Jörg Noller: Ethik des Anthropozäns
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.09.2023
Jörg Noller: Ethik des Anthropozäns. Überlegungen zur dritten Natur.
Schwabe Verlag
(Basel ) 2023.
124 Seiten.
ISBN 978-3-7965-4715-7.
D: 23,00 EUR,
A: 23,70 EUR,
CH: 23,00 sFr.
Reihe: Schwabe reflexe.
Das erdbewusste Leben der Menschen anders denken!
Der Lebensraum der Menschen, die Erde, ist Teil des Kosmos. Die wissenschaftlichen, kosmologischen und planetarischen Forschungen darüber, wie die Erde entstanden ist und wie sich pflanzliches, tierisches und menschliches Leben gebildet hat, sind eingebunden und verankert in dem Bewusstsein, dass Leben endlich ist. Raum, Zeit, Natur, Kultur sind Bestandteile des planetarischen Denkens und Tuns der Menschen. Es sind die Verantwortlichkeiten und Herausforderungen zu wissen und zu erkennen, dass der Mensch zur Erde und sie ihm nicht gehört, die im Gegenwarts- und Zukunftsdiskurs bedacht werden müssen. Die Frage, darf der Mensch alles machen, was er kann oder zu können meint, stößt ein neues Denken an. Das anthropologische, philosophische Denken gründet auf der Überzeugung, dass Logos, die Vernunft, den Menschen in die Lage versetzt zu wissen und zu erkunden, wer er ist, und wie er geworden ist, was er ist. Er ist fähig, zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden, Charakter und Allgemeinurteile zu bilden.
Die Weltbilder, die dadurch entstehen, unterliegen immer und immer wieder Veränderungsprozessen. Im naturphilosophischen, metaphysischen und gestaltpsychologischen Diskurs darüber, was und das etwas ist, wird eidetisch, materialistisch und ethisch argumentiert. Der „Erdling“ (Frederic Hanusch/Claus Leggewie/Eric Meyer, Planetar denken, 2021) ist aufgefordert, einen Perspektiven- und Systemwechsel im neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, vorzunehmen. Es ist die „kreative Vielfalt“, die von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 gefordert ist: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.
Entstehungshintergrund und Autor
Das neue Erdzeitalter, Anthropozän, wurde ausgerufen als eine geochronologische Entwicklungsstufe, bei der der anthrôpos, der Mensch, sich, die Natur und Kultur selbst, eigensinnig gestaltet und verändert. Die Veränderungsprozesse, die sich zum einen im Naturbegriff als geographisches und biologisches Landschafts- und Klimadenken, zum zweiten als anthropologische Unterscheidung von Natur und Kultur darstellen, werden schließlich im globalen Denken und Handeln technologische und virtuelle Entwicklungen: Aus Umwelt wird „Unswelt“.
Jörg Noller, Philosoph an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, seit 2022 Vertretungsprofessor an der Universität Konstanz, legt das Essay „Ethik des Anthropozäns“ vor. Im Anthropozän beansprucht der Mensch Macht über die Natur. Die biblische Aufforderung „Macht euch die Erde untertan“ vollzieht sich zum Griff und Übergriff, bis hin zu Veränderungen, die sich gegen die Individuen und die Menschheit richten.
