Anja Thürnau: Systemischer Kinderschutzkompass
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Gröne, 02.08.2024
Anja Thürnau: Systemischer Kinderschutzkompass. Denk- und Handlungsimpulse für die Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2023. 384 Seiten. ISBN 978-3-525-40017-3. D: 28,00 EUR, A: 29,00 EUR.
Autorin und Thema
Kinderschutz ist für pädagogische Fachkräfte ein hoch aktueller, komplexer, oft widersprüchlicher und unübersichtlicher sowie persönlich herausfordernder Arbeitskontext. Um sich in diesem ‚unwegsamen Gelände‘ nicht zu verirren, sondern das Ziel (Kinderschutz) möglichst sicher, schnell und nachhaltig zu erreichen, tut man gut daran einen funktionierenden Kompass dabei zu haben.
Ein solcher Kompass ist das vorliegende Buch von Anja Thürnau. Als Erzieherin, Diplomsozialarbeiterin, Fachberaterin für Kinderschutz sowie systemische Therapeutin und Supervisorin verfügt sie über umfangreiche praktische Erfahrungen, ein breites Theoriewissen sowie ein großes Methodenrepertoire, welches sie in ihrem Kinderschutzkompass zusammengefasst hat.
Ziel der Autorin ist es, mit ihrem Buch Kinderschutzfachkräfte so zu stärken und anzuregen, dass sie nicht nur betroffene Kinder angemessen zu schützen verstehen, sondern ebenso – mit einem systemischen Blick – die Belange der Eltern und weiterer Bezugspersonen mit einbeziehen und dabei auch die eigenen (Belastungs-) Grenzen und die Selbstfürsorge im Auge behalten.
Aufbau
Das Buch umfasst 382 Seiten, verfügt über ein detailliertes Stichwortverzeichnis und zusätzliches Downloadmaterial. Es ist in 16 Kapitel untergliedert und visuell sehr ansprechend gestaltet: Jedes Unterkapitel hat eine eigene Farbe; kleine Symbole verweisen auf Praxisbeispiele, Übungen, besonders wichtige Gedanken und Reflexionen. Kreativ gestaltete Schaubilder sind als sinnvolle Ergänzungen in den Text eingefügt.
Inhalt
Die ersten Kapitel 1- 4 beginnen mit einer Einführung in die Thematik und notwendigem Basiswissen: Nach einem eindrücklichen Plädoyer, weshalb Kinderschutz oberste Priorität für eine Gesellschaft haben muss sowie einer Diskussion verschiedener Definitionen und Ansätze von Kinderschutz, benennt die Autorin fünf Lebenskonstellationen, welche für Kinder eine besondere Brisanz haben:
- wenn Kinder mit psychisch kranken Eltern zusammenleben;
- wenn die Eltern unter Bindungsstörungen und eigenen Traumatisierungen leiden;
- wenn in den betroffenen Familien Traumata und Bindungsmuster transgenerational weitergegeben werden;
- wenn dysfunktionale Copingstrategien vorherrschen, welche für die Eltern nachvollziehbare Bewältigungsstrategien sind, jedoch für deren Kinder erhebliche Risikofaktoren für die körperliche und seelische Entwicklung bedeuten;
- wenn ein Stressniveau erreicht ist, welches alle Beteiligten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt.
Kapitel 5: Der Schutz von Kindern kann nur gelingen, wenn Fachkräfte in der Lage sind genau hinzuschauen, zu erkennen, zu verstehen sowie klar zu benennen und sicher zu handeln. Das Kapitel analysiert, weshalb dies häufig nicht gelingt, sondern Fachkräfte sowie Teams oft zwischen völligem Ausblenden von Gefährdungen (‚Kopf in den Sand stecken‘) und hysterischer Überreaktion hin- und herpendeln.
Als ‚Stolpersteine‘ auf dem Weg zu einem gelingenden Kinderschutz werden zunächst individuelle Faktoren beschrieben (unreflektierte eigene biographische Kindheitstraumata seitens der Fachkräfte, Selbst- und Fremdvorwürfe, dysfunktionale Erwartungshaltungen, unbewusst ablaufende Altersregressionen und Loyalitätsbindungen, sowie Strukturisomorphien). Im Anschluss werden die oft unzureichenden institutionellen Arbeitsbedingungen (hohe Fallzahlen, Fachkräftemangel etc.) kritisch beleuchtet.
