Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Claude-Hélène Mayer: Systemische Sternstunden

Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Warnke, 13.12.2023

Cover Claude-Hélène Mayer: Systemische Sternstunden ISBN 978-3-525-40020-3

Claude-Hélène Mayer: Systemische Sternstunden. Inspirierende Impulse und Interventionen für die therapeutisch-beraterische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2023. 168 Seiten. ISBN 978-3-525-40020-3. D: 28,00 EUR, A: 29,00 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Die Sternstunden von Claude-Hélène Mayer sind die Zusammenfassung von sieben Seminareinheiten, die ursprünglich für entsprechende Gruppeneinheiten konzipiert und durchgeführt wurden. Impulse für Theorie- und Praxisfelder der systemischen Beratung und Therapie werden gegeben. Die theoretischen Einblicke werden verknüpft mit dem systemischen Blick und Denken. Es folgen Best-Practice-Beispiele und Reflexionsfragen, die sich auf der Metaebene mit dem jeweiligen Themenschwerpunkt beschäftigen (z.B. die Philosophie von Albert Camus, Systempsychodynamiken und Terror-Mangement-Theorie).

Autoren

Claude-Hélène Mayer ist Professorin für Industrial and Organisational Psychology am Department of Industrial Psychology and People Management an der University of Johannesburg in Südafrika. Sie ist promovierte Ethnologin, Wirtschaftswissenschaftlerin und Psychologin. Weiterhin ist Claude-Hélène Mayer als Mediatorin, systemische Familientherapeutin und Lehrtherapeutin für Systemische Therapie und Beratung tätig.

Aufbau

Das rund 160-seitige Buch gliedert sich in 8 Kapitel.

Das Buch beginnt mit einer Einführung in den Begriff „Sternstunden“. Sternstunden stehen als „Metapher für etwas Leuchtendes, Erhellendes und Freudvolles, das durch einen gut strukturierten und prägnanten systemischen Wissensinput in die Welt gebracht wird. Neben den theoretischen Grundlagen ist eine Verbindung zu aktuellen Themen gegeben und der Praxisbezug blitzt auf“ (S. 9). Diese sieben „Sternstunden“ waren 2021 ein Angebot am Kasseler Institut für Systemische Therapie und Beratung.

Das Buch gibt die Inhalte dieser Sternstunden in zusammengefasster Form wieder. Die Struktur der Sternstunden gestaltete sich wie folgt: Impulsvortrag und Diskussion im Plenum/​kollegialer Austausch in Kleingruppen/​Bedeutung des Themas für die systemische Therapie und Beratung/Best Practices/​Vertiefende Reflexionsfragen.

Inhalt

Sternstunde 1 Ikigai – Ein japanisches Konzept im Therapieraum

Ikigai hat seinen Ursprung in der japanischen Kultur des 14. Jahrhunderts. „Es ist ein soziokulturelles und philosophisches Konzept, das die Entwicklung des Selbst im Hinblick auf den Lebenssinn reflektiert und somit als ein Ansatz zur Sinnfindung im Leben betrachtet werden kann“ (S. 15). Somit, die Autorin, „passt Ikigai gut in existentielle Therapie- und Coaching-Ansätze“ (S. 15). Das Konzept besteht aus vier Kernelementen:

  1. Was Sie lieben: „Was mach Spaß und was tun Sie gerne?“
  2. Was die Welt braucht: „Was können Sie der Welt, Ihrer Kultur oder Ihrer Familie geben?“
  3. Worin Sie gut sind: „In welchen Bereichen Ihres derzeitigen Jobs/Engagements sind Sie gut, ohne sich anstrengen zu müssen?“
  4. Wofür Sie bezahlt werden können: „Womit verdienen Sie Ihr Geld, Ihren Lebensunterhalt?“

Diese vier Bereiche – mit beispielhaften Fragestellungen – haben vier Überschneidungsbereiche, die betitelt werden mit Mission, Berufung, Profession und Passion.

Nach der theoretischen Einführung und der Verbindung zur systemischen Therapie folgt ein ausführliches Fallbeispiel und Reflexion eines Best Practices von Ikigai in systemischer Therapie und Beratung. Das Kapitel schließt mit Reflexionsfragen.

