Frank Dieckbreder, Sandra Hildebrandt (Hrsg.): Gemeinsam unterm Regenbogen
Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Hoburg, 18.01.2024
Frank Dieckbreder, Sandra Hildebrandt (Hrsg.): Gemeinsam unterm Regenbogen. Werkbuch Vielfaltssensibilität - LGBT+ für Diakonie, Gemeinden und soziale Arbeit. Neukirchener Verlagsgesellschaft (Neukirchen-Vluyn) 2023. 208 Seiten. ISBN 978-3-7615-6914-6. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 35,10 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Die gesellschaftliche Debatte über Diversität und die Vielfalt von Lebensformen hat durch die aktuelle Diskussion über das geplante Personenstandsgesetz der Bundesregierung im Jahr 2023 und seit etlichen Jahren vor allem durch die Ausweitung des Diversitätsbegriffes auf die Pluralität der sexuellen Selbstbestimmung im Rahmen der Szene der Queers an Dynamik gewonnen.
Das vorliegende Buch stammt aus der kirchlichen Diskussion innerhalb einer diakonischen Einrichtung und greift darüber hinaus aber auch die Ebene der Kirchengemeinden auf. Im Untertitel findet sich die Einordnung als „Werkbuch Vielfaltssensibilität“. Damit ist zweierlei impliziert: Einerseits wird deutlich, dass das Buch aus einem lebendigen Arbeitsprozess innerer Beschäftigung der schreibenden Autorinnen und Autoren im Diakonieverbund resultiert und darüber hinaus einen offenen Charakter aufweist, der der dynamischen Diskussion auf diesem Feld der Queers entspricht. Vor dem Hintergrund von möglichen Konflikten in der Praxis der Jugendhilfe und etwaiger sprachlicher Ausgrenzungen im Arbeitsrecht wird von den Herausgebenden die Notwendigkeit gesehen, sich der Tatsache und den aufsteigenden Fragen der Mitarbeitendenschaft in einer komplexer werdenden Welt zu stellen. Das Vorwort weist ausdrücklich darauf hin, dass das Buch eine Einladung ausspricht, Zugänge zum Thema zu finden. Andererseits macht der Untertitel als Werkbuch deutlich, dass es die Absicht ist, für die praktische Arbeit und den konkreten Umgang mit dem angesprochenen Thema Hilfestellungen und Tips zu geben. Es geht also in dem Buch nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung im engeren Sinn – auch darauf weist das Vorwort hin und so sind auch die Beiträge eher praxisorientiert geschrieben –, sondern eben um ein „Werkbuch“, mit dem also in praktischer Absicht umgegangen werden soll und das ein vielfältiges Methodenspektrum (Tool-Box) bereithalt, die man in der konkreten Arbeit ausprobieren kann.
Herausgebende
Die beiden Herausgeberinnen und Herausgeber Frank Dieckbreder und Sandra Hildebrandt repräsentieren beruflich den Vorstand der Ev. Stiftung „Dialog für innovative Kinder- und Jugendhilfe und Diakonieverbund Schweicheln e.V.“. Frank Dieckbreder hat gleichzeitig die Honorarprofessur mit dem Gebiet Management an der Fachhochschule der Diakonie (FhdD) in Bielefeld inne.
Dem Vorwort ist zu entnehmen, dass der Band quasi aus einer inneren Notwendigkeit der praktischen Arbeit im Jugendverband entstand und dass die Zeitumstände der Corona-Pandemie und des Ukraine Krieges das Entstehen mit beeinflusst haben. Die Autorinnen und Autoren des Bandes kommen hauptsächlich aus der praktischen Arbeit in Kirche und Diakonie und sind dort in unterschiedlichen Ämtern und Bereichen tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Werkbuch verfolgt die Absicht, sich den komplexen Fragestellungen im Bereich LSBTIQ* zu nähern. Der Ausgangspunkt des insgesamt 208 Seiten umfassenden Buches liegt hierbei in der hermeneutischen Prämisse, die Selbstwahrnehmungen von Menschen bezüglich ihrer Identitätszuschreibung ernst zu nehmen und dann vor allem die lebensweltliche Dimension zu erfassen. Es geht den Autorinnen und Autoren eben nicht um eine Zuschreibung von „richtig“ oder „falsch“ – auch in Bezug auf die Gendersprache, sondern – so verstehe ich dies – um die Wahrnehmung und Erfassung der pluralen Wirklichkeiten. Dabei wird von einem entscheidenden Apriori ausgegangen: So wie sich die Jugendlichen in ihrer eigenen Identität verstehen, sind sie „ok“, d.h. ihre Selbstwahrnehmung bestimmt den unverrückbaren Ausgangspunkt der praktischen Arbeit auf diesem Feld. Sehr klar kommt stellvertretend die Position der Autorinnen und Autoren in folgendem Satz zum Ausdruck: „LSBTIQ* zu sein ist keine Entscheidung dafür, sondern eine Entscheidung, so zu sein, wie ein Mensch ist“ (S. 43).
