Ralf Vogt (Hrsg.): Verwirrung, Spaltung und Dissoziation bei von Menschen gemachten Psychotraumata
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 05.07.2024

Ralf Vogt (Hrsg.): Verwirrung, Spaltung und Dissoziation bei von Menschen gemachten Psychotraumata. Dissoziative Identitätsstörungen in vielfältigen Behandlungsformen. Lehmanns Media GmbH (Berlin) 2022. 320 Seiten. ISBN 978-3-96543-189-8. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Der Sammelband bündelt neuere – interdisziplinäre – Forschungsergebnisse aus dem Trauma-Institut-Leipzig und fokussiert dabei die beziehungsorientierte „Anteilearbeit“ in verschiedenen Behandlungsformen. So spürt das interdisziplinäre Fachbuch den traumatischen Wechselwirkungs-Ketten von „Opfer-Täter-Rollen“ im INNEN“ von Betroffenen nach, die sich – als intrapsychische Überlebensleistung – in Folge schwerer chronifizierter zwischenmenschlicher Gewalterfahrungen entwickelt haben und fatalerweise als „Opfer-Täter-Rollen im AUßEN“, sowohl alltägliche Beziehungen der Menschen mit einer dissoziativen Traumafolgestörung als auch ihre Behandlungsprozesse tiefgreifend und leidvoll durchkreuzen. Unter Verwendung anschaulicher Fallgeschichten wird beleuchtet, wie mit „Täterintrojekten“ und/oder „Täterimplantate“ in der Psychotherapie achtsam umgegangen werden kann, um diese zerstörerischen Wechselwirkungs-Ketten in Interaktionen von und mit Menschen mit einer (noch nicht) diagnostizierten „dissoziativen Identitätsstörung“ nach und nach aufzulösen.
Herausgeber
Dr. rer. nat., Dipl.-Psych. Ralf Vogt ist Psychotraumatologe und Psychoanalytiker in freier Praxis in Leipzig. Als analytischer Körperpsychotherapeut, Familientherapeut, Behandler für Imaginative Psychotherapie sowie – seit mehr als 20 Jahren – im Bereich von komplextraumatisierten Patient:innen produktiv tätig. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Dipl.-Psych. Irina Vogt entwickelt er seit 2000 ein „Somatisch-Psychologisch-Interaktives-Modell“ [SPIM] zur Behandlung von komplextraumatisierten/​dissoziativen Psychotraumastörungen – inzwischen in der Standardversion [SPIM 30] – und gründete 2002 mit Irina Vogt das Trauma-Institut-Leipzig als Fortbildungs- und Forschungsstätte.
Entstehungshintergrund
Patient:innen mit einer diagnostizierten „dissoziativen Identitätsstörung“ (DIS) werden – so der Herausgeber des Bandes Ralf Vogt – aus vielschichtigen Gründen in der Gesellschaft und in der Psychotherapie – noch immer „relativ stiefmütterlich behandelt“ (S. 14). Dies nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeiten, diese ‚man-made-disaster‘-Folgestörungen überhaupt zu erkennen, sie differenziert von klassischen Krankheitsbildern der Psychiatrie zu unterscheiden sowie wegen des für viele Psychotherapeut:innen abschreckenden Wissens, dass die Behandlung von dissoziativen Patient:innen zweifelsfrei sehr aufwendig und oft im Therapieergebnis nur mäßig erfolgreich sei. Dieser für die betroffenen Menschen schmerzlichen Zurückhaltung der Psychotherapeutenschaft und ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung, möchte der Herausgeber entgegenwirken, indem er die unheilvollen Dynamiken einer seelischen Zersplitterung von traumatisierten Menschen erläutert und die weiterführenden Forschungs- und Behandlungsbeispiele des Trauma-Institut-Leipzig zur DIS anschaulich dokumentiert.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist in 7 Kapiteln untergliedert.
In der Einleitung (Kapitel 1) führt der Herausgeber Ralf Vogt komprimiert in das DIS-Thema ein und gibt einen knappen Überblick über die folgenden Inhalte.
Das Kapitel (2) „Diskurs zur Psychodynamik bei DIS in interdisziplinären Fachgebieten“ (19–53) beginnt mit einem fachtheoretischen Beitrag des Herausgebers zu „SPIM 30-Aspekte der verwirrenden Psychodynamik bei dissoziativen Psychotraumastörungen“. Unter Verwendung von Abbildungen wird in pointierter Weise in das im SPIM 30 postulierte Persönlichkeitsmodell eingeführt und veranschaulicht, in welcher Weise
- a.) „Verwirrung als Ausdruck von dynamisch verschobenen Dominanzen der Regulationsstates“;
- b) – als Ausdruck von dynamisch verschobenen Dominanzen von Innenanteilen und
- c.) wie Spaltung und Verwirrung im Rahmen von Wechselwirkungen mit anderen Menschen zu „Interaktionsproblematiken“ führen.