Sternstunde 2 Sinnlosigkeit und Fußball – Albert Camus ganz praktisch

Das zweite Kapitel beginnt mit einer Einführung in die Philosophie von Albert Camus und nimmt dabei zunächst Bezug auf herausfordernde Lebenssituationen wie die COVID-19-Pandemie und den Umgang mit Unsicherheit, Einsamkeit und kollektiven Bewältigungsprozessen. Sinnerleben unterstützt, so Mayer, Individuen im Kontext von Bewältigungsstrategien und Resilienz. Als die vier existentialistischen Aspekte benennt die Autorin: Leben und Tod, Gemeinschaft und Isolation, Freiheit und Determinismus sowie Sinn und Absurdität. Sodann führt sie die existenzialistische Perspektive von Camus aus. „Camus bezeichnete das Leben als absurd, da der Mensch nach Sinn und Klarheit strebe, es diese jedoch per se nicht gebe, denn Sinn könne nur den Menschen selbst konstruiert werden“ (S. 33). Mayer führt aus: „Camus’ Ansätze passen in die systemische Therapie und Beratung – obwohl sie auf den ersten Blick eher existenziell als systemisch zu sein scheinen – insofern, als dass sie radikal, existenziell und humanistisch sind und Paradoxien aufzeigen, die oftmals in Systemen auftreten, jedoch schwer zu greifen sind. (…) Auch für Camus sind Kindheitserfahrungen Muster, mit denen Menschen ein Leben lang umgehen müssen und die erkannt und durch Reflexion zur Erkenntnis und zu konstruktiven Handlungsweisen führen sollten“ (S. 37). Dieser theoretischen Betrachtung folgt ein Anwendungsbeispiel mit einem Fallbeispiel (Erstkontakt) und der umfänglichen Beschreibung von insg. 12 Sitzungen. Es folgen Ausführungen zu „Best Practice mit Albert Camus“ sowie abschließende Reflexionsfragen.

Sternstunde 3 TTT: Technologie – Tiefe Beziehung – Therapie

Digitale Technologie ermöglichen u.a. virtuelle Kontakte mit Klient*innen (Selbsthilfe-Internetseiten, hybride bzw. online Psychotherapie, Nutzung virtueller Realitäten, Chatbots, Apps etc.). In einem Unterkapitel reflektiert die Autorin den Einfluss „der drei Ts“ auf die systemische Arbeit, so z.B. Umgang mit emotionaler Verlassenheit bei Klient*innen im Online-Setting, Widerstand/​Misstrauen bei Fachkräften bzgl. Technik-Einsatz, Fragen des Datenschutzes, aber auch bessere, flexiblere Erreichbarkeit, neue Formate und bessere Ansprache junger Klient*innen. Das Kapitel schließt mit einem Beispiel einer Online-Therapie über ein Jahr, Hinweisen zu Best Practice und Reflexionsfragen.

Sternstunde 4 Die Liebe – Kulturelle Perspektiven auf ein Gefühl

Das Kapitel beginnt mit Gedanken zum Thema Liebe aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven. Nach Mayer variiert das Konzept der Liebe von Kultur zu Kultur, auch wenn sie als universell beschrieben wird (vgl. S. 71). In der westlichen Literatur wird zwischen drei übergreifenden Liebeskonzepten unterschieden (vgl. S 72):

  1. Eros – sexuelles Bedürfnis
  2. Philia – Freundschaft in der Partnerschaft
  3. Agape – Feinfühligkeit, Gefühl des empathischen Zusammengehörens

„Liebe ist häufig Thema in Therapie und Beratung und kann als systemisches Konstrukt betrachtet werden“ (S. 73). Es kann ebenso Thema in Einzelberatung bzw. -therapie sein wie in Paar- bzw. Familientherapie. Das Anwendungsbeispiel beschreibt Herrn K., der „die derzeitige Situation in seiner Familie, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern verändern möchte. (…) Sie hätten bereits viel versucht, wollten nun aber einen neuen Beratungsprozess in Anspruch nehmen, da es keine Liebe in der Beziehung gebe“ (S. 77). Erklärungs-, Auftrags- und Zielkontext sowie der Verlauf der weiteren Sitzungen werden dargestellt. Auch diese Sternstunde schließt mit Hinweisen zu Best Practice sowie Reflexionsfragen.

