Sarah Pohl, Mirijam Wiedemann: Zwischen den Welten
Rezensiert von Prof. Dr. René Gründer, 29.12.2023
Sarah Pohl, Mirijam Wiedemann: Zwischen den Welten. Filterblasenkinder verstehen und unterstützen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2023. 136 Seiten. ISBN 978-3-525-45923-2. D: 25,00 EUR, A: 26,00 EUR.
Thema
Als im Jahr 2013 die bayerische Polizei über 30 Kinder aus der Sektengemeinschaft „Zwölf Stämme“ unter Entziehung des elterlichen Sorgerechts in die Obhut des Jugendamtes überführte, war dies die bislang spektakulärste Intervention dieser Art in der Nachkriegszeit. Die von der Gemeinschaft der „Zwölf Stämme“ angewandte Prügelstrafe wurde durch Berufung auf alttestamentarische Texte der Bibel begründet. Klagen der Gemeinschaft gegen das Vorgehen des Staates hatten 2018 keinen Erfolg.
Im rezensierten Werk steht der (sozial-)pädagogisch angemessene Umgang mit solchen Kindern im Vordergrund, die durch ihr Elternhaus und/oder eigene Entscheidung unter den Einfluss von – aus Sicht des gesellschaftlichen Mainstreams – ‚devianten‘ Weltdeutungssystemen geraten. Für diese Kinder prägen die Autorinnen den Begriff „Filterblasenkinder“, da ihre Einschließung in ‚Sondersinnwelten‘ als konstitutiv für zahlreiche resultierende Herausforderungen im schulischen und allgemein gesellschaftlichen Umgang mit ihnen anzusehen sei.
Autorinnen
Die Autorinnen sind ausgewiesene Praktikerinnen der Beratungsarbeit von Menschen mit Erfahrungen im Kontext religiöser Sondergemeinschaften. Dr. Sarah Pohl leitet als Diplom-Pädagogin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und systemische Familienberaterin die baden-württembergische Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen (ZEBRA/BW) und Oberstudienrätin Mirijam Wiedemann leitet die Geschäftsstelle für gefährliche religiös-weltanschauliche Angebote in der Stabsstelle Religionsangelegenheiten/​Staatskirchenrecht am Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg.
Entstehungshintergrund
Die Autorinnen benennen vor allem die Veränderungen des (alternativ-)religiösen Marktes durch die vielfältigen Auswirkungen der Digitalisierung unserer Lebenswelten als Ausgangspunkt, sich dem traditionellen Thema „Kinder in Sekten“ einmal aus einer zeitgemäßen Perspektive zuzuwenden. Dabei spielt einerseits die andauernde Pluralisierung weltanschaulicher Sinndeutungsangebote wie zugleich die Parzellierung gesamtgesellschaftlicher Wirklichkeitsdeutungsprozesse in so genannten „Filterblasen“ eine wesentliche Rolle (vgl. S. 26 f.). Das Buch richtet sich mithin an Personen, die in pädagogischen Kontexten mit betroffenen Kindern aus solchen Filterblasen zu tun haben.
Aufbau
Der schmale Band (134 Seiten) gliedert sich in drei Teile. Während im ersten Teil (Weltanschauungen und Filterblasen im Kindes- und Jugendalter) eher die gesamtgesellschaftliche Einordnung der spezifischen Herausforderungen durch digitalisierte (alternativ-)religiöse oder spirituelle Sonderwelten im Vordergrund steht, werden im zweiten Teil exemplarische Lebensgeschichte von ‚Filterblasenkindern‘ in Fallvignetten analysiert und im dritten Teil schließlich Handlungsvorschläge (Was tun?) unterbreitet.