Insbesondere Täterübertragungen und Täterintrojekte der als dissoziativ diagnostizierten Klient:innen bergen ein – auch für das jeweilige Gegenüber – erhebliches Irritations- und Störungspotenzial, das wegen Unkenntnis und/oder nicht (frühzeitig genug) wahrgenommener Gegenübertragung die Auftrittsdynamik der so angetriggerten Abwehr der Betroffenen allzu häufig folgenschwer (mit)prozedieren. Nach den Erläuterungen der theoretischen Grundlagen veranschaulichen die Mediziner Olaf Dieball (2.2) – für den Fachbereich der Orthopädie – und Hubertus Teschner (2.3) – für den Fachbereich der Zahnmedizin – eindrücklich die Wirkmächtigkeit solcher negativen (Gegen)Übertragungen für den Beziehungsaufbau in den jeweiligen Behandlungskontexten. So verweisen sie auf die Dringlichkeit, dass Ärzt:innen in ihrer medizinischen Ausbildung sich ein Wissen über Psychotraumafolgestörungen, deren körperlichen Symptome sowie die Fähigkeit zu einer achtsamen Kommunikation mit dieser stark beeinträchtigten Patient:innen-Gruppe aneignen sollten. Eine Forderung, die sowohl für das Wohl der Betroffenen als auch für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit förderlich wäre. Die Schriftstellerin Liz Wieskerstrauch (2.4) beschreibt eindringlich den Teufelskreis, in den Kinder geraten, die in Rituellen Gewaltverhältnissen aufwachsen mussten und aufgrund ihrer zersplitterten Seele daraus nur schwer entkommen können. Ausgehend von kurzen Fallskizzen aus ihren Dokumentarfilmen „Höllenleben“ (Teil 1 und 2) sowie ihrem Roman „Lucys Diamonds“ vermittelt sie den Leser:innen sowohl eine dunkle Ahnung von den grausamen Erlebnissen der Betroffenen von ritueller Gewalt als auch von den fatalen Wirkungen auf das weitere Leben, die auch durch die ehemalige überlebensnotwendige Schutzreaktion „Dissoziation“ entstehen. Zur Sprache kommen aber auch die für die Betroffenen zusätzlich beschämenden Kämpfe um Anerkennung ihres Leids, da sie weiterhin mit Unglauben, Ignoranz und Entwertungen seitens gesellschaftlicher Institutionen sowie mit (ver)schweigenden Medien konfrontiert sind.
Auch das Kapitel (3) „Spezielle Psychodynamische DIS-Problematiken von Kindern und Erwachsenen“ (55–170) leitet der Herausgeber Ralf Vogt fachtheoretisch ein und erläutert Facetten sozialpsychologischer Zusammenhänge zwischen seinem Konzept der Traumaabwehr und der Bedeutung von Magie, Gewalt sowie Macht in der Gesellschaft (3.1). Die international bekannte „Trainerin“ und „Klinikerin“ Frances D. Waters eröffnet der Leserschaft einen informativen Blick auf ihre systemische Arbeit mit gewalttätigen Täterintrojekten von Jugendlichen mit einer dissoziativen Identitätsstörung. Thematisch werden die psychischen und sozialen Dynamiken von allzu oft nicht erkannten dissoziierten Täterintrojekte jener Kinder und Jugendlichen, die eine leidvolle „Karriere“ in der Jugendhilfe, KJPP und/oder Jugendstrafanstalten aufweisen. Mit ihrer Beschreibung der aufeinander folgenden Schritte ihres „bindungsorientierten, dissoziationsbezogenen Behandlungsansatz[es]“ bebildert sie sowohl die notwendigen Kooperationen und Anforderungen an ein gesamtes Einrichtungsteam als auch die kreativen Möglichkeiten, wie Kinder und Jugendliche zunehmend selbstsicher ihren „Trigger“-Momenten begegnen können (3.2). Auf der Basis ihrer langjährigen (internationalen) Erfahrung greift die Psychoanalytikerin Valerie Sinason in einem persönlich gehaltenen Bericht auf, wie installierte Täterintrojekte und das damit einhergehende häufige Switchen verschiedenster „Innenanteile“ den Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses zwischen Therapeut:in und Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung beängstigend torpedieren. Am Beispiel eines konstruierten „Sammelbeispiels“ verdeutlicht sie die ineinander verflochtenen Dynamiken und Spannungen, die sich infolge installierter Opfer-Täter-Ketten auch langfristig bilden können und wie diese zu einer erheblichen Problematik des Einverständnisses von DIS-Patient:innen zu einer Fallveröffentlichung führen, die evt. juristische Folgen für die Therapeut:in haben (3.3). Mit dem bereits aufschlussreichen Titel „Wenn viele schwanger sind“ verweist die Psychologin (M.A.) Winja Buss einprägsam auf die komplexen Herausforderungen, wenn Therapeut:innen in ihrer Arbeit mit schwangeren DIS-Patientinnen konfrontiert sind. Erforderlich ist eine dezidierte Auseinandersetzung mit eigenen Einstellungen und Haltungen zu Schwangerschaft und -abbrüchen sowie eine verlässliche Bereitschaft und Fähigkeit, heftige Dauerambivalenzen und wechselnde innere Kinder-Anteilserwartungen geduldig anzunehmen. Eindrücklich wird zudem die hohe Relevanz äußerer Schutz- und Unterstützungssysteme entlang einiger konkreter Handlungsvorschläge dargelegt, die erforderlich sind, um sowohl die (zukünftige) Mutter als auch das Baby vor und nach der Geburt vor Täterintrojekte und äußeren Täter:inkontakten zu schützen (3.4). Mit Ausschnitten aus dem therapeutischen Prozess einer Langzeitbehandlung mit einer an DIS-Symptomatik schwer erkrankten Frau, gibt die Dipl. Psychologin und tiefenpsychologisch orientierte Traumatherapeutin Irina Vogt einen aufschlussreichen Einblick in die komplizierten interpersonellen Verwirrungsdynamiken, in die sowohl sie als Psychotherapeutin als auch die Patientin in den multiprofessionellen Begegnungen mit anderen Behandler:innen, medizinischen und psychosozialen Fachkräften sowie Vertreter:innen administrativer Institutionen verwickelt waren. Beeindruckend wird der hohe Rang einer frühzeitigen, sensiblen Aufmerksamkeit für Übertragungs- und Gegenübertragungsagieren im interpersonellen Geschehen deutlich (3.5). Ralf Vogt stellt in den folgenden zwei Unterkapiteln Fallvignetten zu komplextraumatisierten und dissoziativen Symptomatiken aus seiner klinisch-ambulanten Praxis vor. Die ersten drei Beispiele veranschaulichen – auch mittels fotografischer Nachstellungen – methodische Varianten von Gestalt-Therapie-Settings (3.6). Die weiteren fünf Vignetten thematisieren Hintergründe und Behandlungsverläufe mit Patient:innen mit einer diagnostizierten „dissoziativen Identitätsstörung“. Auch in diesen Fallvignetten bringt der Autor die kreativen Besonderheiten der von ihm im SPIM 30-Modell entwickelten „Fokussierte-Szenen-Arbeit“ (FSA) – ebenfalls unterstützt durch fotografische Nachstellungen – zur Anschauung und weiß im „Therapeutischen Fazit“ die psychodynamischen Bedeutungen der jeweils erarbeiteten Symbolisierungen prägnant zu bündeln (3.7).
In Kapitel 4 berichtet Ralf Vogt über neuere Forschungsergebnisse, die mittels einer Pilotstudien zu Therapieeffekten bei dissoziativen Traumafolgestörungen am Trauma-Institut-Leipzig durchgeführt wurde (171-198). Diese Pilotstudie untersucht, „was dissoziative TraumapatientInnen als Opfer zwischenmenschlicher Gewalt grundsätzlich anders erleben als einfache PTBS-NeurosepatientInnen oder solche mit Persönlichkeitsstörungen“ (171). Damit stößt das Trauma-Institut-Leipzig in eine bisherige Forschungslücke und hilft, „spezifische Unterschiede im Fokus der Behandlung von weniger, mittel- und schwertraumatisierten Patientinnen (sic) herauszuarbeiten“ (198).
