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Peter Schulz: Das widersprüchliche Selbst

Rezensiert von Sabine Hollewedde, 18.10.2023

Cover Peter Schulz: Das widersprüchliche Selbst ISBN 978-3-99136-028-5

Peter Schulz: Das widersprüchliche Selbst. Eine kritische Theorie kapitalistischer Subjektivation. Mandelbaum (Wien) 2023. 480 Seiten. ISBN 978-3-99136-028-5. D: 34,00 EUR, A: 34,00 EUR.

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Thema

Gesellschaftliche Strukturen und Anforderungen formen die Subjekte, ihr Denken und Fühlen. In der Tradition der Kritischen Theorie wurde von Marx ausgehend vielfach untersucht, wie sich der Kapitalismus auf die Bildung von Subjektivität auswirkt. Allerdings, so der Autor, gebe es bislang keine systematische Darstellung dessen, was er kapitalistische Subjektivation nennt. Diese möchte Peter Schulz mit seinem vorliegenden Buch, das auf seiner 2022 veröffentlichten Dissertation aufbaut, liefern. Von Marx über den Marxismus, marxistische Psychoanalytiker und schließlich die Kritische Theorie rekonstruiert Schulz Theorien der Subjektivierung. „Das Ergebnis dieser Rekonstruktion besteht darin, einerseits die jeweiligen Theorien einer kapitalistischen Subjektivität sans phrase herauszuarbeiten und andererseits den jeweiligen Zeitkern der Theorien zu erfassen, also zu differenzieren, was an ihren Aussagen spezifisch an die jeweilige Phase des Kapitalismus gebunden ist.“ (S. 8) Wichtig ist es dem Autor dabei, dass Subjektivität nicht deterministisch durch die gesellschaftlichen Strukturen hinlänglich bestimmbar ist, sondern dass sie etwas beinhalte, was potenziell über die Verhältnisse hinausweise. Daraus resultiert die begriffliche Unterscheidung zwischen „Subjektivation“, worunter die gesellschaftliche Formung der Subjekte verstanden wird, und „Subjektivierung“, welche „für den potenziellen Prozess der Realisierung der über die Verhältnisse hinausweisenden Potenziale des Subjekts verwendet werden“ soll, „in der die Subjekte tatsächlich von Objekten zu Subjekten des gesellschaftlichen Prozesses werden.“ (S. 12)

