Farhan Samanani, Ulrike Kretschmer: Miteinander
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.11.2023

Farhan Samanani, Ulrike Kretschmer: Miteinander. Über das Zusammenleben in einer gespaltenen Welt. Hanser Berlin (Berlin) 2023. 368 Seiten. ISBN 978-3-446-27385-6. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Die gespaltene, uneinige, chaotische Welt
„Ist der Feind deines Feindes mein Freund?“ – „Sind Nächstenliebe und Fernstenliebe Gegensätze?“ – „Wie können wir mit denen leben, die anders sind als wir?“. Das sind Fragen, die Menschen umtreiben und bestimmen, seit es die Menschheit gibt. Die Spannweite zwischen Willkommenskulturen und Mauerbau zieht sich wie ein stählernes Auf und Ab durch die Menschheitsgeschichte. Die zahlreichen ethischen, moralischen, philosophischen, psychologischen, religiösen und anthropologischen Versuche, im Denken und Handeln der Menschen ein Bewusstsein zu schaffen, dass es EINE MENSCHHEIT und EINE WELT gibt, wird immer wieder durch Feindschaft, Konflikte und Kriege in Frage gestellt. Die Appelle, wie sie in der „globalen Ethik“, der 1948 von den Vereinten Nationen proklamierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ zum Ausdruck kommen – „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ – werden durch Bomber-, Gefechtslärm und verklausulierten Statements unhörbar und unsichtbar.
Entstehungshintergrund und Autor
Der in Kanada geborene Sozialanthropologe Farhan Samanani legt, nach einem Forschungsaufenthalt am Göttinger Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, das Buch „Miteinander“ vor. Ist es das Anderssein des Menschen, beim Aussehen, der Hautfarbe, der Herkunft, der Kulturalität, des Glaubens und der Weltanschauung, der Sprache…, das Konflikte, Ablehnung und Feindschaft oder Zustimmung, Empathie und Freundschaft schafft? Sind es die menschengemachten sozial- und gesellschaftspolitischen Systeme, die ein friedliches, humanes Miteinander ermöglichen, wie etwa Demokratien – oder, wie Diktaturen, verhindern? Es sind die lokal- und globalgesellschaftlichen und politischen Umbrüche und Veränderungsprozesse, die ein friedliches Miteinander eher be- und verhindern als ermöglichen. Dabei wird in den Analysen und Begründungen eher auf die Auswirkungen dieses Wandels geachtet und weniger darauf, dass jede Zeit eine Zeit des Wandels ist (Ken Follett). Samanani nimmt diesen Gedanken auf, indem er danach fragt, wie in diesem Bewusstseinsprozess mit den Begriffen “Differenz“ und „Vielfalt“ umgegangen wird und wie Menschen auf Verschiedenheit und Andersartigkeit reagieren: Als Bedrohung und mit Angst, oder als natürliche, wertvolle Ergänzung und Bestätigung des eigenen Seins.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert seine Erzählung in drei Teile. Den ersten Teil überschreibt er mit „Stamm“, den zweiten mit „Wurzeln“ und den dritten Teil mit „Verflechten“. Es sind die literarischen und haptischen Verbindungen und Erfahrungen, die Samanani bei seinen Forschungsaufenthalten uns -projekten erlebt und schildert; etwa die Frage, wie Eingesessene, etablierte und traditionell Gefestigte auf Diversität reagieren. Er führt dabei an, dass in seinem Wissens- und Forschungsgebiet, der Anthropologie, ziemlich eindeutige Annahmen vorherrschen, wie z.B. die, „dass wir uns in der Welt zurechtfinden, indem wir uns auf bestimmte Unterschiede konzentrieren“ (Gregory Bateson) – und dabei besonders auf das Gemeinsame, Verbindende, Sympathische achten und eher das Verschiedene, Differenzierte, Konflikthafte vernachlässigen. Es sind die Wahrnehmungen von nah und fern; es das Eigene und das Fremde, das den Komiker Karl Valentin zu der Feststellung brachte: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“. In Samananis Erzählungen werden Begegnungen, Kontakte und Reflexionen dargestellt, die das „symbolische Denken“ aufzeigen: „Beim Umgang mit anderen ermöglicht das abstrakte Denken es uns, unser Verständnis über das hinaus zu erstrecken, was wir durch direkte Beziehungen und Grenzen unseres unmittelbaren Wissens sowie unserer empathischen Fähigkeiten bereits kennen“. Hier kommt ins Spiel, was der Neurowissenschaftler und Psychotherapeut Joachim Bauer bei seiner Suche nach dem „Selbst“ findet: Resonanz (Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022). Es sind die selten zu planenden, meist reflektierten und erlebten Erfahrungen, was „Zugehörigkeit“ ist und ausmacht. Es sind Traditionen, die nicht zu Traditionalismen werden sollten. Und es sind die notwendigen, unverzichtbaren, menschenwürdigen Bemühungen, die eigene Identität so zu entwickeln, dass Verschiedenheit und Andersheit konstitutive Selbstverständlichkeiten werden können: „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“.
