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Esra Hack-Cengizalp, Melanie David-Erb et al. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungspraxis

Rezensiert von Dr. Olga Frik, 16.10.2025

Cover Esra Hack-Cengizalp, Melanie David-Erb et al. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungspraxis ISBN 978-3-7639-7307-1

Esra Hack-Cengizalp, Melanie David-Erb, Irene Corvacho del Toro (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungspraxis. wbv (Bielefeld) 2023. 256 Seiten. ISBN 978-3-7639-7307-1. 44,90 EUR.
Reihe: Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten.

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Thema und Aktualität

In Zeiten zunehmender Globalisierungsprozesse gewinnen translinguale Praktiken signifikant an Bedeutung. Individuen nutzen, verstehen und reflektieren in ihrem Alltag vermehrt unterschiedliche Sprachsysteme, wodurch sich heterogene Sprachenlandschaften herausbilden. Diese multilingualen Realitäten manifestieren sich in diversen gesellschaftlichen Bereichen – von Bildung und Technologie über Wirtschaft und Literatur bis hin zu Medizin und Freizeitgestaltung – und betreffen Menschen ungeachtet ihrer persönlichen Sprachkompetenzen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich für das Bildungssystem die zentrale Herausforderung, adäquate Antworten auf die sich kontinuierlich wandelnden individuellen und gesellschaftlichen Mehrsprachigkeitskonstellationen zu entwickeln. Es gilt, zeitgemäße pädagogische Konzepte zu entwerfen, die der dynamischen Entwicklung sprachlicher Diversität Rechnung tragen und diese konstruktiv in Bildungsprozesse integrieren. Mehrsprachigkeit stellt in der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur Deutschlands eine zunehmend prägende Realität dar. Besonders ausgeprägt zeigt sich diese Entwicklung in der jungen Generation, für die das Aufwachsen mit mehreren Sprachen zur selbstverständlichen sozialen Wirklichkeit geworden ist.

Mehrsprachige Bildungspraxis etabliert sich als didaktisches Konzept, das gezielt verschiedene Sprachen als Medium und Gegenstand des Lernens nutzt. In entsprechend gestalteten Lernumgebungen werden multilinguale Ressourcen sowohl zur Förderung kognitiver Prozesse als auch zur Artikulation sprachlicher, kultureller und sozialer Positionierungen eingesetzt. Dieses pädagogische Verständnis zielt primär auf die gleichzeitige Entwicklung individueller multilingualer Kompetenzen und die Förderung gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit.

Eine solche inklusive Perspektive auf Sprachenvielfalt besitzt das Potenzial, Akzeptanzmechanismen innerhalb Bildungsinstitutionen nachhaltig zu transformieren. Der bildungswissenschaftlichen Diskussion liegt dabei die Prämisse zugrunde, dass sich in der Bildungspraxis bereits ein translingualer Habitus manifestiert – eine grundlegende Haltung, die multilinguale Kommunikationsformen nicht nur toleriert, sondern aktiv praktiziert und fördert. Allerdings besteht hier eine deutliche Forschungslücke: Dieser gelebten Praxis mangelt es bislang an einer systematischen wissenschaftlichen Analyse und theoretischen Fundierung.

Allgemeine Charakterisierung des Buches

Der Sammelband analysiert die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und individuellen Sprachbiografien. Besonderes Augenmerk liegt auf den alltäglichen sprachlichen Anforderungen in pluralen Sprachwelten und deren Einfluss auf die Entwicklung und Transformation sprachlicher Fähigkeiten.