Nach der Analyse zentraler ‚Stolpersteine‘ richtet sich der Kompass in Kapitel 6 auf mögliche Lösungen. Dazu gehört zunächst eine ruhige, strukturierte und dadurch stressmindernde Gesprächshaltung, welche Vertrauen in die eigenen Ressourcen, Zuversicht, Optimismus und insbesondere Hoffnung bei allen Beteiligten fördert. Zentral ist zudem ein ‚professionelles Sehen‘ und ein Einbeziehen der Kinder sowie die Grundannahme, dass diese sich immer ‚entwicklungslogisch‘ zeigen und einen nachvollziehbaren Grund für ihr Verhalten haben. Weiter betont die Autorin die Relevanz von ‚embodimentalen Signalen‘ und beschreibt Methoden eines konstruktiven und professionellen Umgangs mit den genannten ‚Stolpersteinen‘ bzw. Lösungsblockaden. Diese müssen erkannt, verstanden und transformiert werden, damit sie sich nicht weiter im System ausweiten (Strukturisomorphie) und destruktive Wirkungen entfalten.
Kapitel 7 beschreibt systemische ‚Basics‘: Dazu gehört nach Anja Thürnau insbesondere eine hohe Sensibilität für den Beratungskontext, in welchem sich pädagogische Fachkräfte und das Klientel begegnen. Weiter diskutiert sie die systemischen Haltungen der ‚Neutralität‘ und ‚Allparteilichkeit‘ sowie von ‚Neugier‘ und ‚Respekt‘. Dabei betont sie deutlich die Grenzen einer neutralen Haltung im Kontext der Kinderschutzarbeit und die Notwendigkeit eines transparenten Vorgehens und der präzisen Definition der eigenen Rolle (zwischen Beratung/Unterstützung einerseits sowie sozialer Kontrollen andererseits). Viel Zeit und Energie sollte des Weiteren auf eine transparente Auftragsklärung gelegt werden – dabei gilt es, auch nicht im Raum anwesende Personen (z.B. das Jugendamt, das Familiengericht) mit einzubeziehen. Theoretische Erläuterungen werden durch konkrete Beispiele sinnvoll ergänzt. Ein Plädoyer für eine lösungs- und ressourcenorientierte Haltung (bei gleichzeitiger Würdigung von Leid, Belastung, Schmerz und Scham) beendet das Kapitel.
Kapitel 8 ist ein systemischer ‚Methodenkoffer‘: Er beinhaltet eine Auswahl von konkreten Vorgehensweisen, welche sich in der Kinderschutzarbeit besonders bewährt haben. Dabei unterscheidet die Autorin
- visualisierende, bildgebende Methoden (prozessorientierte Genogrammarbeit, Arbeit mit Bildkarten, Fotos, Metaphern)
- sprachlich-narrative Methoden (systemisches Fragen, Reframing, Storytelling, Externalisierung) und
- reflektierende/perspektivgebende Methoden (Reflecting Team, Kinderschutzbrett u.a.)
Wichtig ist Anja Thürnau der Hinweis, dass die von ihr beschriebenen Methoden nur dann hilfreich sind, wenn sie fest in den zuvor erläuterten systemischen Grundhaltungen verankert sind.
Kapitel 9 beschreibt Grundlagen und hilfreiche Methoden einer systemischen Diagnostik sowie einer fundierten, kontextsensiblen Gefährdungseinschätzung. Anhand von Beispielen wird ausgeführt, wie der komplexe Bewertung- und Entscheidungsprozess durch Fragen, Genogrammarbeit und Fokussierung sowohl auf Risiko- als auch Schutzfaktoren sinnvoll strukturiert werden kann.
Im Anschluss widmet sich Kapitel 10 ausführlich der systemischen Gesprächsführung im Kinderschutz. Es beginnt mit einem Plädoyer dafür, Kinder selbstverständlich als gleichwertige Gegenüber wahrzunehmen und zu beteiligen, denn sie sind die Adressaten der Hilfe. Die Autorin gibt im Folgenden zahlreiche Fragebeispiele und Anregungen zur Gestaltung des Beratungskontextes, um den Kontakt mit betroffenen Kindern sensibel und altersgerecht zu gestalten.
Da Kinder sich ihren Eltern stets loyal gegenüber verhalten, kann eine langfristige Hilfe für das Kind nur erfolgreich sein, wenn Elterngespräche im Kinderschutz gut strukturiert, transparent, respektvoll und verbindlich gestaltet sind. Wie dies konkret aussehen kann (Gespräche in vier Phasen mit entsprechenden Fragebeispielen) beschreibt Anja Thürnau in den folgenden Abschnitten. Ergänzend weist sie auf besondere Herausforderungen in Kinderschutzgesprächen mit psychisch erkrankten Eltern und mit Fachkräften hin und betont noch einmal die besonderen Rahmenbedingungen einer ‚Zwangsberatung‘, in denen mit Konflikten und Widerstand gerechnet werden muss.