Kapitel 5 enthält fünf Selbstberichte von ehemaligen Klient:innen mit komplexen von Menschen gemachten Psychotraumatisierungen (199-253). Damit greift der Band eine Perspektive auf psychotherapeutische Behandlungen auf, die nach wie vor in Fachbüchern nur allzu selten aufgenommen wird. In seiner Vorbemerkung verweist Ralf Vogt darauf, dass die Verfasser:innen genügend therapeutischen Abstand zu den von ihnen erzählten Lebens- und Behandlungssequenzen hatten und es ihnen – bei allen individuellen Unterschieden – ein gemeinsames Motiv war, „sich Gehör für ihre schmerzlichen Erkenntnisse verschaffen zu wollen“. Der Leserschaft wird mit diesen erschütternden, differenzierten und ob ihrer Offenheit emotional berührenden Erfahrungsberichten keine leichte Kost zugemutet. Und doch erzeugen die verschiedenartigen Narrationen, die feinsinnigen Reflexionen der Autor:innen und die vielfältigen Abbildungen immer wieder neu ein Panorama, das einen Einblick in schwierige, innere und äußere (Behandlungs-)Erfahrungen mit wirkmächtigen destruktiven Täterintrojekten eröffnet und eine Horizonterweiterung für ein Sinnverstehen von Interaktionssequenzen ermöglicht, in denen Verwirrung, Spaltung und Dissoziationen vorherrschen.
Kapitel 6 enthält „Neues aus der SPIM 30-Werkstatt“ (255-284). Ralf Vogt informiert über Veränderungen und Weiterentwicklungen von Bausteinen des SPIM 30-Behandlungsprogramms und seiner theoretischen Grundlegungen. Aufgezeigt werden sowohl die „Besonderheiten der indizierten Nutzung von Beseelbaren Therapieobjekten zur traumapsychotherapeutischen Arbeit bei dissoziativen Patienten“ und das Verständnis zur Methodenvielfalt in der Psychotraumatologie, wobei insbesondere die Wirksamkeit neuerer Konzepte der körperorientierten Psychoanalyse hervorgehoben wird. In einem dritten Werkstattbericht erläutert Vogt spezifische Probleme in der therapeutischen Behandlung von Menschen mit dissoziativen Traumafolgestörungen im Hinblick auf Übertragung und Gegenübertragung sowie wesentlicher SPIM 30-Implikationen zu „Subjektivität“ und „Intersubjektivität“.
Im Anhang des Buches, in Kapitel 7 (285-317), sind – neben Abkürzungsverzeichnis, Autor:innenverzeichnis, Literaturauswahl und Literaturliste – neue Therapiefotos aus dem Leipziger-Therapie-Zentrum abgebildet und Zugangsinformationen zum SPIM 30-Programm aufgenommen. So können interessierte Psychotherapeut:innen, Heilprakter:innen oder Berater:innen anschaulich das Besondere der SPIM 30-Settings erfassen, ohne dass suggeriert wird, diese würden bereits Therapieanleitungen darstellen. Der Herausgeber betont wiederholt, wie wichtig eine umfassende Fortbildung für die abgebildeten Behandlungssettings ist.
Diskussion
Es gibt inzwischen eine ganze Reihe Veröffentlichungen über psychotherapeutische Behandlungen von komplex traumatisierten Menschen. Doch greift der vorliegende interdisziplinäre Sammelband „Verwirrung, Spaltung und Dissoziation bei von Menschen gemachten Psychotraumata“ gerade mit diesen Stichworten schwierige Themenbereiche auf, die allzu selten in ihrer verschlungenen Wirkmächtigkeit theoretisch erläutert und fallspezifisch dargestellt werden. Diese Fokussierung ermöglicht, dissoziative täterpsychologische Reinszenierungen aufgrund der seelischen Zersplitterung von traumatisierten Menschen eher zu verstehen und einzuordnen und damit einem drohenden Empathieverlust in den schwierigen Interaktionen mit den Betroffenen entgegenzuwirken. Unter Verwendung eindringlicher, lehrreicher Fallgeschichten wird gut nachvollziehbar beleuchtet, wie mit Täterintrojekten und/oder Täterimplantate in der Psychotherapie achtsam und variantenreich – durch Grafiken und Fotos veranschaulicht – umgegangen werden kann, um diese zerstörerischen Opfer-Täter-Wechselwirkungs-Ketten in Interaktionen von und mit Menschen mit einer „dissoziativen Identitätsstörung“ nach und nach aufzulösen. Und dies, ohne die Grenzen der gemeinsamen, anstrengenden Arbeit zu verschweigen. Dabei wird die basale Wichtigkeit einer haltenden, tragfähigen Beziehungsgestaltung in der traumafokussierten Therapie nicht schlicht behauptet, sondern dies kommt sowohl in der Art und Weise der verschiedenen fachkompetenten Einzelfallbeschreibungen seitens der Behandler:innen als auch in den berührenden Narrationen über die eigenen schmerzlichen und doch auch erfolgreichen Therapieerfahrungen in den Selbstberichten gehaltvoll zum Ausdruck. Psychotherapeut:innen, Ärzt:innen, sozialpädagogische Mitarbeiter:innen ambulanter und stationärer Einrichtungen mit – aber auch ohne explizit – traumatherapeutischem Schwerpunkt und Mitarbeiter:innen von Beratungsstellen und nachsorgenden Einrichtungen erhalten kompakt wichtige Informationen und eröffnen ermutigende Perspektiven. Das Werk imponiert durch seine gut begründete und sensible Integration verschiedener Methodenzugänge, die sich im Rahmen einer modifizierten analytisch-tiefenpsychologischen Psychotherapie anbieten, so dass eine eindrucksvolle Komposition vielfältiger Behandlungsformen dargestellt wird.