Der vorliegende Band untersucht aus multiperspektivischer Sicht die Notwendigkeit der Implementierung mehrsprachiger Praxen in schulischen und hochschulischen Bildungsräumen sowie in nicht-institutionalisierten Lernkontexten. Die Publikation leistet damit zweierlei: Sie reflektiert einerseits die fortschreitende sprachlich-kulturelle Diversifizierung moderner Gesellschaften und analysiert andererseits die bildungspolitischen sowie pädagogischen Potenziale einer konsequent mehrsprachig ausgerichteten Bildungspraxis in ihrer transformativen Wirkung.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung konzentriert sich auf folgende Kernfragen:

  • In welchem Maße finden die parallel zu Deutsch existierenden Sprachkompetenzen Berücksichtigung in institutionalisierten Bildungskontexten, und inwiefern bleiben diese Potenziale bislang ungenutzt?
  • Wie adäquat reflektieren gegenwärtige mehrsprachige Bildungskonzepte die spezifischen sprachlichen Anforderungen sowohl im schulischen Curriculum als auch in der beruflichen Qualifizierung?
  • Durch welche diagnostischen Verfahren können schriftsprachliche und kommunikative Fähigkeiten mehrsprachig aufwachsender Kinder und Erwachsener im Deutschen objektiv erfasst werden, und welche Fördermaßnahmen erweisen sich in der Praxis als nachhaltig wirksam?
  • Unter welchen strukturellen und pädagogischen Voraussetzungen kann eine wertschätzende Haltung gegenüber Mehrsprachigkeit entwickelt werden, die insbesondere auch Sprachen mit geringer gesellschaftlicher Anerkennung einschließt?

Herausgeberinnen

Corvacho del Toro, Irene Dr., Akademische Oberrätin Universität Siegen. Sprach‐wissenschaftlerin und Sprachdidaktikerin, Studium der Sprachlehrforschung und Anglistik an der Universität Hamburg. Promotion im Fach Germanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Orthografie, Rechtschreibschwierigkeiten und Rechtschreibstörung, Mehrsprachigkeit, Sprachförderung, Fachwissen von Lehrkräften, Konzeption und Evaluation von Lehrerfortbildungen.

David-Erb, Melanie Dr., PostDoc im Arbeitsbereich Literalität und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. Studium der Erziehungswissenschaften, Germanistik und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und der Université Lumière Lyon II, Promotion an der Ruhr-Universität Bochum im Bereich Sprache und Bildung im Kontext Afrikas. Forschungsschwerpunkte: Migration und Bildung, Sprache und Bildungsgerechtigkeit, transnationale Bildungslaufbahnen.

Hack-Cengizalp, Esra Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe Universität Frankfurt. Sprachwissenschaftlerin und Sprachdidaktikerin, Studium Deutsch als Fremdsprachenphilologie an der Universität Heidelberg. Promotion im Fach Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: u.a. Wortschatzerwerb im ein- und mehrsprachigen Kontext, Erwerb der Herkunftssprache, Didaktik der Mehrsprachigkeit.

Aufbau und Inhalte

Der vorliegende Band greift zentrale Aspekte auf, die für eine qualifizierte Betrachtung der mehrsprachigen Bildungspraktiken von Bedeutung sind.

Irene Corvacho del Toro, Melanie David-Erb und Esra Hack-Cengizalp geben im Vorwort eine Einführung in die Thematik und einen Ausblick auf Inhalte und Aufbau der Arbeit. In diesem Vorwort wird die Untersuchungsperspektive der Studie erläutert und in die Forschungslandschaft eingeordnet

Der Band setzt sich aus zwölf Fachtexten zusammen, die sich unterschiedlichen Aspekten der Thematik widmen.

Thöne und Kölling eröffnen den Diskurs mit einer kritischen Analyse von Ofelia Garcías Translanguaging-Konzept. Die Autorinnen rekonstruieren zentrale Argumentationslinien aus Garcías Werk und arbeiten heraus, wie sich in deren Arbeiten psycholinguistische Forschungsansätze mit gesellschaftspolitischen Positionierungen verbinden. Gleichzeitig identifizieren sie jene Kernelemente des Translanguaging, die für eine evidenzbasierte Bildungsforschung und inklusive Mehrsprachigkeitsdidaktik besondere Relevanz besitzen.

