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Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Gestörte Bindungen in digitalen Zeiten

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 08.11.2023

Cover Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Gestörte Bindungen in digitalen Zeiten ISBN 978-3-608-98739-3

Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Gestörte Bindungen in digitalen Zeiten. Ursachen, Prävention, Beratung und Therapie. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 304 Seiten. ISBN 978-3-608-98739-3. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR.

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Thema

Spätestens seit der Corona-Pandemie dürften es die Letzten begriffen haben: Die Digitalisierung hat die zwischenmenschlichen Beziehungen in fast allen Lebensbereichen verändert. Deshalb wird in diesem Band untersucht, inwieweit die Intensität der Online-Beziehungen zu Bindungsproblemen oder sogar zu Störungen führt und wie in Beratungen oder Therapien damit umgegangen werden kann. Im Fokus stehen dabei zum Beispiel die Fragen

  • Wie verändert es Menschen, wenn sie im Internet versinken?
  • Welche Rolle spielt Einsamkeit und was macht Online-Dating oder Sexting mit uns?
  • Hat es für Babys Folgen, wenn Eltern öfter auf das Smartphone als in ihre Augen schauen?
  • Wie funktionieren digitale Therapien und wie gut sind sie?

Antworten auf diese aber auch auf weitere interessante als auch vor allem aktuelle Fragen werden von international renommierten Expert*innen diskutiert und beantwortet,

Autor:in oder Herausgeber:in

Karl Heinz Brisch ist der wohl profilierteste Experte in Deutschland für das Thema Bindung und hat bei Klett Cotta zahlreiche Titel dazu veröffentlicht. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie. Seine klinische Tätigkeit und sein Forschungsschwerpunkt umfassen den Bereich der frühkindlichen Entwicklung und der Psychotherapie von früh traumatisierten Menschen in allen Altersgruppen. Die Texte in diesem Band stammen von diversen Praktiker*innen und Forscher*innen.

Entstehungshintergrund

Im September 2022 fand unter der Leitung von Karl Heinz Brisch die 21. Internationale Bindungskonferenz statt, die unter dem Titel „Gestörte Bindungen in digitalen Zeiten – Ursachen, Prävention, Beratung und Therapie“ stand. Das Buch besteht aus der Verschriftlichung der Tagungsbeiträge. Das Buch richtet sich an Ärzt*innen aller Fachrichtungen sowie an Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, (Sozial- und Sonder-) Pädagog*innen, an Mitarbeiter*innen der Jugendhilfe sowie der Frühen Hilfen beziehungsweise grundsätzlich an alle, die mit suchtartigen, internetbasierten psychischen Störungen in Begleitung, Beratung, Diagnostik und Therapie befasst sind.

Aufbau und Inhalt

Digitale Mediensüchte

Christiane Eichenberg und Raphaela Schneider gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, ob und wenn ja welchen Zusammenhang es zwischen Bindungsstil und Internet-, Social-Media- und Smartphonesucht gibt. Dazu geben sie einen Überblick über den aktuellen Fortschungsstand. Als Quintessenz aus ihrem Beitrag stellen die Autorinnen die Hypothese auf, dass das Wissen über diese Süchte bei Therapeut*innen wesentlich mehr in Aus- und Fortbildung einfließen muss.

Bindungsstörungen bei Erwachsenen mit Internet- und Computerspielsucht

Bert te Wildt und Jan Dieris-Hirche beleuchten anhand eines systematischen Reviews, welche problematischen und durchaus auch pathologischen Bindungsphänomene bei der Entstehung und Manifestierung von Internet- und Computerspielsucht und der damit zusammenhängenden psychischen Erkrankungen eine Rolle spielen.

Das digitale Dilemma

Nathan Jones untersucht in seinem Beitrag, wie Internet-Pornografie und Hypersexualität mit Bindung im Zusammenhang stehen, und verdeutlicht das mit Fallbeispielen. Ohne zu viel zu verraten: Auch in diesem Themenkomplex spielt das „innere Kind“ durchaus eine gewichtige Rolle, die es zu beachten gilt.

Zum Bindungsverhalten der digitalen Jugend in Zeiten von Covid-19

Anhand zahlreicher Forschungsergebnisse stellen Stefania Muzi und Cecilia Serena Pace dar, warum die „pandemiebedingten sozialen Einschränkungen dramatisch[e]“ (S. 73) Wirkung in psychologischer Hinsicht gehabt haben und auch immer noch haben. Trotzdem könne es trotzdem durchaus so gesehen werden, dass die Pandemie „Aktivator und Herausforderung für das Bindungssystem“ (S. 80) gleichzeitig gewesen sei.

Was treibt Heranwachsende um?

Die Frage beantwortet Natasha Parent recht schnell: Es ist die Angst, etwas zu verpassen, was Jugendliche und Heranwachsende immer mehr in Richtung extensive Nutzung von Social Media-Angeboten treibt. Im weiteren Verlauf ihres Beitrages beleuchtet die kanadische Forscherin, was diese Angst aus bindungstheoretischer Sicht bedeutet.

„Bisher noch keine Likes!“

Dem Beitrag von Cassandra Alexopoulos liegt eine Studie zugrunde, die sich mit zwei Forschungsfragen auseinandersetzte: Nämlich zum einen, in welchem Ausmaß ängstliches Bindungsverhalten eine Moderationsvariable für „Matches“ in Dating-Apps ist; und zum anderen, wieweit das für ein vermeidendes Bindungsverhalten gilt.