Aus dieser eher phänomenologischen Bemühung heraus gliedert sich das Werkbuch in die vier Felder: Gesellschaft – Religion – Fachlichkeit – Sprache, unter denen dann die thematischen Aspekte der Beiträge stehen. Die Beiträge selbst weisen eine fast durchgehende innere Struktur auf, die von einem „Blitzlicht“ ausgehen, dann eine kurze Sacheinordnung unter dem Stichwort: „Was bis jetzt bekannt ist“ anschließen und in den Teilen Alltagserleben, Tool-Box und dem Abschnitt „?Und jetzt…“ enden. Damit ist eine einheitliche Struktur für alle Beiträge geschaffen, die den einzelnen Artikeln einen inneren Drive in Richtung praktischer Anwendung und Praxis-Tips gibt.
Der Inhalt des gesamten Werkbuches und der darin versammelten teilweise sehr unterschiedlichen einzelnen Artikel kreist um drei Fixpunkte: Die Körperlichkeit (transidentes Erleben), die Reflexion der eigenen sexuellen Identität und die Gewährung eines Schutzraumes als konkreter Arbeitsauftrag der Sozialen bzw. diakonischen Arbeit auf diesem neu zu vermessenden Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe. Das folgende Zitat beschreibt hier sehr klar worum es geht: „Für Fachkräfte der Sozialen Arbeit ist in diesem Zusammenhang eine erhöhte Sensibilität von hoher Notwendigkeit“ (S. 37).
Im Teil Gesellschaft geht es um die Erinnerung an Zeiten des 18. Jahrhunderts und deren Einteilung in die Zweigeschlechtlichkeit, was die historische Relativität einer dominanten Geschlechterzuweisung und dann einer „biologisch-medizinische(n) Deutungshoheit“ (S. 19) verdeutlicht. In dieser Deutungslinie spricht der Autor dann von einer unbewußten Pathologisierung der Kinder durch die Eltern bezüglich der binären Geschlechtlichkeit. Geschlechtlichkeit – so die Schlussfolgerung – könnte ein „menschengemachtes und demnach kulturelles Phänomen“ (S. 21) sein. Von der Seite des Rechts her reflektiert das Werkbuch unter dem Focus Hürden und Barrieren abzubauen die Veränderungen des Rechts vor dem Hintergrund der Gleichstellung, Antidiskriminierung und des Personenstandsgesetzes. Immer wieder klingen in dem Werkbuch Diskriminierungserfahrungen an. Es liegt im Interesse der Autorinnen und Autoren, die bei Jugendlichen zu Tage tretende Unstimmigkeit zwischen dem „gefühlten Geschlecht und dem bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht“ (S. 28) zu beschreiben und zu rechtlicher Gleichbehandlung zu kommen. Die Ebene des Rechts mündet auch in konkreten Überlegungen des Arbeitsrechts und dessen Hürden. Dies wird als eine Gratwanderung im Arbeitsalltag beschrieben.
Blickt man auf den Bereich der „Tool-Boxen“, so findet sich ein vielfältiges Gemisch an Praxisideen, das anfängt bei der Gestaltung eines Aufklärungsbuches (S. 24) oder einfach nur das Reden über die Barrieren enthält (S. 36). Interessant ist unter dem Wahrnehmungsfocus die Idee einer spezifisch auf das Thema ausgerichteten Sozialraumerkundung (S. 72).