Aufbau und Inhalt
Die Argumentation und Analyse des philosophischen Aufsatzes beginnt der Autor mit der Einführung der „dritten Natur“ im geochronologischen Diskurs. Es sind die Herausforderungen, die sich bei Fragen nach den ethischen und moralischen Implikationen im Anthropozän ergeben: Als „Selbstaufklärung des Menschen“. Es sind die Bilder, die sich in den wissenschaftlichen Argumentationen zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Techno-Optimismus und Klima-Pessimismus darstellen und zum Meinungs- und Bildungsmarkt getragen werden; etwa, wenn der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour (1947 – 2022) auf die Omnipräsenz der Natur im Gegensatz zur Kultur verweist; wenn der britische Umweltschützer James Lovelock (1919 – 2022) mit „Gaia“ ein „gesamtplanetarisches Wesen“ artikuliert. Mit „Sein und Sollen“ reflektiert Noller die vom deutsch-US-amerikanischen Philosophen Hans Jonas (1903 – 1993) eingeführten Ethiken der technologischen Zivilisation und die sich daraus ergebenden Verantwortlichkeiten. Es sind die Kantischen Aufforderungen, Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, und die Lebensfragen zu stellen: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“. Im Kapitel „Ethik der Natur“ vollzieht der Autor die Auseinandersetzung mit den beinahe festgemauerten, kontroversen Umwelt-Einstellungen, die sich als Leugnung des Klimawandels, Kritikunfähigkeit und -unwillen zeigen. Eine „Ethik des Anthropozäns“ als „dritte Natur“ unterliegt der notwendigen Mensch-Natur-Transformation. Der Autor formuliert vier Bedingungen: Die „erste Natur“ ist nicht mehr das Andere, sondern bleibt als anthropologische, existentielle Grundlage erhalten! – Menschliche Denk-, Handlungsräume und Zeit müssen mit anthropogenen Veränderungen und Katastrophen umzugehen lernen! – Es sind die kollektiven, globalen Zusammenhänge, die auf verantwortungsbewusstes, für- und mitsorgendes Gemeinschaftsdenken und -handeln angewiesen sind! – Das Gute und Böse als normatives Sein wird menschlich durch die Schaffung eines ökologischen Gleichgewichts!
Im Kapitel „Aufklärung des Anthropozäns“ wird die Bedingtheit und Herausforderung des Kantischen individuellen, lokalen und globalen kategorischen Imperativs zur normativen Selbstverständlichkeit. Es ist die „Ästhetik des Anthropozäns“, die den Paradigmenwechsel fordert: „Natur, das bin Ich!“. Im Kapitel „Phänomenologie des Anthropozäns“ zeigen sich Herausforderungen und Verdikte, wie z.B. leibliche und Schamgefühle (siehe dazu auch: Tobias Linnemann, Bildet Scham? 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30826.php). Es bedarf des metaethischen Denkens und Tuns, um ein anthropologisch ausgemachtes, ethisches Mensch-Naturverhältnis zu entwickeln und zu leben. Aus dem „Du sollst!“ muss ein „Ich will!“ werden. Mit dem Schlusskapitel „Ethos des Anthropozäns“ kommt zum Ausdruck, dass Visionen und Wirklichkeiten transhuman zusammengehören: Der Mensch wächst durch seine technologischen Entwicklungen über sich selbst hinaus und verändert seine Natur grundlegend; dahingehend, dass anthropozäne Tugenden als Selbstverhältnisse, Selbst- und Mitsorge wirksam werden.
Diskussion
Jörg Nollers „Überlegungen zur dritten Natur“ sind bei seinen Konstanzer Lehrveranstaltungen entstanden. Die essayistischen Diskurse über eine „Ethik des Anthropozäns“ zeichnen sich aus durch die Einbeziehung von theoretischen und praktischen, philosophischen Denk- und Reflexionsprozessen. Der Rückgriff darauf vermittelt parallele und kontroverse, kritische Bezüge zu Fragen, wie das geochronologische Zeitalter des Anthropozäns verstanden und gelebt werden kann. Es ist der unabdingbare, auf individuelle und kollektive Verantwortung des Menschen für gegenwärtige und zukünftige, menschen- und kosmoswürdige Existenz ausgerichtete Anspruch, den es zu verwirklichen gilt.
Fazit
Der Mensch zeigt im Anthropozän seine Natur- und Gestaltungsmacht. Sie wirkt positiv und negativ. Damit sie sich nicht unmenschlich und vernichtend auf Natur und Humanität auswirkt, bedarf es eines kritischen, anthropologischen Mensch-, Natur- und kosmischen Denkens und Handelns.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.09.2023 zu:
Jörg Noller: Ethik des Anthropozäns. Überlegungen zur dritten Natur. Schwabe Verlag
(Basel ) 2023.
ISBN 978-3-7965-4715-7.
Reihe: Schwabe reflexe.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31291.php, Datum des Zugriffs 20.01.2025.
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