Der Einfluss von Medien auf die Mentalisierungsfähigkeit

Jan von Loh geht in seinem Beitrag der der Frage nach, welche Bedeutung die Exploration von Gewohnheiten bezüglich der Mediennutzung für die therapeutische Beziehung hat.

Smartphones – wie sehr stressen die ständigen Unterbrechungen unsere Babys?

Gerade in der Kinder- und Jugendhilfe ist der hier von Beate Priewasser und Antonia Dinzinger untersuchte Aspekt von großer Bedeutung. Denn oft scheinen junge Mütter, mehr mit dem Handy als mit ihren kleinen Kindern in Kontakt zu sein. Hier scheint eine differenzierte Betrachtung der individuellen Situation das Mittel der Wahl zu sein.

Bildschirmmedien im Fokus der Elternzusammenarbeit

Elisabeth Denzl und Paula Bleckmann fokussieren sich in ihrem Beitrag auf Grundlagen, Herausforderungen und einen ressourcenorientierten Handlungsweg für die frühpädagogische Praxis.

Die therapeutische Beziehung in digitaler Psychotherapie

Durch die Corona-Pandemie ist auch das Thema der digitalen Psychotherapie in den Fokus der Fachwelt gerückt. Maria Steinhoff und Harald Baumeister untersuchen, wie es um diese neue Form der Psychotherapie bestellt ist und wie es dabei gelingen kann, eine gute therapeutische Beziehung zu den Patient*innen aufzubauen.

„Innocence in Danger“ oder warum die Vermittlung digitaler Beziehungskompetenz so wichtig ist

Als Vorständin der Kinderschutzorganisation Innocence in Danger ist Jutta von Weiler profunde Fachfrau für die Prävention sexualisierter Gewalt an Minderjährigen. Sie macht eindrucksvoll deutlich, warum es wichtig ist, dass Kinder digitale „Beziehungen“ eingehen – das aber gut vorbereitet auf den Internet-Alltag und seine Gefahren. Um das zu können, müssen auch die Erwachsenen informiert sein, weshalb die Autorin prägnant auch die wichtigsten Begrifflichkeiten erläutert.

Young Carers: „Ich bin verborgen, nehmt mich wahr“

Unter Young Carers werden pflegende Kinder und Jugendliche subsumiert, die obwohl minderjährig, regelmäßig chronisch kranke Verwandte pflegen. In Deutschland sind das rund eine halbe Million Personen. Wolfgang Foltin und Lea Dreissen versuchen, auf eine fast unsichtbare Personengruppe hinzuweisen, und für diese Wertschätzung zu generieren.

„Träume im Klassenzimmer erzählen“

Eva Pattis Zoja informiert über ein Projekt, dass es sich zum Ziel gemacht hat, Kinder im Grundschulalter vor den Folgen virtueller Reizüberflutung zu schützen.

Stationäre Intensiv-Psychotherapie von traumatisierten Jugendlichen mit extremer Internet-Sucht

Das letzte Kapitel ist dem Herausgeber selbst vorbehalten, der in gewohnter Klasse Theorie und praktische Erfahrungen miteinander verknüpft. So erklärt er zum Beispiel, welchen Zusammenhang es zwischen Bindungstraumatisierung, Dissoziation und Internet-Sucht gibt.

Diskussion

Der Band gibt wichtige Anregungen für all jene Fachkräfte aus den verschiedensten Bereichen, die mit der Prävention in Bezug auf Störungen im Bereich Bindung und/oder Medien- bzw. Online-Konsum zu tun haben. Das große Plus des Buches liegt darin, dass es jene anspricht, die eher im Rahmen der Prävention unterwegs sind, aber auch diejenigen, die mit Menschen in Kontakt kommen, die bereits „geschädigt“ sind. Das muss gar nicht einmal im therapeutischen Setting sein, denn entscheidend ist, dass Störungen, die aus Problemen in der Bindungsentwicklung und suchtartiger Internet-Nutzung entstanden sind, zeitig erkannt werden und eine primäre Prävention möglich wird. Solche frühen Hilfestellungen sind besonders dann notwendig und wichtig, wenn es schon bei den Eltern zu suchtartiger Nutzung des Smartphones und von Social Media kommt und die Eltern-Kind-Interaktionen hierdurch gestört werden. Dabei gelingt es den Autor*innen auf fachlich –sowohl theoretisch als auch praktisch – hohem Niveau das dringend notwendige Wissen zu vermitteln, um Probleme zum einen zu erkennen und zum anderen im besten Falle wirkungsvoll zu bekämpfen. Dass es dafür wichtig ist, auch Ursachen zu erkennen, sollte einleuchten. Spannend ist es deshalb, dass die Leser*innen den auf den ersten Blick vielleicht gar nicht vermuteten Zusammenhang zwischen problematischem Online-Konsum und Bindungsverhalten zu verstehen. So gelingt es, neue fachliche Horizonte zu erschließen.

Fazit

Wo Brisch draufsteht, ist eben auch Brisch drin. Auch wenn er diesmal fast ausschließlich als Herausgeber fungiert, liefert das Buch genau das, was geneigte Leser*innen erwarten, wenn sie auf ein Cover schauen, auf dem der Name steht: Fundierte Beiträge, die Theorie und Praxis verknüpfen und viel Erkenntnisgewinn generieren

Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 08.11.2023 zu: Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Gestörte Bindungen in digitalen Zeiten. Ursachen, Prävention, Beratung und Therapie. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-608-98739-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31304.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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