Wildemann, Döll und Brizőc thematisieren die komplexe Realität lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und deren Implikationen für testdiagnostische Verfahren. Sie problematisieren sowohl die konzeptionelle Unschärfe der Begriffe Mono- und Multilingualität als auch die mangelnde Validität von Referenzgruppen bei der Interpretation von Testergebnissen. Vor diesem Hintergrund plädieren sie für eine reflexive Diagnostik, die die Grenzen standardisierter Testverfahren stets mitberücksichtigt.

Böttjer und Plöger untersuchen mehrsprachige Bildungskontexte bei Schüler:innen mit geringen Deutschkenntnissen. Ihre ethnografischen Beobachtungen demonstrieren die Berechtigung paralleler und inklusiver Beschulungsmodelle und zeigen die bedeutende Rolle der Herkunftssprachen für das emotionale Wohlbefinden in der Eingewöhnungsphase.

Einen konkreten didaktischen Ansatz präsentieren Kurtz und Vasylyeva mit der mehrspaltigen Textverarbeitung (MeTa), einem Verfahren zur Förderung des Sachtextverständnisses ab der dritten Klassenstufe. Dieses linguistisch fundierte Konzept ermöglicht sowohl monolinguale als auch multilinguale Anwendungsvarianten.

Roeder und Kreß analysieren in ihrer Studie sogenannte Samstagsschulen und kommen zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass diese Einrichtungen zwar zur Entwicklung herkunftssprachlicher Kompetenzen beitragen, jedoch überwiegend monolinguale Unterrichtspraktiken perpetuieren. Die Untersuchung wirft die Frage nach der Wahrnehmung unterschiedlicher Bildungsräume durch mehrsprachig aufwachsende Kinder auf.

Lange, Huxel, Then und Pohlmann-Rother präsentieren Ergebnisse der BLUME II-Studie, die Diskrepanzen zwischen den Überzeugungen von Grundschullehrkräften und ihrer tatsächlichen mehrsprachigen Unterrichtspraxis aufzeigen. Die Autor:innen konstatieren einen dringenden Professionalisierungsbedarf in der Lehrkräftebildung.

Henning-Mohr und Karst untersuchen das literarische Angebot für mehrsprachige Kinder und kritisieren, dass viele mehrsprachige Kinderbücher Sprachen lediglich referenziell nebeneinanderstellen, anstatt Mehrsprachigkeit ästhetisch zu inszenieren. Als positive Gegenbeispiele führen sie Werke von Silei und Stanišić an.

Dube, Schwinning und Filipovic analysieren digitale Buchportale und identifizieren ein bislang ungenutztes Potenzial für mehrsprachige Literatur im Deutschunterricht. Sie bemängeln, dass multilinguale Praktiken oft ein Nebeneinander eher als ein authentisches Miteinander der Sprachen darstellen.

Schastak und David-Erb entwickeln Kriterien zur Analyse mehrsprachiger Bilderbücher und kommen zu dem Schluss, dass diese häufig essentialistische Sprachvorstellungen und Statushierarchien reproduzieren.

Kern untersucht in ihrer PRONET-Studie Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund und zeigt, wie deren eigene Schulerfahrungen die Entwicklung einer multilingualen Unterrichtspraxis sowohl befördern als auch behindern können.

Goltsev und Olfert belegen durch ihre Untersuchung mit 189 Lehramtsstudierenden, dass mehrsprachige Praktiken weder in der Hochschuldidaktik noch in der Fachdidaktik ausreichend verankert sind.

Keimerl et al. präsentieren schließlich ein hochschuldidaktisches Konzept für den Fremdsprachenunterricht und konstatieren, dass multilingualen Kompetenzen in Studienordnungen und Lehrplänen nach wie vor zu geringe Bedeutung beigemessen wird.