Mit „Wurzeln“ rekurriert der Autor auf anthropologische Vorstellungen, dass der Mensch vom Ursprung und Geist ein „zôon politikon“ (Aristoteles) und darauf angewiesen ist, in humaner Gemeinschaft mit den Mitmenschen und der Mitwelt zu leben. So auch Hannah Arendt und andere DenkerInnen der Vor- und unserer Zeit. Sie sehen in der Geduld die Ungeduld, die Wahrheit in der Lüge, und im Zusammenschluss Aufforderung. Martin Luther Kings Traum hat sich bisher auch nur ansatzweise erfüllt. Und Martha Nussbaums „capabilities approach“ gipfelt in der „politischen“ Liebe und nicht im Hass.
„Verflechten“ schließlich wird zum Lösungswort; etwa erzählend, alltäglich, poetisch. Es ist das hoffnungsvolle, aktive Tun und die Aufforderung, wie sie Navid Kermani zum Ausdruck bringt: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ (2022), oder die Türöffnung, wie sie in einem alten persischen Gedicht artikuliert wird:
- Komm wieder, bitte, komm wieder
- Wer auch immer du bist.
- Gläubiger, Ungläubiger, Andersgläubiger oder Heide.
- Selbst wenn du hundert Mal
- Hoffnungslosigkeit und Missmut versprachst.
- Hundert Mal hast du dein Versprechen gebrochen,
- Diese Tür ist nicht die Tür
- Die zu Hoffnungslosigkeit und Missmut führt.
- Diese Tür ist offen für jeden.
- Komm, so, wie du bist.
Es stellen sich Fragen, wie individuell und kollektiv die menschliche Geschichte betrachtet (Max Fuchs, 2022), wie Zivilisation interpretiert wird (David Wengrow, 2023). Wird sie als Himmelsleiter, Tsunami oder „Fata Morgana“ geschildert, oder als Bemühen erzählt, gewürzt mit Hoffnungen und Imponderabilien. Es kommt darauf an, intellektuell und objektiv Unterscheidungen vorzunehmen zwischen Gleichsein und Gemeinschaft. Hilfreich sind dabei Einsichten, wie sie z.B. die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom mit ihren Entdeckungen, „dass mehr wird, wenn wir teilen“ (2011), und Silke Helfrich und David Bollier als „Commons“ vorschlagen (2019).
Diskussion
Die Berichte über seine Forschungszeit, die Fallstudien, vor allem mit und über die Menschen im Londoner Stadtteil Kilburn, seine Kontakte und Kooperationen mit Forscherinnen und Forschern in der Welt, bewirkten, dass Farhan Samarinis Forschungsbericht zu einer reflektierten Aneinanderreihung von erlebten, erdachten und reflektierten Erzählungen wurde. Sein anerkennenswertes Bemühen, das „Buch weltlich zu machen, voller Leben, Geschichten und Alltagsweisheit… Ideen zu verfolgen, die bei den Problemen unserer komplizierten Welt bleiben und die vielleicht das Potenzial haben, dass dieses Buch dazu einlädt, anders zu denken, zu handeln und zu leben“.
Fazit
Die Kapitel für Kapitel ausgewiesenen 22-seitigen Anmerkungen und die 26-seitigen Literaturhinweise machen das Buch zu einem kurzweiligen Leseerlebnis und bieten auch für die kritische, lokale und globale Gesellschaftsforschung Argumente und Anregungen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.11.2023 zu:
Farhan Samanani, Ulrike Kretschmer: Miteinander. Über das Zusammenleben in einer gespaltenen Welt. Hanser Berlin
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-446-27385-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31315.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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