Autor

Peter Schulz (Dr. phil.) lebt und arbeitet in Jena. Nach dem Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie promovierte er am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst neben einer Einleitung, einem Fazit und einem Epilog fünf Hauptkapitel, die wesentlich theoriegeschichtlich geordnet sind und so aufeinander aufbauen. Nach einer einleitenden Verortung des Themas beginnt die theoretische Rekonstruktion mit 2. Karl Marx: Theorie des Gattungswesens und Kritik der politischen Ökonomie. Schulz vertritt dabei die These, dass das Marx’sche Werk drei Dimensionen einer Theorie der Subjektivation aufweise, nämlich „als Theorie des Gattungswesen, als Theorie der Entfremdung und als Theorie des revolutionären Subjekts.“ (S. 24) Entsprechend geht Schulz davon aus, dass das Marx’sche Werk eine kontinuierliche Entwicklung aufweise und die drei Dimensionen in allen Schaffensphasen relevant gewesen seien. Ausgangspunkt einer „dialektisch-materialistischen Theorie des Bewusstseins“ sei für Marx das Arbeitsvermögen. Die Universalität des Menschen, die Zwecksetzung und -realisierung in der Arbeit, mache diese zur Grundlage des Begriffs des Gattungswesen. Dialektisch sei die Marx’sche Theorie des Subjektivation, weil sie zugleich einen Widerspruch begründe, in welchem das Bewusstsein zu den gesellschaftichen Verhältnissen stehe und so auch der Ausgangspunkt dafür sei, „gesellschaftliche Verhältnisse als vom Menschen änderbar zu verstehen. Das Arbeitsvermögen bildet bei Marx also die Grundlage der Theorie des Gattungswesens, der Theorie der Entfremdung und damit der Theorie kapitalistischer Subjektivation sowie Ansätze zur Theorie des revolutionären Subjekts als materialistisch-dialektische Theorie des Bewusstseins.“ (S. 34) Die Theorie des Gattungswesen stellt Schulz hinsichtlich der Aspekte Reflexivität, Leiblichkeit, Sozialität und historische Formiertheit vor, woraufhin in einem Exkurs die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie umrissen wird. Dabei werden Grundbegriffe wie Ware, Tauschwert, Gebrauchswert, Wert, Kapital und Arbeit eingeführt. Insbesondere die Begriffe „sachliche Herrschaft“ und „Charaktermaske“ (S. 69) verweisen auf das Thema der Subjektivation. Im Anschluss wird zwischen der Subjektivation in der Arbeit (S. 71 ff.) und derjenigen im Tausch (S. 83 ff.) unterschieden. Während die Subjektivation in der Arbeit vor allem repressiv und durch Entfremdung zu bestimmen sei – der Autor sieht hierin eine Linie von Marx’ „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ bis zum „Kapital“ –, beinhalte die Subjektivation im Tausch, die zentral durch den Warenfetisch bestimmt sei, die „produktive Seite der Subjektivation“. (S. 83) Der Tausch, so die These von Schulz, wirke auf das Bewusstsein zunächst befreiend. „[F]alsche[] Vorstellungen und diese falschen Vorstellungen stützende[] Emotionen“ würden durch ihn zerstört und „erstmals nüchternes Denken und Fühlen ermöglicht.“ (S. 85) In der „Kritik der politischen Ökonomie“ zeige sich aber anhand des Fetischbegriffs, dass er zugleich eine „Mystifikation“ mit sich bringe, die nun das Bewusstsein formiere. Diese Mystifikation wirke produktiv auf das Bewusstsein „und ist Voraussetzung für Autonomie, wechselseitige Gleichgültigkeit und aufklärerische Werte zugleich.“ (S. 87) Das autonome Subjekt, das mit sich identisch ist, und die wechselseitige Anerkennung als gleiche Personen seien „die Grundaspekte der Tauschsubjektivität“ (S. 89). Zugleich ist allerdings dieses Subjekt nicht Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern deren Objekt, woraus ein „Doppelcharakter der Subjektivität“ resultiere: „als autonomes Subjekt und ohnmächtiges Objekt des Tausches wird unter den Bedingungen der Tauschsubjektivation“ diese zu einem Widerspruch. (S. 90) „Subjektivierung durch Arbeit und durch Tausch sind für Marx also die zentralen Subjektivationsweisen im Kapitalismus. Subjektivation durch Arbeit wird dabei als Entfremdung, Subjektivation durch den Tausch als Fetischismus betrachtet, Erstere betont den repressiven, Zweitere als objektive Gedankenform den produktiven Charakter der kapitalistischen Subjektivation.“ (S. 93) Unter der Zwischenüberschrift „Ansätze einer Theorie revolutionärer Subjektivierung“ behandelt der Autor daran anschließend drei Ansätze, mit denen Marx die „Transformation der kapitalistischen Subjektivität zu einer ihrer Praxis widersprechenden Subjektivität“ (S. 93) darstelle. Die drei Ansätze werden insbesondere dem „Kommunistischen Manifest“, den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ und schließlich aus dem „Kapital“ entnommen.

