Kerstin Helmstaedt, Lara Fößel: Wer bin ich und warum fühle ich mich anders?
Rezensiert von Armin Eberli, 14.02.2024

Kerstin Helmstaedt, Lara Fößel: Wer bin ich und warum fühle ich mich anders? Wie Medien die Identitätsentwicklung queerer Jugendlicher beeinflussen.
Tectum
(Baden-Baden) 2023.
188 Seiten.
ISBN 978-3-8288-4930-3.
D: 39,00 EUR,
A: 40,10 EUR.
Reihe: Young Academics: Soziale Arbeit - 4.
Thema
Die Identitätsentwicklung queerer Jugendlicher steht im Zentrum des vorliegenden Buches. Die Autorinnen gehen insbesondere der Frage nach, wie Medien die Identitätsentwicklung queerer Jugendlicher beeinflussen kann.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Titel ist eine Forschungsarbeit, welche im Rahmen der Reihe Young Academics als Band 4 der Reihe Soziale Arbeit im Tectum Verlag, veröffentlicht wurde.
Aufbau
Das Buch ist in 8 Kapitel unterteilt, ergänzt mit einem Vorwort von Prof. Dr. Stefan Borrmann und einem ausführlichen Literaturverzeichnis und einem informativen und umfangreichen Anhang.
Inhalt
Das einleitende Kapitel 1 beschäftigt sich mit queeren Lebenswelten. Es grenzt das Thema ein und weist darauf hin, dass sich die im Buch dokumentierte Arbeit spezifisch auf Jugendliche konzentriert, die sich als queer identifizieren oder sich in einem queeren Selbstfindungsprozess befinden (vgl. S 1). Die Autorinnen weisen darauf hin, dass es sich bei diesen Jugendlichen um eine besonders vulnerable Zielgruppe Sozialer Arbeit handelt. Sie verstehen Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession und stellen fest, dass Professionelle eine besondere Verantwortung gegenüber queeren Menschen haben. Gerade Jugendliche, die sich selbst als queer definieren, beschäftigen sich mit der im Titel des Buches gestellten Frage: Wer bin ich und warum fühle ich mich anders? Da Medien heute ein zentraler Bestandteil der Lebenswelt von Jugendlichen sind, wird dieser Aspekt besonders fokussiert (vgl. S. 7).
Ausgehend von dieser Ausgangslage stellen die Autorinnen folgende Forschungsfrage: „Wie können mediale Inhalte die Identitätsentwicklung von queeren Jugendlichen beeinflussen?“ Die Autorinnen stellen fest, dass der Frage, wie mediale Inhalte die Identitätsentwicklung von Jugendlichen beeinflussen, bisher wenig Beachtung geschenkt wurde. Insbesondere dann nicht, wenn es sich um Jugendliche handelt, die sich in einem queeren Selbstfindungsprozess befinden. Ziel der Arbeit ist es, „aus Sicht queerer Jugendlicher aufzuzeigen, ob oder wie mediale Inhalte, die LGBTQIA+-Themen aufgreifen, ihre Selbstwahrnehmung geprägt und sie in der Ausbildung ihrer Identität beeinflusst haben“ (S. 7).
Die Autorinnen beziehen verschiedene wissenschaftliche Literatur und einige Studienergebnisse in ihre theoretische Aufarbeitung ein. Zudem wurden Interviews mit experts-by-experience, also Expert:innen aus Erfahrung, durchgeführt. Diese Interviews ermöglichen einen Einblick in die Lebenswelten queerer Jugendlicher. Die Interviews und ihre Ergebnisse werden im empirischen Teil des Buches vorgestellt.
Im zweiten Kapitel werden die zentralen Begrifflichkeiten ‚Heteronormativität‘ und ‚Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – Queer sein‘ umfassend definiert.
