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Steffen Mau, Thomas Lux et al.: Triggerpunkte

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.10.2023

Cover Steffen Mau, Thomas Lux et al.: Triggerpunkte ISBN 978-3-518-02984-8

Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. 540 Seiten. ISBN 978-3-518-02984-8. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 31,50 sFr.
Reihe: edition suhrkamp.

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Meinung und Widerspruch

Im philosophischen, antiken und aktuellen Diskurs wird deutlich, dass das Wissen über Meinungen differenziert betrachtet werden muss: Eine Meinung kann stabil, wahr und richtig, also gut und positiv, aber auch falsch, manipulativ, destruktiv, also böse und negativ sein. Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht, wie es in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ in Artikel 19 zum Ausdruck kommt: „Jedermann hat das Recht auf Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung…“. Die globale Ethik allerdings setzt voraus, dass Individuen und Kollektive Meinungen in anthropologischer, humaner, gerechter, gleichberechtigter, demokratischer Verantwortung ausdrücken.

Entstehungshintergrund und Autorenteam

Meinungen, Informationen, gemeintes und verfasstes Wissen sind grundsätzlich notwendig für Menschwerdung und -sein. Sie müssen dialogisch ausgetragen werden, wenn sie zu gemeinsam vereinbarten, gesetzlichen und geordneten Wertevorstellungen führen sollen; und sie sind erst recht notwendig, wenn Meinungen kontrovers diskutiert werden. Meinungsunterschiede bewirken nicht selten Konflikte und Konfrontationen; Meinungsmacht kann Ordnung und Unrecht schaffen. Der Kompromiss ist gefragt (Avisha Margalit, Über Kompromisse und faule Kompromisse, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​11536.php). Und die intellektuelle und gesellschaftspolitische Kompetenz, aus Meinungsverschiedenheiten gemeinsame, tragbare, entwickelte Entscheidungen zu akzeptieren. Diese Fähigkeit führt nicht grundsätzlich dazu, dass es in verfassten Gesellschaften keine Konflikte gibt; vielmehr besteht die Forderung, dass Meinungsunterschiede gerecht ausgetragen werden, und nicht Ideologien, ego-, ethnozentristische, rassistische und populistische Einstellungen zur Spaltung von Gesellschaften werden.

Der Soziologe Steffen Mau, der Sozialwissenschaftler Thomas Lux und der wissenschaftliche Mitarbeiter Linus Westheuser, alle an der Berliner Humboldt-Universität tätig, thematisieren eine wissenschaftlich anspruchsvolle, umfassende gesellschaftliche Zeitdiagnose. Sie stellen fest: „Die einen wollen das eine, die anderen das genaue Gegenteil. Es existiert eine Frontstellung widerstreitender Grundhaltungen; mehr noch, es wird ein kausaler Nexus zwischen beiden unterstellt“. Daraus entwickeln sich Weltbilder und Weltanschauungen, die nichts mehr gemein haben und keine Verständigung ermöglichen, sondern nur noch Gesinnungslager und Feindbilder erzeugen. Mit der Analyse sollen „Ungleichheitskonflikte in der Gegenwartsgesellschaft“ aufgezeigt werden. Die Autoren begeben sich dabei in die „Arena“ der lokalen und globalen, gesellschaftlichen Wirklichkeiten, indem sie fragen: „Wer streitet mit wem und worüber?“ – „Welche Bewusstseinsformen mit welchen Sozialprofilen finden wir vor?“ – „Welche Rolle spielen Klassenantagonismus?“. Sie veranlassten, dass 2022 das Infas-Institut eine repräsentative Umfrage zu Fragen von Ungleichheit und Konflikt durchführte. Die Heranziehung von weiteren Datenquellen und die von der Soziologie, den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften bereitgestellten Studien, Forschungsergebnisse, theoretischen Reflexionen und praktischen Analysen, führen schließlich zu der Antwort: Die im aufgeregten gesellschaftlichen, ideologisch und parteipolitisch aufgeheizten Diskurs, dass es sich bei der deutschen Gesellschaft (bereits) um eine gespaltene handele, muss korrigiert und relativiert werden. Die Autoren zeigen auf und fordern, sich der eigenen und gesellschaftlichen Identitäten zu versichern.