Mit der SGB VIII Reform im Jahr 2021 ist das Vorliegen eines Gewaltschutzkonzepts für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe Pflicht. Kapitel 11 ist ein kurzer Impulsbeitrag, wie diese gesetzliche Auflage nachhaltig und unter Berücksichtigung der verschiedenen Systemebenen umgesetzt werden kann. Dabei wird begründet, warum der Begriff ‚Schutzprozess‘ die Anforderungen angemessener beschreibt als das Wort ‚Schutzkonzept‘.
Kapitel 12 ist ein ‚Notfallkoffer‘ für pädagogische Fachkräfte, damit diese auch trotz oft extrem belastender Situationen und Erfahrungen arbeitsfähig, hoffnungsvoll und gesund bleiben. Entsprechend ist das Kapitel mit ‚Resilienzkompass‘ betitelt. Es weist nachdrücklich auf die Gefahr einer ‚sekundären Traumatisierung‘ hin und stellt anschließend verschiedene Methoden zur Selbsthilfe und Selbstregulierung vor. Diese werden gut nachvollziehbar beschrieben und durch entsprechende Schaubilder sinnvoll ergänzt.
Dieses Kapitel hätte auch gut am Anfang des Buches platziert werden können um zu verdeutlichen, wie wichtig es ist diese Methoden bereits in der Ausbildung kennenzulernen. Dann könnten pädagogische Fachkräfte schnell und sicher auf wichtige Selbsthilfetechniken zurückgreifen und müssten sie nicht erst dann lernen, wenn eine Notfallsituation bereits eingetreten ist.
Kapitel 13 bis 16 beinhalten ein kurzes Fazit, Arbeitsmaterialien sowie ein umfangreiches Quellen- und Stichwortverzeichnis.
Diskussion
Das Buch ist sowohl was den Umfang als auch die Thematik anbelangt, eine Herausforderung. Es fordert von Leserinnen und Lesern Geduld, Zeit und Achtsamkeit, um all die Informationen, Anregungen, Praxisbeispiele und Methoden aufzunehmen, zu verarbeiten und umzusetzen. Diese Herausforderung ist der Komplexität und Relevanz des Themas ‚Kinderschutz‘ mehr als angemessen. Pädagogische Fachkräfte, die in diesem Arbeitskontext tätig sind wissen, dass häufig gut gemeinte Hilfe nicht gut ist, sondern im Gegenteil mehr Unheil anrichtet und schadet.
Deshalb ist es besonders zu würdigen, dass Anja Thürnau mit ihrem Kinderschutzkompass ein wissenschaftlich fundiertes, informatives, an der Praxis orientiertes Grundlagenwerk verfasst hat, welches allen pädagogischen Fachkräften von großem Nutzen sein kann. Die Mühe beim Durcharbeiten und Reflektieren beim Lesen wird damit belohnt, dass man anschließend einen zuverlässig funktionierenden Kompass in der Hand hält, der einem die notwendige Orientierung gibt um sicher durch das komplexe Arbeitsfeld ‚Kinderschutz‘ navigieren zu können. Dabei hat die Autorin auch sensibel im Blick, dass es um die Sicherheit aller Beteiligten geht – an erster Stelle die der Kinder, aber auch deren Bezugspersonen sowie die Sicherheit und Gesundheit der pädagogischen Fachkräfte.
Zu würdigen ist darüber hinaus, dass Anja Thürnau gemeinsam mit dem Verlag ein optisch sehr ansprechendes, mit Zitaten aufgelockertes, gut gegliedertes und dadurch sehr motivierendes Fachbuch gestaltet hat, welches dadurch wie eine freundliche Einladung wirkt, die lohnende Herausforderung anzunehmen.
So ist meine Empfehlung, dass der ‚Systemische Kinderschutzkompass‘ von Anja Thürnau zu einer Grundlagenlektüre für alle pädagogische Berufe – möglichst schon in der Ausbildung – werden sollte.
Fazit
‚Kinderschutz braucht oft einen sehr langen Atem‘, schreibt die Autorin in ihrem Buch. Diesen braucht es auch, um die in ihrem Buch vorhandenen Anregungen in die jeweilige Praxis umzusetzen. Belohnt wird man dafür mit einer Fülle von Ideen und konkreten Anregungen die verhindern, dass man im komplexen Feld des Kinderschutzes außer Atem gerät oder brenzlige Situationen einem sogar den Atem verschlagen, sondern dass trotz aller Herausforderungen Ruhe, Achtsamkeit sowie Humor und eine gute Selbstsorge im Fokus bleiben.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Gröne
Dozentin an der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit an der HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen; systemische Lehrtherapeutin und Lehrsupervisorin (SG)
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Es gibt 2 Rezensionen von Margret Gröne.
Zitiervorschlag
Margret Gröne. Rezension vom 02.08.2024 zu:
Anja Thürnau: Systemischer Kinderschutzkompass. Denk- und Handlungsimpulse für die Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2023.
ISBN 978-3-525-40017-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31339.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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