Inhalt
Auf den ersten 75 Seiten werden zentrale religionssoziologische Einordnungen alternativreligiöser Gruppenstrukturen im Hinblick auf sozialisatorische Chancen (Geborgenheit) und Risiken (Gruppenzwang/Abhängigkeit) für Kinder vorgenommen. Die Autorinnen setzen sich dabei bewusst kritisch vom tradierten „Sekten-Begriff“ (vgl. S. 40 f.) ab und fokussieren anstatt der religiösen Selbstdeutung von Gruppen auf deren Funktionalität für die Mitglieder (eben im Hinblick auf gruppeninterne Filterblasen). Im Text werden anhand von zahlreichen „Checklisten“ (z.B. S. 44 f.) wesentliche Kriterien und Anhaltspunkte für mögliche Kindeswohlgefährdungen in und durch solche Gruppen vorgestellt. Die Autorinnen geben den Lesenden durch die Dimensionierung der Analysekriterien für Gruppenmitgliedschaften die Chance, zu einer differenzierenden Beurteilung zu kommen. Exemplarisch zeigt sich dies an Kapiteln, die mit „Spirituelle Entwicklung oder Schwarz-Weiß-Denken“, „Gesund oder ungesund?“, „Rudelzugehörigkeit oder Beziehungsverlust“, „Stärkung der Familie oder Zerreißprobe?“ überschrieben sind. Im Kapitel zur Kindeswohlgefährdung (S. 66 f.) betonen die Autorinnen, dass die bloße Gruppenzugehörigkeit (der Eltern) keineswegs Anlass einer Gefährdungseinschätzung sein darf, sondern dafür die allgemein etablierten Maßstäbe zur Feststellung von psychosozialer Schädigung, Verwahrlosung bzw. Entwicklungseinschränkungen gelten (S. 70). Gleichwohl ist den Autorinnen bewusst, dass es konsequenter Einzelfallprüfung bedarf: Die Existenz religiös begründeter Züchtigungsgebote in einer Gruppe kann beispielsweise allein keinen Automatismus für einen Entzug des elterlichen Sorgerechts, begründen, da hier erst der Umsetzungsvollzug durch die Eltern im Einzelfall nachzuweisen wäre (S. 69).
Die anonymisierten Einzelfallerzählungen kindlicher Schicksale in geschlossenen religiösen Gruppierungen, die im zweiten Teil des Buches präsentiert werden decken exemplarisch das Gesamtspektrum der häufigsten Erfahrungen dieser „Filterblasenkinder“ ab. Von hoch autoritären Bindungsverhältnissen mit missbräuchlicher Ausnutzung durch religiös-spirituelle Gruppenleitungen, über Selbst- und Fremdexklusionserfahrungen in Schule und Freizeit bis hin zu Vernachlässigung von Kindern durch spirituell sinnsuchende Elternteile findet sich hier ein breites Feld, nicht nur von Erfahrungen sondern auch subjektiven Bewältigungsstrategien der Kinder.
Der dritte Teil des Buches dürfte für Pädagog*innen sicherlich besonders interessant sein, da die Autorinnen hier anhand fiktiver Fallbeispiele gezielt die Rahmenbedingungen möglicher Interventionen in schulischen, familiären und therapeutischen Settings analysieren und praxisbezogene Vorschläge unterbreiten. Interessanterweise gibt es dabei im Kapitel „Filterblasenkinder in der Schule“ einen bemerkenswerten Bruch in der Darstellungslogik: Während bislang im Buch überwiegend christlich-sektiererische oder aber esoterisch-spirituelle Sonderwelten thematisiert wurden, entstammt die Mehrzahl der Fallbeispiele hier erkennbar einem islam(ist)ischen Hintergrund: Die angemessene Umgangsweise mit einer Verweigerung der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht, der Forderung nach Einrichtung von Gebetsräumen in der Schule, der Bitte um Freistellung für Gebetszeiten und die Reaktion der Schule auf die Verteilung von Koran-Schriften etc. dürften jedenfalls in diesem Sinne gelesen werden.
Insgesamt plädieren die Autorinnen für einen religionssensiblen, auf Beziehungsarbeit, Transparenz und toleranter Offenheit ausgerichteten Umgang und begründen im Einzelfall mit geltender Rechtsprechung, etwa zu Gebetsräumen in der Schule. Deutlich wird auch die Forderung an Pädagog*innen, die Situation der „Filterblasen-Kinder“ zu respektieren und in diesen nicht primär einen Status als „bemitleidenswerte Wesen“ zuzuschreiben (S. 102 f.). Grundsätzlich ähnliche Haltungen werden auch in anderen Kontexten beim Umgang mit diesen Kindern empfohlen. Abschließend geben die Autorinnen Hinweise zu Gelingensbedingungen und Unterstützungsmöglichkeiten zum selbstgewählten Gruppenausstieg (S. 127) und illustrieren diese mit Fallbeispielen. Besonders instruktiv erscheint hier die „Erste-Hilfe-Kiste“ auf Basis der Erfahrungen einer Aussteigerin (S. 128 f.).