Sternstunde 5 Unter der Oberfläche – Systempsychodynamiken durchschauen

Systempsychodynamische Perspektiven „konzentrieren sich auf die Untersuchung bewusster und unbewusster systemischer, dynamischer, kognitiver, affektiver und symbolischer Verhaltensweisen, die sich auf Mikro- (Individuum), Meso- (Gruppe) und Makroebene (Organisation) manifestieren“ (S. 87). Die Systempsychodynamik integriert drei Disziplinen, „die Praxis der Psychoanalyse, die Theorien und Methoden der Gruppenbeziehungen und die Perspektive offener Systeme“ (S. 87). Den Abwehrmechanismen in System widmet die Autorin ein eigenes Unterkapitel. Als Verhaltensreaktionen von Gruppen werden bspw. benannt:

Spaltung: „(…) beschreibt eine Dynamik, bei der Menschen aufgrund unbewusster Ängste nicht in der Lage sind, sich selbst oder andere als Einheit oder als oder als zusammenhängendes Ganzen zu sehen“ (S. 91).

Projektion: „(…) bezieht sich auf die Projektion von unerwünschten Gefühlen, Gedanken, Erfahrungen – die unbewusst dem System innewohnen – auf ein Objekt im System. (…) Oft werden Kindheitserfahrungen auf aktuelle Erfahrungen projiziert“ (S. 92).

Vereinfachung (…): „ist ein Abwehrmechanismus, der mit Konzepten arbeitet, die in ihrer Komplexität und ihrem Verständnis reduziert sind, basierend auf einem vereinfachten Bild der Welt, des Phänomens oder des Systems“ (S. 93).

Systempsychodynamische Haltungen bieten „einen entwicklungsorientierten, psychoedukativen Prozess für das Verständnis des tiefen und verborgenen Verhaltens im System. (…) Angst wird als das zentrale Verhaltenskonzept (…) angesehen“ (S. 94). Mayer führt das CIBART-Modell aus, das folgende Systemaspekte einbindet: Conflict (Konflikt), Indentity (Identität), Boundary (Grenzen), Authority (Autorität), Role (Rolle), Task (Aufgabe). Anwendungsbeispiel, Best Practices (z.B. verstehen, wie das Symptom in das zentrale Beziehungsmuster passt; Symptome als Problemlösungsversuche einordnen) und Reflexionsfragen beenden auch dieses Kapitel.

Sternstunde 6 Die Theorie des Terrors oder was wir alles tun, um unsterblich zu werden

Die Terror-Management-Theorie (TMT) wurde von Ernst Becker in den 1970er-Jahren entwickelt und geht der Frage nach, „wie Menschen unter existentiellen Bedingungen Lebenssinn entwickeln und die Herausforderungen des Lebens bewältigen können. (…) TMT nimmt an, dass alle menschlichen Handlungen dazu dienen, den Tod zu vermeiden und die Angst vor dem Tod zu besiegen“ (S. 107). Sodann nimmt die Autorin Bezug auf das Thema Umgang mit Terror und Angst in Therapie und Beratung. Mayer konstatiert: „Einerseits kann angenommen werden, dass die Todesangst positiv wirkt, wenn daraus ein Bewusstsein erwächst, das zur Konstruktion des eigenen Lebenssinns beiträgt und Individuen bei der Verfolgung intrinsisch motivierter Ziele unterstützt. Andererseits ist denkbar, dass Todesangst als negativ empfunden wird und belastenden Gefühlen und Krisen führt“ (S. 109). Sie führt im Kontext einer systemischen Perspektive weiter aus, „dass [d]ie Diskurse um Leben und Tod immer komplexer [werden] und es gilt, nicht nur die individuellen Sichten auf die Welt einzubeziehen, sondern auch die gruppenspezifischen und soziokulturellen Systeme in den therapeutischen Prozessen mehr zu beachten, da sie immer komplexer, multikultureller und interdisziplinärer werden“ (S. 111). Das Praxisbeispiel beschreibt Therapiesitzungen mit einer 28-jährigen Frau, die seit Jahren Angst- und Zwangsstörungen leidet, die sich u.a. länger duscht und mehrfach beim Verlassen des Hauses überprüft, ob sie ihren Schlüssel eingesteckt hat. Auftrag bzw. Zieldefinition, Hypothesen und Therapieverlauf sowie die Interventionen (Ressourcensack, Genogramm, Familienbrett, Methode des Inneren Teams) werden beschrieben. Best Practices und Reflexionsfragen schließen das Kapitel.