Gemeinsam mit seinen Autor:innen ist es dem Psychotraumatologen und Psychoanalytiker Ralf Vogt gelungen, ein lehrreiches Aufklärungsbuch über die verwirrenden unbewussten intrapsychischen, interpersonellen und institutionellen Dynamiken der aus einer DIS stammenden inneren Selbstzerstörungsanteile sowie Fremdvernichtungspotenziale zu verfassen. Umso mehr war ich irritiert, in den Ausführungen von Vogt den falschen aber beliebten Mythos zu lesen, nach dem Freud das Konzept der Verführung zugunsten der Fantasiehypothese „zurückgenommen“ (269) habe, was auf eine arg verkürzte Freud-Rezeption basiert. Richtig ist vielmehr, dass Freud für einen Teil der Neurosen weiterhin die Verursachung durch Gewalterfahrungen oder schmerzhafte Verluste annahm und die mit Breuer publizierte Formel ausdrücklich beibehielt (vgl. Freud 1917, 275). Auch wenn Vogt gemeinsam mit den Freud-Kritiker:innen insofern recht hat, als dass Freud seine einfache Traumatheorie zugunsten des Konzepts der „Nachträglichkeit“ aufgab und zunehmend statt die objektive Realität die psychische Realität zum zentralen Gegenstand seiner Analyse machte, so warnte Freud das Publikum seiner Vorlesungen, sexuellen Missbrauch des Kindes allein in die Fantasie des Kindes zu verlegen. „Die meisten Analytiker werden Fälle behandelt haben, in denen solche Beziehungen real waren und einwandfrei festgestellt werden konnten“ (ebd., 361 – ähnliche Aussagen zitiert Gay 2006, 113).
In Anbetracht der Tatsache, dass Überlebende von mannigfacher (sexueller, ritueller ) Gewalt endlich zunehmend gehört und Zusammenhänge zwischen Täter:innenagieren, institutionelle, fachliche und politische Verdeckungen aufgebrochen werden, so weisen doch auch die hier dargestellten Fallgeschichten der desaströsen Opfer-Täter-Ketten deutlich darauf hin, dass die im Inneren wie im Äußeren wirkenden Täteranteile zwar in deutlicher Korrelation zu den objektiven Gewaltwiderfahrnissen im Leben der Betroffenen stehen, ohne allerdings – wie es leider noch zu oft geschieht – schlichte Kausalitätsunterstellungen entziffern zu wollen.
Fazit
Das vorliegende Fachbuch von Ralf Vogt ist ein „Muss“ für alle Akteur_innen, die in klinischer und beraterischer Praxis mit Klient:innen arbeiten. Die in diesem substanziellen Werk zur Sprache kommenden Autor:innen greifen erkennbar auf einen Fundus an theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen mit Dynamiken der Verwirrung, Spaltung und Dissoziation in den Interaktionen mit Klient:innen zurück, die (diagnostiziert oder bisher unerkannt) von Menschen gemachten Psychotraumata betroffen sind. Wenngleich ein profundes Fachbuch auf hohem wissenschaftlichen Niveau ist der Band, entsprechend seines expliziten Anspruchs, dank einer prägnanten, gut verständlichen Sprache und anschaulichem Bildmaterial auch für eine Leserschaft geeignet, die sich nicht als ausgewiesene Kenner:innen der Psychotraumatologie begreifen sowie für Betroffene, da vor allem die Fallvignetten dazu anregen können, die Möglichkeiten einer hilfreichen therapeutischen Beziehung für sich zu nutzen.
Literatur
Freud, Sigmund (1917): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In. Studienausgabe, Bd. 1 (34-445). Frankfurt/M. Fischer
Gay, Peter (2006): Freud. Eine Biografie für unsere Zeit. Frankfurt/M. Fischer.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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