Diskussion
Neben seiner praxisgesättigten Ausrichtung an den Prinzipien einer „Erziehung zu Toleranz und Offenheit“ (S. 32) und zahlreichen überzeugenden Beispielen für die unterschiedlichen Herausforderungen von und mit „Filterblasenkindern“ in unserer pluralistischen Gesellschaft hinterlässt das Buch in einigen Aspekten auch einen etwas zwiespältigen Eindruck, denn die Autorinnen haben sich vergleichsweise wenigen Seiten vergleichsweise viel vorgenommen. Zwischen den Feldern religiös-ideologischer Radikalisierung (etwa in fundamentalistischen Gruppen des Islam) bis zur bisweilen sublimen Vernachlässigung von Kindern in „esoterisch geprägten“ Elternhäusern wäre ein breites Spektrum überaus heterogener Zugänge und Folgerisiken abzudecken. Eine stringente Auslegung bzw. Anwendung des Konzepts der „Filterblasenkinder“ würde daneben auch politisch-weltanschauliche Sondergemeinschaften (wie etwa Reichsbürger und angeschlossene „Freilerner“) zu inkludieren haben oder auch die grundsätzlichen Probleme religiöser Sozialisation in Einwanderer-Communities, die – neben religiös-kulturell begründeter Genitalverstümmlung bei Mädchen gegenwärtig auch im Konflikt um ‚muslimischen Antisemitismus‘ im Kontext des Hamas-Angriffs auf Israel am 7.10.23 auch in Deutschland sichtbar werden. Hier wäre für städtische Schulen mit einem Anteil muslimischer Schüler*innen von z.T. über 40 % in den Klassen danach zu fragen, vor welchem Referenzhintergrund überhaupt noch sinnvoll von einer „religiösen Sonderwelt“ bzw. von „Filterblasen“ zu sprechen wäre?
Somit gibt es in dem Bändchen zwangsläufig Lücken und Brüche, die durch die Unterbestimmtheit des „Filterblasen-Konzepts“ mitbedingt sind. Schließlich wäre auch danach zu fragen, wer von den heutigen Kindern und Jugendlichen überhaupt noch außerhalb digitalen „Filterblasen“ aufwächst? Begrüßenswert ist in jedem Falle das Ansinnen der Autorinnen, die überkommenen Terminologien von „religiösen Sondergemeinschaften“, „Sekten“, oder „Kulte und Psychogruppen“ durch eine zeitgemäße und weniger stigmatisierende Begrifflichkeit zu ersetzen. Etwas verwirrend erscheint der Aufbau des Textes im ersten Teil. Nach Eindruck des Rezensenten hätte hier ein Verzicht auf (wenig instruktive) Fallbeispiele und eine etwas systematischere Gliederung (etwa nach psychologische und/oder soziologischen Dimensionen) dem Textverständnis gutgetan. Die zahlreichen, im Text eingestreuten Kästen und Checklisten sind inhaltlich ein klarer Bonus des Buches, unterbrechen aber zwangsläufig auch den Fluss der Argumentation. Im Kapitel zu den Handlungsempfehlungen wäre aus Sicht des Rezensenten, neben der plausiblen und ethisch einzufordernden Differenzierung, Toleranz und Offenheit beim Umgang mit „Filterblasenkindern“ zugleich auch eine klare(re) Markierung der Grenzlinien zur Handlungsnotwendigkeit beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (wie diese ja auf S. 66 f. herausgestellt wurden) für Lehrkräfte und pädagogische Praktiker*innen wünschenswert gewesen.
Fazit
Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann haben mit ihrem Buch „Zwischen den Welten: Filterblasenkinder verstehen und unterstützen“ einen prägnanten Ratgeber für Lehrkräfte, Sozialarbeiter:innen und Angehörige vorgelegt, der einem zeitgemäß differenzierenden Umgang mit der Lebenswelt von Kindern aus religiösen Sondergemeinschaften sowohl theoretische wie praktische Grundlagen verleiht.
Rezension von
Prof. Dr. René Gründer
Duale Hochschule Baden-Württemberg Heidenheim, Fachbereich Sozialwesen. Homepage: https://www.heidenheim.dhbw.de/dhbw-heidenheim/ansprechpersonen/prof-dr-rene-gruender
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Zitiervorschlag
René Gründer. Rezension vom 29.12.2023 zu:
Sarah Pohl, Mirijam Wiedemann: Zwischen den Welten. Filterblasenkinder verstehen und unterstützen. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2023.
ISBN 978-3-525-45923-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31338.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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