Im dritten Kapitel Von Marx zum Marxismus geht es um die Entwicklung des Marxismus vor dem Hintergrund des Imperialismus und hier speziell die Diskussionsstränge, die sich an Lenin und Luxemburg festmachen lassen. Daraufhin geht das vierte Kapitel 1923: Die Entstehung des westlichen Marxismus vom ‚doppelten Ausgangspunkt‘ aus, nämlich der Krise des Imperialismus, welche der Erste Weltkrieg markierte, und zugleich der Krise der Arbeiterbewegung, der Entwicklung des westlichen Marxismus nach. Unter der Überschrift „Der Warenfetisch als Kern kapitalistischer Subjektivation“ werden prägende Arbeiten von Karl Korsch, Isaak I. Rubin, Georg Lukács, Jewgeni B. Paschukanis und Alfred Sohn-Rethel vorgestellt. „Ihre gemeinsame These war, dass die kapitalistischen Basisformen der Vergesellschaftung, der Tausch (Rubin), die Lohnarbeit (Lukács), der Vertrag und das Recht (Pschukanis) sowie, daraus entwickelt, das wissenschaftliche und alltägliche Denken (Korsch, Sohn-Rethel) eine bestimmte Subjektform erzeugen, weil sie notwendig ist, um an diesen Basisformen zu partizipieren und somit zu überleben. Die Subjektform der kapitalistischen Subjektivation ist dabei für alle fünf Autoren geprägt von Abstraktionen“. (S. 154) Nicht nur die kapitalistische Subjektivation – also die Formung für die kapitalistische Herrschaft –, sondern auch „revolutionäre Subjektivierung“ (S. 154) ist Gegenstand der Theorien und ihr Ziel. Schulz greift vor allem den Begriff des Klassenbewusstseins bei Lukács auf, welches nicht schon per se revolutionär sei, sondern es im Prozess der Bewusstwerdung werde. „Klassenbewusstsein ist also kein analytischer Befund über die Subjektivation im Kapitalismus, sondern ergibt sich aus der Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (S. 158) Unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Rolle der Partei bei der Herstellung eines „identischen Subjekt-Objekt der Geschichte“ zeigen sich bei Lukács und Sohn-Rethel. „Während Sohn-Rethel also die Vorstellung hat, jede Einzelne objektiviert sich selbst direkt entlang der Maßgabe mathematischer Rationalität, vertritt Lukács die Vorstellung, dass die Partei als ausführendes Organ eines von ihr selbst bestimmten Gesamtwillens die Arbeiterinnen anhand ihrer eigenen Maßgabe objektiviert.“ (S. 163)

Im darauffolgenden Kapitel widmet sich der Autor der aufkommenden Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus. Unter dem Titel Marxistische Psychoanalyse: Charakterologie als Kritik der Gesellschaft stellt Schulz zunächst die Ausgangssituation dar und gibt eine Einführung in zentrale Begriffe der Freud’schen Triebtheorie sowie der Entwicklung derselben. In den 1920er Jahren versuchten einige Marxisten, die Trieblehre für eine marxistsiche Gesellschaftskritik fruchtbar zu machen. Zu nennen sind hier Bernfeld, Reich, Fromm und Fenichel. Ihnen ging es darum, die Institutionen zu untersuchen, die „zwischen der kapitalistischen Struktur und dem subjektiven Bewusstsein vermitteln“ (S. 165), um zu erklären, warum die Revolutionen gescheitert sind. Die Triebtheorie wird dazu historisiert, um sie speziell für die Erklärung kapitalistischer Subjektivation nutzbar zu machen. Durch Reich und Fromm wird der Begriff des Charakters als kritisches Analyseinstrument weiterentwickelt und verschiedene Charaktertypen werden differenziert.