Sternstunde 7 Treebathing: Die Natur neu erleben

Waldbaden und Natur werden thematisiert, das in Japan eine lange Tradition hat. „Sinrin Yoku“ dient dort der Gesunderhaltung respektive der Gesundung und hat dort 1982 seinen Platz im nationalen öffentlichen Gesundheitsprogramm gefunden. Die Natur als Erlebnisraum der Regeneration, Heilung und Wohlbefinden sind auch in den westlichen Staaten seit einigen Jahren im Blick. Unter systemischer Perspektive führt Claude-Hélène Mayer aus, dass „die systemische Naturtherapie die positive, heilende Wirkung der Natur auf Körper, Seele und Geist proaktiv nutzt. Dabei werden parallel zu den sozialen Konstellationen auch Natur und Umwelt als Systemelemente einbezogen“ (S. 127). Beispielhafte werden Interventionen wie Naturmeditation, therapeutisches Landwirtschaften, naturtherapeutische Interventionen (Spaziergänge), tierbasierte Therapie etc. Es folgen abschließend Anwendungsbeispiel, Best Practice in und mit der Natur sowie thematische Reflexionsfragen.

Diskussion

Den Anstoß zu der vorliegenden Publikation gab die Vorbereitung auf die Seminarreihe „Sternstunden“ im Kasseler Institut für Systemische Beratung und Therapie 2021. Das Sternstunden-Angebot richtete sich an Therapeut*innen bzw. Berater*innen, die neue Interventionen ausprobieren wollten und in denen der Austausch initiiert werden sollte. Das Buch soll einen Einblick vermitteln, wie die Themen in Beratung und Therapie praktisch genutzt werden können.

Dieser Zielsetzungen wird das Buch in Teilen gerecht. Es bietet eine gute Grundlage, um sich mit den einzelnen Thematiken zu beschäftigen. Mehr als gedacht – und der Titel ggf. vermuten lässt – widmet sich die Autorin der Darstellung theoretischer Grundlagen. Dies geschieht in kurzer und prägnanter Form – das ist einerseits ausgezeichnet gelungen, andererseits bedarf es zur weiteren konkreten Umsetzung entweder bereits Erfahrung als Therapeut*in/Berater*in sowie vermutlich weiteren Input. Die Anwendungsbeispiele sind sehr gut und nachvollziehbar aufgebaut und gut gelungen. Daraus eigene Interventionen zu machen ist dann aber der nächste Schritt, der vermutlich mehr als dieses Buches bedarf. Im Kontext des Seminares gab es Austausch, Diskussion, vermutlich praktische Umsetzung – das kann ein Buch natürlich nicht leisten. Aber eben dieser Schritt würden die Inhalte des Werkes vermutlich sehr viel konkreter und greifbarer machen, denn auch die Reflexionsfragen bewegen sich der Metaebene.

Das Buch ist sehr gut aufgebaut und bietet in der Tat interessante Impulse auf „andere Sterne“. Für erfahrene Berater*innen und Therapeut*innen sicherlich ein wunderbarer Impuls und eine gute Anregung. Für Studierende und Berufsanfänger*innen möglicherweise eine anregende kleine Lektüre, die dann aber weiterer Reflexion und Bearbeitung – vermutlich am besten in einem Gruppenkontext – bedarf.

Fazit

Die „Sternstunden“ sind eine gute und gleichzeitig herausfordernde Grundlage und ein Impulsgeber für Menschen, die im Kontext systemischer Beratung und Therapie arbeiten. Das Sterneglitzern erfolgt vermutlich insbesondere dann, wenn eine entsprechende Veranstaltung – und damit ein persönlicher Austausch – flankierend genutzt werden kann.

Rezension von
Prof. Dr. Andrea Warnke
Professorin für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Campus Bremen
Mailformular

Es gibt 29 Rezensionen von Andrea Warnke.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Andrea Warnke. Rezension vom 13.12.2023 zu: Claude-Hélène Mayer: Systemische Sternstunden. Inspirierende Impulse und Interventionen für die therapeutisch-beraterische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2023. ISBN 978-3-525-40020-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31331.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht