus den bisherigen Darstellungen lässt sich schlussfolgern, dass dieser Paradigmenwechsel anscheinend noch nicht zur Gänze Eingang in die Sichtweisen von Lehrpersonen gefunden hat.“ (S. 164)
Mit einem knappen, fünfseitigen Schlusskapitel zu Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick endet die Studie, indem bildungspolitische Forderungen (etwa nach Bildungsgerechtigkeit, Partizipation oder Chancengleichheit) mit den Ergebnissen der Interviewstudie verglichen und hinsichtlich der Evidenz beleuchtet werden. Ferner zeigt die Autorin, wie mögliche Folgestudien angelegt sein könnten, um neben Einzelinterviews auch Gruppendiskussionen als Forschungsbasis zu etablieren, um eine „Multiperspektive“ (S. 177) sowohl auf LRS als auch den Handlungsrahmen von Lehrkräften zu ermöglichen.
Diskussion
Die Forschungsarbeit von Florentine Paudel ist stringent und methodisch überzeugend aufgebaut. Der gewählte Forschungsrahmen wirkt sachgerecht, die Gestaltung des Forschungsdesigns entspricht den für Qualifikationsarbeiten üblichen Standards im Feld der rekonstruktiven Sozialforschung. Insoweit richtet sich das Buch an Fachleute im Bereich der Inklusiven Pädagogik, weniger an eine breite Leserschaft. Wie so oft bei Interviewstudien stellt sich die Frage, wie repräsentativ die gewonnenen Ergebnisse bei insgesamt acht Befragten sind. Dies ist sicherlich methodisch von Paudel reflektiert und thematisiert, jedoch bleibt die Frage nach der Generalisierbarkeit der fundiert und sehr akribisch ausgewerteten Befragungen. Dies macht die Autorin auch transparent, indem sie beispielsweise betont: „Der Handlungsrahmen wurde auf Lehrpersonen in der Allgemeinbildenden Höheren Schule beschränkt. Aufgrund der fehlenden Bereitschaft der Lehrpersonen, Gruppendiskussionen durchzuführen, beschränkt sich die Datenauswertung auf Einzelinterviews.“ (S. 176) Zudem ist der Handlungsrahmen, der in der Studie ausführlich „ermittelt“ bzw. rekonstruiert wird, auf die Gegebenheiten des österreichischen Schulsystems im Allgemeinen und des Wiener Raums im Speziellen fokussiert. Für Forschende im Bereich der Inklusiven Pädagogik bietet die Studie zahlreiche Impulse für Forschungsdesigns, Folgestudien und die Frage, wie der Reduzierung von Ungleichheit im Kontext der Inklusion möglich respektive gestaltbar sein kann. Ferner zeigen die Forschungsergebnisse von Paudel, dass noch zahlreiche Projekte und Bemühungen von Forschung und Bildungsadministration im Bereich der Inklusion erforderlich sein werden, solange „oftmals die Defizite der Schüler*innen aus der Perspektive der Lehrpersonen im Vordergrund stehen“ (S. 174).
Fazit
Die wissenschaftliche Studie der Wiener Bildungs- und Inklusionsforscherin Florentine Paudel untersucht die Haltung und Gestaltungsoptionen von Lehrkräften bei Schülerinnen und Schülern mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten mit Fokus auf Chancen- und Leistungsgerechtigkeit Sie arbeitet durch eine methodisch versierte, rekonstruktive Interviewstudie heraus, welchen aktuellen Stand die LRS-Förderung im allgemeinbildenden Schulsystem bei Lernenden mit kognitiven, entwicklungspsychologischen, sozialen, sozioökonomischen und soziokulturellen Unterschieden aufweist, die eigentlich eine besondere Förderung von Seiten der Lehrpersonen benötigten. Insofern leistet das Buch auf der Basis der „Dokumentarischen Methode“ Grundlagenforschung zum Umgang mit LRS aus der Perspektive von Lehrpersonen in Österreich.
Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
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Zitiervorschlag
Torsten Mergen. Rezension vom 06.05.2024 zu:
Florentine Paudel: Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten unter inklusiver Perspektive: Eine Rekonstruktion der Handlungsrahmen von Lehrkräften. Logos Verlag
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-8325-5706-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31290.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
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