Damit ist eine Grundlage gelegt für die Weiterentwicklung kritischer Theorie, wie sie das Institut für Sozialforschung um Max Horkheimer projektierte. Im sechsten Kapitel Das Institut für Sozialforschung: Kritische Theorie der Gesellschaft stellt Schulz zunächst die Entstehungshintergründe und personellen Verbindungen des entstehenden Instituts für Sozialforschung dar. Für Max Horkheimer war die Marx’sche Theorie die Grundlage für eine kritische Theorie der kapitalistischen Gesellschaft und auch „die Grundlage für die Arbeit an einer Theorie kapitalistischer Subjektivation, die im Fokus der Kritischen Theorie steht.“ (S. 228) Der Autor führt in Fundamente Kritischer Theorie ein, bevor es speziell um die „Verbindung von Marx’ und Freuds dialektisch-dynamischen Theorien des Menschen“ geht. (S. 240) Wesentlich ist, dass der Mensch in der Kritischen Theorie mit Marx „nicht bloß [als; S.H.] (statischer) Ausgangspunkt, sondern ebenso [als; S.H.] Produkt menschlicher Geschichte“ begriffen wird. (S. 241) Für die Aufnahme der Freud’schen Triebtheorie wird insbesondere Marcuses Buch „Triebstruktur und Gesellschaft“ herangezogen (S. 244 ff.), in welchem Marcuse den Todestrieb historisiert und auf kapitalistische Subjektivation bezieht. Des Weiteren rückt für Adorno, Horkheimer und Marcuse das Individuum als ein bedürftiges, leibliches ins Zentrum der Betrachtung. Sowohl bei Adorno als auch bei Marcuse finden sich ausführliche Auseinandersetzungen mit dem Begriff des Bedürfnisses. „Das Bedürfnis ist also immer gesellschaftlich formiert, aber nicht durch die Natur der Gesellschaftlichkeit mit Versagung und Leid verbunden, sondern durch ihre bisherige Form als Klassengesellschaft.“ (S. 251) Der Wandel kapitalistischer Phasen bedinge auch einen Wandel in der Subjektivation. So wird im Näheren die Subjektivation im integrierten Kapitalismus untersucht. Schulz erläutert zunächst den Übergang vom „liberalen Kapitalismus zum ‚Monopolkapitalismus‘“, wobei sich vor allem die Rolle des Marktes und die Stellung des Bürgertums änderte. Diskussionen innerhalb des Instituts für Sozialforschung zur Rolle des Staates und zur Erklärung des Nationalsozialismus (Neumann, Gurland, Kirchheimer und Marcuse auf der einen Seite, Pollock, Horkheimer, Adorno und Löwenthal andererseits) werden hier ausführlich aufgegriffen. Die Untersuchungen der Kritischen Theorie zum Geschlechterverhältnis werden ebenso erläutert wie die zum autoritären Charakter und zur Kulturindustrie. Schließlich geht es um den „Zerfall des Subjekts: neue Form narzisstischer Ichschwäche“ (S. 305 ff.), die an Stichworten wie Halbbildung, Ticketmentalität, Eindimensionalität und einem Verlust von Erfahrungsfähigkeit erläutert wird. Das Kapitel zur Kritischen Theorie schließt ab mit einer Alternative: „Neue Art der Barbarei oder wahrhaft menschlicher Zustand“. (S. 315 ff.) Schulz argumentiert, dass die Kritische Theorie durchaus „Ansätze zur revolutionären Subjektivierung“ entwickele. „Ihre Revolutionstheorie ist davon geprägt, dass die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Revolution – im marxschen Sinne der notwendigen Entfaltung der Produktivkräfte – gegeben sind, es im integrierten Kapitalismus aber an der subjektiven Seite der Revolution, ‚Menschen, die wissen, daß sie selbst die Subjekte und Handlanger ihrer Unterdrückung sind (Horkheimer)‘, mangelt.