Das Kapitel 3 „Identitätsentwicklung bei Jugendlichen“ ist in vier Unterkapitel gegliedert. Nach der Definition der Begriffe Jugend und Identität werden in Kapitel 3.3 theoretische Ansätze zum Identitätsbegriff und zur Identitätsentwicklung erläutert. Dabei werden das Werk Geist, Identität und Gesellschaft des Sozialpsychologen und Sozialphilosophen George Herbert Mead (vgl. Kap. 3.3.1, S. 18) und die Identitätsentwicklung nach Erik Homburger Erikson aufgearbeitet und anhand queerer Lebenslagen untermauert (vgl. Kap. 3.3.2, S. 21). Weitere theoretische Ansätze werden im Unterkapitel 3.3.3 erläutert. Hier wird die Thematik der Entwicklungsaufgaben beleuchtet. Dabei wird auf die Arbeiten von Robert J. Havighurst sowie Klaus Hurrelmann und Matthias Richter Bezug genommen (vgl. S. 26–32). Das Unterkapitel 3.3.4 befasst sich mit Identitätskonstruktionen in der Moderne. Es wird vertieft, „wie Identitätskonstruktionen im Spiegel des aktuellen Zeitgeistes in der heutigen Gesellschaft stattfinden können“ (vgl. S. 32). Im abschließenden Unterkapitel 3.4 wird der Selbstfindungsprozess queerer Jugendlicher näher erläutert und dargestellt.
Die Einflüsse queerer Medien auf die Identitätsentwicklung queerer Jugendlicher werden in Kapitel 4 thematisiert. Im einleitenden Unterkapitel 4.1 werden die Begriffe ‚Medien‘, ‚Online-Community‘ und ‚queere Medien‘ im Kontext der vorliegenden Publikation definiert. In den Unterkapiteln 4.2 und 4.3 werden die Mediennutzung (queerer) Jugendlicher und queere Medien als Ressource beschrieben. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass Medien mittlerweile zu einer eigenständigen Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche geworden sind (vgl. S. 49).
Bevor ab Kapitel 6 der empirische Teil der Arbeit dargestellt wird, wird in Kapitel 5 der theoretische Teil zusammengefasst und reflektiert. Die Autorinnen stellen fest, dass sich bei der theoretischen Aufarbeitung des Mediennutzungsverhaltens (queerer) Jugendlicher herausgestellt hat, dass ein Hauptfokus auf internetbasierten Medieninhalten liegt (vgl. S. 68).
Kapitel 6 ist den Experteninterviews gewidmet. Die Autorinnen haben sich nicht nur aufgrund des Mangels an einschlägigen Studien für eine empirische Arbeit entschieden. Es ging ihnen auch darum, die Chance zu nutzen, im Bereich der Sozialen Arbeit zu forschen und zusätzliche wissenschaftliche Beiträge im Bereich der LSBTQIA+-Forschung zu generieren. Im Folgenden wird zunächst das methodische Vorgehen, d.h. das Forschungsdesign, die Fragestellungen, das Ziel der Arbeit und die Hypothesen sowie die Erhebungs- und Auswertungsmethode und die Qualitätssicherung beschrieben (vgl. Kap. 6.1, S. 69–81). Aussagen zur Stichprobe und Erläuterungen zur Durchführung und zum Ablauf der Interviews sind ebenfalls Inhalt dieses Unterkapitels. Das Unterkapitel 6.2 widmet sich dem wichtigen Thema der Forschungsethik (vgl. S. 81–85). Die Auswertung der Interviewergebnisse wird in Unterkapitel 6.3 unter Berücksichtigung der im Anhang beigefügten, mittels qualitativer Inhaltsanalyse erstellten Themenmatrix erläutert.
Die Interpretation und Diskussion der Ergebnisse erfolgt in Unterkapitel 6.4 (vgl. S. 98–105), gefolgt von der Diskussion und Reflexion der Methodik in Unterkapitel 6.5 (vgl. S. 105–111). Die Autorinnen halten fest, dass die Forschungsfrage durch die durchgeführten Interviews beantwortet werden konnte. In Bezug auf die Methodik weisen die Autorinnen auf die Einschränkungen hin, die sich aus der doch recht kleinen Stichprobe und dem begrenzten Umfang einer Bachelorarbeit ergeben.
Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit werden in Kapitel 7 gezogen. Dabei wird auf die Bedeutung von queeren Jugendlichen als Zielgruppe für die Soziale Arbeit eingegangen (vgl. Kap. 7.1). Des Weiteren werden Anforderungen an die Fachkräfte der Sozialen Arbeit formuliert (vgl. Kap. 7.2). Mit Bezug auf Regenbogenkompetenz und Medienpädagogik werden konkrete Handlungsmöglichkeiten für die Praxis aufgezeigt (vgl. Kap. 7.3).
Das achte und letzte Kapitel beinhaltet die Zusammenfassung, ein Fazit und einen Ausblick. Die Autorinnen stellen fest, dass die Zielgruppe der queeren Jugendlichen auch in Zukunft für die Soziale Arbeit relevant sein wird. „Medien und queere Medieninhalte aktiv in die Praxis einzubeziehen, kann eine wirksame Interventionsmöglichkeit sein“ (S. 139). Eine große Ressource sehen die Autorinnen in der Ausbildung von Medien- und Regenbogenkompetenz der Fachkräfte. „Alle Jugendlichen verdienen es, in ihrer Identitätsentwicklung angemessen unterstützt und in ihren Selbstfindungsprozessen anerkannt und gesehen zu werden. Queere Jugendliche sollten sich nicht mit der Frage „Warum fühle ich mich anders?“, sondern mit der Frage „Wer bin ich?“ auseinandersetzen“ (S. 140).
Diskussion
Jugendliche, die sich als queer identifizieren oder sich in einem queeren Selbstfindungsprozess befinden, sind eine besonders vulnerable und bisher eher vernachlässigte Zielgruppe der Sozialen Arbeit. Die vorliegende Publikation greift diese Thematik in verdienstvoller Weise auf. Die durchgeführten theoretischen und empirischen Untersuchungen werden ausführlich und gut verständlich dargestellt.
Die Autorinnen weisen zu Recht darauf hin, dass der Frage, wie sich Medieninhalte auf die Identitätsentwicklung von Jugendlichen in queeren Selbstfindungsprozessen auswirken, bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Mit ihrer Studie und der vorliegenden Publikation tragen die Autorinnen dazu bei, diese Lücke zu schließen.
Den Autorinnen gelingt es, ein besseres theoretisches Verständnis der Identitätsentwicklung im Kontext queerer Medieninhalte zu entwickeln und damit verbundene Ressourcen für die Soziale Arbeit aufzuzeigen. Im Rahmen ihrer empirischen Arbeit haben die Autorinnen einen wichtigen Beitrag zur Sozialarbeitsforschung geleistet und die Chance genutzt, weitere wissenschaftliche Beiträge im Bereich der LSBTQIA+-Forschung zu generieren.
Besonders hilfreich für die Praxis sind die aufgezeigten konkreten Handlungsmöglichkeiten (Regenbogenkompetenz und Medienpädagogik). Fachkräfte der Sozialen Arbeit erhalten hier konkrete Anregungen und Hilfestellungen für ihre Arbeit.
Fazit
Die Identitätsentwicklung von Jugendlichen, die sich als queer identifizieren oder sich in einem queeren Selbstfindungsprozess befinden und der Einfluss von queeren Medien auf diesen Entwicklungsprozess stehen im Mittelpunkt dieser Forschungsarbeit. Neben einem fundierten und gut verständlichen Theorieteil wird die empirische Forschungsarbeit anhand von Experteninterviews erfahrungsbasiert aufgearbeitet. Besonders hilfreich für Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind die konkreten Handlungsmöglichkeiten für die Praxis.
Rezension von
Armin Eberli
dipl. Sozialpädagoge/Sozialarbeiter, MAS Leadership und Change-Management. Dozent, Standortleiter Zürich und Mitglied Leitung HF von Agogis, www.agogis.ch
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