Unter dem Focus „Religion“ erörtern die Autorinnen und Autoren von biblischen Wahrnehmungen ausgehend den Gedanken der Schöpfungsordnung, der kirchliches Denken und Handeln lange geprägt hat und der erst in den letzten Jahren durch synodale kirchliche Texte und Beschlüsse zugunsten einer positiveren Haltung der Kirche gegenüber sexueller Vielfalt geführt hat. Ambivalenzen prägen – so die Verfasserinnen und Verfasser – durchaus die kirchliche Diskussionslandschaft. Sehr sensibel dargestellt und nachvollziehbar in der inneren Dramatik gelingt die Erzählung im „Weg zu Elke“ – den Konflikten einer transienten Pfarrerin mit sich selbst, der Gemeinde und der Kirchenleitung, die einerseits zeigt, wie wichtig Beratung ist und andererseits auch umsichtiges Leitungshandeln. Es wird aber auch deutlich, wie starr das Bild von verbeamteten „Stelleninhaberinnen“ ist und wie starr zuweilen das Kirchenrecht ist. Geradezu als Contrepart fungiert dann der nächste Beitrag, der von dem Gedanken der Befreiungstheologie inspiriert ist. Befreiung wird hier verstanden als Befreiung zur eigenen Körperlichkeit, aber auch als Befreiung von Bildern und Rollen (S. 106).
Das Kapitel über Fachlichkeit führt die bisherige Erörterung über sexuelle Identität und Körperlichkeit fort und ergänzt den wichtigen Aspekt der Schutzräume. Diese Themen sind zwar nicht neu in der Jugendhilfe und waren schon immer Teil des Diskurses, aber „queeres Leben“ (S. 158) ist deutlicher von Ausgrenzung betroffen und wird öfter als „nicht rollenkonform“ wahrgenommen. Nicht zuletzt deshalb begegnet unter dem Aspekt der Fachlichkeit wieder das Thema der Aufklärung, das jenseits des schulischen Aufklärungsunterrichtes auch in der Kinder- und Jugendhilfe wichtig ist und im Feld der außerschulischen Bildung um den Bereich der politischen Aufklärung ergänzt werden sollte (S. 116), zumal Sexualität als gesellschaftlicher Diskurs gesehen wird. Sexuelle Vielfalt spielt dann aber auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zwischen Identitätssuche und konkreter Betreuungsplanung in Einrichtungen statt. Die konkreten Schwierigkeiten und Herausforderungen des Berufsalltages werden in dem geführten Interview mit zwei Mitarbeitenden zwischen Aufnahmeanfrage und Konzept der Einrichtung deutlich. Hier gilt es die Bedürfnisse zwischen dem Individuum und der Gruppe miteinander abzustimmen. Die Arbeit mit transidenten Jugendlichen verändert aber auch die Organisation selbst, wie die Reflexion der Einrichtungsleitung zeigt. Aus fachlicher Perspektive spielt hierbei die Haltung der Mitarbeitenden eine zentrale Rolle. Diese wird immer wieder als Faktor in der Begegnung mit transidenten Jugendlichen angesprochen, da diese zu einer vulnerablen Gruppe gehören, für die – das ergab eine Befragung im Rahmen einer Bachelor-Arbeit – der Schutzraum und ein diskriminierungsfreier Umgang zu den wichtigsten Faktoren zählen. Die Einrichtung der Jugendhilfe soll mehr als sonst üblich ein Schutzraum für die individuelle Situation der Jugendlichen sein, der gleichzeitig auch zu „Entwicklungsräumen für die queeren jungen Menschen“ werden kann (S. 149). Die Besonderheit erfordert daher Sensibilität in Sprache und Handlungen.
Der letzte Themenbereich des Werkbuches widmet sich dem Feld der Sprache. Sprache wird als identitässetzend wahrgenommen und hier gilt es besonders aufmerksam die Wortwahl zu reflektieren, um nicht ausgrenzend zu sein. Die Differenzierung von Gender und Geschlecht kann dabei durchaus zum Orientierungspunkt werden. So entstehen auch ungewohnte Begriffe wie z.B. „genderfluid“, um das Ineinanderfließen von Identitäten zu kennzeichnen. Dass es bei dem Thema der Vielfaltssensibilität auch selbstkritisch zugehen kann, dokumentiert ein kleiner Satz aus dem Experteninterview, in dem Justin als Studierender der Sozialen Arbeit und tätig als Erziehungshelfer kurz bemerkt: „Aber irgendwelche Pronomen, die sich da ausgedacht werden und benannt werden sollen, da sollte man doch die Kirche im Dorf lassen“ (S. 163).
Diskussion
Das Werkbuch zur Vielfaltssensibilität ist in seinen Beiträgen bunt, vielfältig und hat immer die praktische Arbeit im Blick. Es ist gerade auch für die- bzw. denjenigen gewinnbringend zu lesen, die nicht so tief in dem Fachdiskurs stecken. Die Interviews im hinteren Teil des Buches geben dabei ein sehr authentisches Bild der lebendigen Diskussion um das Thema und die Ideen in den Tool-Boxes machen manchmal neugierig, sind aber auch hin und wieder eher altbacken und stammen zuweilen aus der „Klebe- und Bastelpädagogik“ der 70er wie Regenbogensticker an der Pinnwand.
Der Ansatz des vorliegenden Bandes zur Vielfaltssensibilität ist komplex, gerade weil er durch den Praxisansatz eines Werkbuches auf den ersten Blick so klar und einfach erscheint. So neugierig das Buch auf das Thema macht, so ist es doch eigentlich für den Fachdiskurs und Fachgebrauch gedacht. Der Untertitel gibt die Zielgruppen an: Es soll für Diakonie, Gemeinde und Soziale Arbeit Impulse geben. Genau in dieser unspezifischen Beschreibung liegt das „Zwischen den Stühlen“ des Bandes. Beziehe ich das Thema auf die Ebene der Gemeinde, so müßte deutlicher werden, wo gerade Kirchengemeinden in dem Zugehen auf das sensible Thema Hilfestellungen erhalten könnten. Wie sollten Kirchenvorstände und Presbyterien, Leitungsgruppen der Kirchengemeinden genau mit dem Blick, der in dem Band vorgeschlagen wird nämlich nicht urteilend, schon gar nicht verurteilend, sondern in der Haltung der positiven Wahrnehmung an das Themenfeld herangeführt werden? Wie kann der Band Anleitung geben zum Umgang mit dem Thema LGBTQ*? In Bezug auf die Diakonie wären die an einer Einrichtung gemachten Erfahrungen und Überlegungen zu übertragen auf ein spezifisches Profil in der Diakonie insgesamt zum Bereich eines Umgangs mit LGBTQ*. Und im Bereich Sozialer Arbeit gilt es Konzepte und berufliche Haltungen zu konkretisieren und vor allem noch deutlicher die sozialpsychologische Perspektive der Jugendlichen auf der Suche nach ihrer Identität zu fokussieren. Und nicht zuletzt: Wie kann der Begriff „Schutzraum“ diakonisch und theologisch weiter reflektiert werden?
Das Werkbuch Vielfaltssensibilität ist verfasst aus der Praxisperspektive. Hier liegt die Stärke des Bandes, der einen Blick in Innenwelten von Jugendlichen, Institutionen, Kirche und Mitarbeitenden vollzieht und den Lesenden sehr sensibel und in der Haltung des Wahrnehmenden in die Thematik mit hineinnimmt. Gleichzeitig spürt man beim Lesen, dass der professionelle Umgang mit dem Themenbereich LGBTQ* noch mehr intensive Beschäftigung im Praxis-Theorie Feld benötigt. Wie wäre der Gedanke, wenn dem Werkbuch ein weiterer, eher theoretisch angelegter Band folgen würde, in dem die Frage nach erlebter und gewünschter sexueller Identitätssuche von Jugendlichen noch deutlicher diakonie- und sozialarbeitswissenschaftlich reflektiert wird? Die Erinnerung an die Relevanz der Befreiungstheologie war für mich jedenfalls ein Impuls, den es weiterzuverfolgen gilt wie ebenso die Metapher des Schutzraumes als vielleicht diakonisch-theologischer Kategorie.
Fazit
In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wirft das Thema eines Umgangs mit Diversität und sexueller Vielfalt von Jugendlichen ganz praktische Fragen auf. Das vorliegende Werkbuch vermittelt den Lesenden einen sensiblen und auf die Praxis ausgerichteten Blick auf das Thema. Es geht um die Wahrnehmung der Jugendlichen und ihrer Identitätssuche ohne Wertung und Bewertung. Die Einrichtungen der Jugendhilfe können hier Schutzräume für die Entfaltung der sexuellen Identität bieten. Ein lohnenswertes Buch zur Lektüre.
Rezension von
Prof. Dr. Ralf Hoburg
Hochschule Hannover, Lehrgebiet Sozialwirtschaft und Theorie des Sozialstaats
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Zitiervorschlag
Ralf Hoburg. Rezension vom 18.01.2024 zu:
Frank Dieckbreder, Sandra Hildebrandt (Hrsg.): Gemeinsam unterm Regenbogen. Werkbuch Vielfaltssensibilität - LGBT+ für Diakonie, Gemeinden und soziale Arbeit. Neukirchener Verlagsgesellschaft
(Neukirchen-Vluyn) 2023.
ISBN 978-3-7615-6914-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31323.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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