“ (S. 315) Stattdessen entwickele sich ein gesellschaftlicher Wahn, welcher die Form des Antisemitismus annehme. „Erst im Antisemitismus findet die regressive Subjektivierung zu ihrer eigentlichen Form der ‚bürgerlichen Pseudorevolution‘, deren Subjektivierungspraxis der ‚Mob‘ und sein Pogrom ist.“ (S. 317) Ausführlich geht der Autor auf den Antisemitismusbegriff ein. Damit ist die eine Alternative benannt: gesellschaftlicher Wahn und Barbarei. Doch auch eine wahrhaft revolutionäre Subjektivierung sei möglich. Dies fasst Schulz unter „Vernunft – die zu verwirklichende Natur des Menschen“. (S. 324) „Ziel der Kritischen Theorie ist also die Aufhebung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft hin zu einem ‚Verein freier Menschen‘ (Horkheimer/​Adorno), den sie politische als ‚Rätedemokratie‘ (Adorno) bestimmen“. (S. 324) Und der Ausgangspunkt für diese Theoretiker war die Frage, warum die Menschen, wenngleich die Produktivkräfte entwickelt sind, nicht die kommunistische Revolution verwirklichen. „Im Zentrum steht die Frage, wie, ausgehend von der Theorie kapitalistischer Subjektivation des autoritären Charakters und der neuen Form narzisstischer Ichschwäche, ein Subjekt hervortreten kann, das ‚die falsche Lust der masochistischen Geborgenheit in dem starken Schutz einer heteronomen Macht nicht mehr‘ erlangen will, sondern das ‚seiner mächtig wäre, wirklich so autonom, wie es bisher immer nur sich aufspielte‘ (Adorno).“ (S. 325) – Drei Ansätze zur Lösung dieser Frage stellt Schulz vor: 1. „einen inneren Kern menschlicher Natur als unbeschädigt zu setzen“, womit Adorno und Marcuse hinter ihre eigenen Einsichten über die Dynamik der menschlichen Natur zurückfielen. 2. Der „Ansatz, dass die kapitalistische Subjektivation, nur ausreichend zugespitzt, den Ausgangspunkt für ein dialektisches Umschlagen in revolutionäre Subjektivierung biete“ (S. 325), ein Ansatz, der von Adorno „in den 1950er Jahren“ deutlich kritisiert wird, da sich gezeigt habe, „dass der ‚neue Barbar‘ keineswegs auf eine emanzipatorische Subjektivierung festgelegt ist“. (S. 326) Einzig der dritte Ansatz könne weiterverfolgt werden: „revolutionäre Subjektivierung als Realisierung der noch unverwirklichten Natur des Menschen, jener ‚Gattung, die als Natur doch mehr ist als bloße Natur‘ (Horkheimer/​Adorno).“ (S. 326) Protestbewegungen, Kunst und Erziehung werden insbesondere für Marcuse und Adorno bedeutsam für eine revolutionäre Subjektivierung. „Marcuse und auch Adorno […] schließen an Schillers Begriff des Spiels an und verbinden ihn mit ihrer psychoanalytischen Theorie des Menschen“. (S. 333) Bezogen auf Politik widerspricht der Autor dem verbreiteten Vorurteil, dass die Kritische Theorie politische Praxis ablehne. Vielmehr kritisiere sie „eine falsche Praxis, wie sie sie etwa in der Politik der Sowjetunion, der Politik kommunistischer Parteien (Marcuse) oder bei dem Versuch ausdrückt, ‚Modelle, die nicht einmal im bolivianischen Busch sich bewährten‘ (Adorno), als Stadtguerilla auf Westeuropa und Nordamerika zu übertragen.“ (S. 335)

In seinem Fazit fasst Schulz die Ergebnisse seiner Untersuchung noch einmal übersichtlich zusammen. Er arbeitet zwei Dimensionen kapitalistischer Subjektivation heraus. Die erste Dimension ist bestimmt durch „Anforderungen der Praxis“. Diese Dimension umfasst den Tausch als „Subjektivation der gleich Gültigen“ (S. 345), die Arbeit als „verdinglichende Subjektivation“ (S. 349), das Recht als „allgemeiner Ausdruck der Freiheit“ (S. 352) und die Rackets als eine „Subjektivation ohne Vermittlung durch Markt und Recht“. (S. 356) Die zweite Dimension ist mit dem Sozialcharakter bezeichnet. Hier ist zu unterscheiden zwischen dem autoritären Charakter (S. 359) und einem „neue[n] Typ narzisstischer Ichschwäche“. Abschließend werden „Bewältigungsformen und Subjektivierung“ zusammengefasst, wobei hier wieder unterteilt wird in zunächst regressive Formen (Sexismus, Rassismus, Antisemitismus) und schließlich eine revolutionäre Subjektivierung als „Befreiung der Individuen“. (S. 374)

In einem Epilog: Der Zerfall der Kritischen Theorie zeichnet der Autor die Entwicklung der Kritischen Theorie nach dem Tod von Adorno, Horkheimer und Marcuse nach. Ihr Programm sei kaum noch verfolgt worden, vielmehr zersplittert in Einzelbereiche. Schließlich begründet Schulz schlüssig, warum die sog. Frankfurter Schule, die sich um Habermas formierte, nicht zur Kritischen Theorie gezählt werden kann, was im Kern damit zu begründen ist, dass Habermas „Marx für veraltet“ (S. 402) halte und damit das gesellschaftstheoretische Zentrum der Kritischen Theorie verabschiedet. Auch Autor*innen wie Axel Honneth, Hartmut Rosa und Rahel Jaeggi werden hier referiert und substanziell kritisiert. Schulz zeigt damit nachdrücklich, wie weit sich diese Autor*innen der Frankfurter Schule von der Kritischen Theorie, wie sie u.a. von Horkheimer, Adorno, Marcuse intendiert war, entfernt haben.

Diskussion

Peter Schulz legt mit diesem Buch eine umfangreiche und beeindruckende theoriegeschichtliche Darstellung marxistischer Theorien über das Subjekt und Subjektivierung im Kapitalismus vor. Verdienstvoll ist diese Aufarbeitung der Entwicklung einer kritisch-theoretischen Subjekttheorie allemal, die zudem auch als eine Einführung in den westlichen Marxismus und die Kritische Theorie gelesen werden kann. Das umfangreiche Literaturverzeichnis bezeugt, wie breit der Autor in die Literatur eingestiegen ist und die verschiedenen theoretischen Debatten behandelt.

Eine auf den ersten Blick ‚bloß‘ terminologische Frage mag sich stellen angesichts des auch titelgebenden Ausdrucks ‚kapitalistische Subjektivation‘. Der Autor begründet in der Einleitung, dass und warum er zwischen Subjektivierung und Subjektivation unterscheidet. ‚Subjektivierung‘ soll dabei für ein mögliches emanzipatorisches Potenzial stehen, welches über die Verhältnisse hinausweise, während ‚Subjektivation‘ die Formung der Subjekte in und durch die kapitalistische Gesellschaft meint. Irritierend ist zunächst, dass der Begriff ‚Subjektivation‘ nicht dem Kontext Kritischer Theorie entstammt, sondern vor allem mit Judith Butler verknüpft wird, die hier aber nicht als Referenz genannt wird. Das an sich muss selbstredend kein Makel sein, aber es zeigt sich doch bei näherer Betrachtung, dass sich hierin ein mögliches Problem in der Sache anmeldet. Für den Subjektbegriff der Kritischen Theorie ist der Subjektbegriff der Klassischen Deutschen Philosophie der Ausgangspunkt. Sowohl Adorno als auch Marcuse beziehen sich zentral – kritisch – auf Kant und dessen Subjektbegriff. Eine Auseinandersetzung aber mit Kant (und der Klassischen Deutschen Philosophie) findet sich bei Schulz nicht. Er legt den Fokus – und das ist völlig legitim – auf soziologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Dennoch: Die Differenzierung zwischen Subjektivation und Subjektivierung, welche Schulz unter Verweis auf ein Zitat von Christine Zunke, die an der Stelle den (philosophischen) Subjekt- und Freiheitsbegriff gegen einen Determinismus hochhält, einführt (S. 12), deutet an, dass ein rein soziologisch bestimmter Subjektbegriff nicht hinreichend ist. Sind Subjektivation und Subjektivierung zwei unterschiedliche Prozesse? Laufen sie zusammen ab?