Aufbau und Inhalt der Studie

Neben der Einleitung, in der die Autoren, die differenzierten, soziologischen und interdisziplinären Analyse-Instrumente, Methoden und Aktivitäten darstellen und thematisieren, wird das Buch in die folgenden Themenbereiche gegliedert: Mit „Arenen der Ungleichheitskonflikte“ werden die menschengemachten, historischen und aktuellen sozialen Ungleichheiten in einer Gesellschaft dargestellt und gewertet. Natürlich: Konflikte gibt es überall! Sie können nicht bewältigt werden mit dem „Ohne mich!“, und schon gar nicht mit dem: „Hauptsache mir geht es gut!“. Die Ausdifferenzierung in „Oben-Unten-Ungleichheiten“, in die „Innen-Außen-Ungleichheiten“, die „Wir-Sie-Ungleichheiten“ und die „Heute-Morgen-Ungleichheiten“ bewirkt, dass die individuellen und gesellschaftlichen Konfliktwahrnehmungen auch differenzierter wahrgenommen werden können. Der ursprünglich im medizinischen und psychologischen Diskurs benutzte Begriff „Triggerpunkte“ wird soziologisch umgedeutet in die Beschreibung und Analyse von gesellschaftlicher Aufgeregtheit und Konfliktsituationen. Die „Gesellschaft der Empörten“ regt sich auf über Verhaltenszumutungen, Anforderungen und den Aufforderungen zum Paradigmenwechsel angesichts der lokalen und globalen Veränderungsprozesse. Es sind die Befürchtungen und Ängste, dass Freiheitsvorstellungen wie „Jeder kann machen, was er will!“ zum gesellschaftlichen Chaos führen. Die Frage des sozialen Raums und von sozialer Macht bei Ungleichheitskonflikten wird thematisiert und herausgearbeitet, dass „Klasse und Bildung ( ) von großer Relevanz für kontroverse Fragen in der deutschen Meinungslandschaft (sind) und übertreffen darin deutlich andere Merkmale wie Urbanität, Migrationshintergrund und Geschlecht“. Mit dem Kapitel „Affekt und Struktur“ setzen sich die Autoren damit auseinander, dass im individuellen und gesellschaftlichen Alltag Gefühle. Sympathien und Antipathien wirksam werden, die in den Zeiten der medialen Öffentlichkeiten und Entwicklungen rationales Bewusstsein und Einstellungen überdecken. Wir nähern uns mit dem Kapitel „Politisierung und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ einigen Lösungs- und Zielmöglichkeiten. Mit den anfangs gemalten unterschiedlichen Bildern vom Kamel und Dromedar, gewissermaßen als Sinnbilder der „Höcker“ als Konstrukt, Kontrast, Kontroverse oder Konflikt, wird die Frage nach der „Konfliktbefriedung“ oder „Konfliktbewältigung“ gestellt: „Verfügt die Gesellschaft über die Kapazitäten, Auseinandersetzungen nicht nur auszutragen, sondern auch zu befrieden?“.

Diskussion

Die Frage, wie es gelingen kann, dass in Gesellschaften nicht Meinungsmacht, sondern Meinungsvielfalt selbstverständlich sind, wird dann obsolet, wenn eine Gemeinschaft sich in Blöcke, in Parallelgesellschaften und Milieus aufteilt, die als Gesamtheit nicht mehr miteinander diskutiert und auseinandersetzt. Die politisch und dialogisch gefährliche Entwicklung, dass im Gesellschaftsdiskurs gegenseitige Meinungen von Teilen der Gemeinschaft nicht mehr wahr- und aufgenommen werden, gilt es zu überwinden. In diesem unhaltbaren, unmenschlichen Zustand befinden sich lokal und global Gesellschaften. Werden die Forschungsergebnisse wahrgenommen, oder sind „schlechte Nachrichten“ gut für Ideologen? Der überraschende Fund: „Die Bundesrepublik ist ein ziemlich einiges Land. Es gibt eine starke, ideologiefreie Mitte. In vielen gesellschaftlichen und politischen Fragen ticken die Menschen hier ähnlich, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort, Schulabschluss oder Gehalt“ (Anant Agarwala/Anna-Lena Scholz, Einiger als gedacht, in: DIE ZEIT, Nr. 41 vom 28. 9.2023, S. 39ff).

Fazit

Wir sind bei der historischen und aktuellen Frage gelandet, wie das individuelle und kollektive, gesellschaftliche Bewusstsein entstehen kann, dass der anthrôpos, der Mensch, ein „zôon politikon“ (Aristoteles) ist, der kraft seiner Vernunft und seiner Humanität individuell und kollektiv menschenwürdig, gut und gerecht leben kann.

Die auf 61 Seiten in der Studie aufgeführten Anmerkungen und das 39-seitige Literaturverzeichnis verweisen auf die wissenschaftliche, mit zahlreichen Tabellen, Skizzen und Abbildungen ausgestattete Arbeit. Es ist ein Handbuch, das im lokalen und globalen gesellschaftlichen Diskurs einen prominenten Platz einnehmen sollte.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1707 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245