Zielgruppen

Die Publikation adressiert ein diverses Fachpublikum aus wissenschaftlichen und bildungspraktischen Kontexten. Zu den primären Zielgruppen zählen Forschende aus den Sprach- und Bildungswissenschaften, insbesondere aus den Bereichen Linguistik, Sprachlehrforschung und Fachdidaktiken. Darüber hinaus spricht der Band Lehrkräftebildnerinnen und Lehrkräftebildner sowie in der unterrichtlichen Praxis tätige Lehrpersonen an. Ebenfalls richtet er sich an Lehramtsstudierende und Studierende sprachwissenschaftlicher sowie pädagogischer Disziplinen mit erweitertem Interesse an Mehrsprachigkeitsforschung und deren praktischer Umsetzung in Bildungskontexten.

Diskussion

Im Fokus dieses Bandes stehen die dynamischen Prozesse sprachlichen Wandels und die Transformation sprachlicher Fähigkeiten in zunehmend mehrsprachigen Gesellschaften. Untersucht wird das komplexe Wechselspiel zwischen sich entwickelnden pluralen Sprachwelten und den individuellen sprachlichen Kompetenzen, wobei insbesondere die alltäglichen sprachlichen Herausforderungen und deren Bewältigung durch die Menschen analysiert werden.

Dieser Sammelband untersucht aus multidisziplinärer Perspektive die zunehmenden Forderungen nach der Implementierung mehrsprachiger Praxen in schulischen, hochschulischen und nicht-institutionalisierten Bildungsumgebungen. Die Publikation leistet dabei eine doppelte Diskursverortung: Sie reflektiert einerseits die fortschreitende sprachlich-kulturelle Diversifizierung gegenwärtiger Gesellschaften und analysiert andererseits systematisch die bildungspolitischen sowie pädagogischen Potenziale mehrsprachiger Lehr-Lern-Formate.

Während sich in der Bildungswissenschaft neuartige Konzepte der Mehrsprachigkeitsdidaktik etablieren, besteht die zentrale Forschungsaufgabe darin, die Wirkung mehrsprachigkeitssensibler Lernarrangements auf fachliche Kompetenzentwicklung, positive Persönlichkeitsbildung und gesellschaftliche Teilhabe in multilingualen Kontexten empirisch zu untersuchen. Die in diesem Band versammelten Beiträge leisten hierzu einen wesentlichen Beitrag, indem sie einerseits konkrete Umsetzungsvorschläge für mehrsprachige Bildungskonzepte entwickeln und andererseits deren Effektivität sowie methodische Instrumentarien kritisch evaluieren.

Die vorliegende Publikation hinterlässt einen insgesamt äußerst positiven Gesamteindruck. Die zusammengeführten Forschungsergebnisse und Analysen ergeben eine aufschlussreiche Lektüre, die eine wertvolle Bereicherung für die Fachdiskussion darstellt. Es gelingt den Autorinnen und Autoren in beeindruckender Weise, das komplexe Thema der Bildungsmehrsprachigkeit gleichermaßen praxisnah, theoretisch fundiert und empirisch abgesichert zu behandeln.

Fazit

Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Bandes bezieht sich auf Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten. Die vielfältigen Beiträge dieses Bandes machen deutlich, dass die Etablierung einer wirksamen Mehrsprachigkeitsdidaktik tiefgreifende Veränderungen in der Lehrkräftebildung, der Unterrichtsentwicklung und der bildungspolitischen Steuerung erfordert. Die Publikation erweist sich als fundierte Wissensbasis und inspirierende Quelle zugleich, die den genannten Zielgruppen neue Perspektiven für ihre wissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit eröffnen dürfte.

Rezension von
Dr. Olga Frik
Omsker Staatliche Universität für Agrarwissenschaften (benannt nach P.A. Stolypin), Omsk, Russische Föderation. Ehemalige Lehrbeauftragte und Gastwissenschaftlerin an der Leibniz-Universität Hannover
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Es gibt 48 Rezensionen von Olga Frik.

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ISSN 2190-9245