Adorno fasst die gesellschaftliche Formung der Individuen wesentlich als Herrschaft, und zwar als kapitalistische Herrschaft, die als Integration auftritt: „Die Anpassung der Menschen an die gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse, welche die Geschichte ausmacht und ohne die es den Menschen schwer geworden wäre, fortzuexistieren, hat sich in ihnen derart sedimentiert, daß die Möglichkeit, daraus ohne unerträgliche Triebkonflikte auch nur im Bewußtsein auszubrechen, schrumpft. Sie sind, Triumph der Integration, bis in ihre innersten Verhaltensweisen hinein, mit dem identifiziert, was mit ihnen geschieht. Subjekt und Objekt sind, in höhnischem Widerspiel zur Hoffnung der Philosophie, versöhnt. Der Prozeß zehrt davon, daß die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken.“ (Adorno: Gesellschaft, in: Adorno Gesammelte Schriften Band 8.I, S. 18) Integration bedeutet die Einpassung der Menschen – bis in ihre psychische Verfassung hinein – in den kapitalistischen Produktionsprozess. Und Adorno sieht hier eine Tendenz zum Ersticken von lebendigem, subjektiven Widerspruch: „Der Zirkel schließt sich“ (ebd.), weshalb die Menschen „jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge.“ (ebd.) An anderer Stelle fragt Adorno, ob die „Sphäre des Moralischen“ – und dabei geht es um Kants Begriff von Moralität – „einem historischen Schwellenwert sich nähert, an dem sinnvollerweise diese Begriffe [das Gute und das Böse; S.H.] kaum mehr angewandt werden können.“ (Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, S. 286) – Nur diese zwei Stellen seien angeführt, um anzudeuten, dass für Adorno, wenn es um die Frage nach den Subjekten im Kapitalismus geht, die Auseinandersetzung mit der Klassischen Deutschen Philosophie zentral war. Schaut man in Adornos philosophisches Hauptwerk, die „Negative Dialektik“, so stellt man fest, dass er das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft stets auch in Diskussion mit Kant und Hegel behandelt.

Eine weitere Zweiteilung sticht ins Auge: Diejenige zwischen repressiver und produktiver Subjektivation. So vollziehe sich im Arbeitsprozess qua Entfremdung repressive Subjektivation, im Tausch hingegen eine produktive. Ein formaler Hinweis sei an dieser Stelle gestattet. An einigen Stellen, an denen Schulz die Bedeutung von Tausch und Warenfetisch für die Marx’sche Theorie und für kapitalistische Subjektivation hervorhebt, interpretiert er die betreffenden Stellen recht frei. So etwa wenn er auf S. 85 aus dem Kommunistischen Manifest zitiert: „Der Tausch zerstöre den ‚heiligen Schauer der frommen Schwärmerei‘“, wo es bei Marx/Engels heißt: „[Die Bourgeoisie; S.H.] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei […] in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ (Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 464 f.). Schulz ersetzt hier also Bourgeoisie durch Tausch. Ähnlich bei einem Marx-Zitat auf S. 89. Hier heißt es: „Es ist der Tausch als ‚bestimmte[s], notwendige[s] Verhältnis […]‘, das Menschen eingehen“. Im Marx’schen Original hingegen: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse […]. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.“ (Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW 13, S. 8) Schulz liest hier also statt ‚Produktionsverhältnisse‘ ‚Tausch‘, was aber nicht dasselbe ist. Diese Betonung des Tauschs für die Prägung des Bewusstseins aber entspricht der Aufteilung in eine repressive und eine produktive Subjektivation.

Trotz weniger diskussionswürdiger Punkte gelingt es Schulz in diesem Buch, einen großen theoriegeschichtlichen Bogen zu schlagen und einen Überblick über die Entwicklung kritischer Theorie des Subjekts zu bieten. Hervorzuheben ist auch der Epilog, in welchem der Autor sehr fokussiert neuere Entwicklungen in der Theorietradition ausleuchtet und überzeugend kritisiert.

Fazit

Das lesenswerte Buch von Peter Schulz gibt einen fundierten Überblick über die Theorien der Subjektivierung, wie sie sich ausgehend von Marx im Marxismus und schließlich in der Kritischen Theorie entwickelten. Bemerkenswert ist die umfassende Darstellung der theoriegeschichtlichen Entwicklungen in dieser Linie. Nicht zuletzt stellt der Autor eine eigene Systematisierung für eine Theorie kapitalistischer Subjektivation vor, die er aus der Behandlung der klassischen Autoren entwickelt und an welche aktuelle Debatten um etwa Phänomene wie die Verbreitung von rechten und autoritären Einstellungen produktiv anknüpfen können.

Rezension von
Sabine Hollewedde
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Es gibt 24 Rezensionen von Sabine Hollewedde.

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ISSN 2190-9245