Gabriele Amann: Sexueller Missbrauch an Kindern
Rezensiert von Julia Ludewigs, 27.08.2024
Gabriele Amann: Sexueller Missbrauch an Kindern. Grundlagen, Therapie und Prävention. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2023. 366 Seiten. ISBN 978-3-8017-3022-2. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,61 sFr.
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit dem Thema Sexueller Missbrauch an Kindern und geht neben Grundlagenlagenwissen zum Thema sexueller Missbrauch auch differenziert auf Entstehungsfaktoren und Psychodynamik bei Tatpersonen sowie auf Folgen, die erlebter Missbrauch für die Betroffenen haben kann, ein. Die Autorin beschreibt mögliche Bewältigungsstrategien Betroffener und umreißt die wichtige Bedeutung des sozialen Umfelds für die (gelingende) Bewältigung von Missbrauchserfahrungen; geht auf Prämissen und Werkzeugen für die psychotherapeutische Arbeit mit Opfern sexuellen Missbrauchs ein. Abschließend wird zudem der Bereich der Prävention besprochen.
Der vorliegende Band liefert somit einen zusammenfassenden Überblick zu Themen und Konzepten, die ein fundiertes Verständnis des Gegenstandsbereichs Sexueller Missbrauch ermöglichen, wobei sowohl die Seite der Opfer als auch jene der Täter behandelt wird.
Amann macht in ihrem Buch deutlich: Sexueller Missbrauch an Kindern ist ein aktuelles und komplexes Thema mit großer gesellschaftlicher Tragweite und meist langwierigen Folgen für betroffene Kinder und deren Umfeld.
Der Band liefert neben wertvollem Grundlagenwissen auch praxisbezogene Erkenntnisse für alle Fachpersonen, die sich in Forschung, Beratung, Therapie und weiteren Berufsfeldern mit dem Thema „sexueller Missbrauch an Kindern“ auseinandersetzen – und geht im Kapitel zu Prävention differenziert auf Faktoren und Möglichkeiten ein; die schützend wirken können.
Die Autorin fasst in ihrem Buch umfassend den aktuellen Forschungsstand zusammen und diskutiert diesen kritisch; sie geht auf Widersprüche in Studien und Datenlage ein und zeigt zum Teil auch Leerstellen in Forschung und Praxis auf. Aufbauend auf der Grundlage des wissenschaftlichen Standes zum Thema sexueller Missbrauch; geht sie praxisnah auf die fachliche Gestaltung therapeutischer Arbeit mit Betroffenen ein.
Autorin
Prof. Dr. Gabriele Amann ist seit 1992 als klinische Psychotherapeutin tätig und nach ihrer Habilitation 1999 als Professorin am Fachbereich Psychologie als Leitung der Arbeitsgruppe Forensische und Klinische Psychologie des Kindes und Jugendalters in Salzburg tätig.
Entstehungshintergrund
Das Thema sexueller Missbrauch ist eines, dass die Autorin in ihrer Arbeit schon lange beschäftigt – und zudem sie schon Grundlagenbücher publiziert hat. In der deutschsprachigen (Fach-) Öffentlichkeit hat das Thema „Sexueller Missbrauch an Kindern“ durch Enthüllungen zu verschiedenen Missbrauchsskandalen in Kirchen, Schulen und anderen Institutionen seit 2010 an Bedeutung gewonnen. In der Aufarbeitung verschiedener Fallkonstellationen sprachen viele Betroffene erstmals (öffentlich) über ihre Erfahrungen – woraus sich wichtige neue Erkenntnisse für Forschung, Behandlung und Prävention zum Thema Missbrauch von Kindern ergeben haben. Das Buch versucht, neben einem fundierten Wissen über die (internationale) Forschungslage, pädagogisch- psychologisch aber auch medizinisch Tätigen „etwas an die Hand zu geben“ um betroffenen Kinder/​betroffene Erwachsene besser begleiten zu können.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sechs Kapitel aufgeteilt, die durch eine konsequente Unterteilung in Unterkapitel eine gute Struktur schaffen, die es möglich macht; in einzelne Teilaspekte gezielt reinzulesen. Immer wieder gibt es hier Verweise auf Kapitel, die für das Verständnis eines Abschnittes von der Autorin als wesentlich betrachtet werden.
Das Buch umfasst die folgenden Kapitel:
- Grundlagen
- Entstehungsfaktoren
- Folgen
- Bewältigung
- Psychotherapie der Opfer
- Prävention von sexuellem Missbrauch
Einleitend beschäftigt das Buch sich mit definitorischen Grundlagen des Begriffs „Sexueller Missbrauch“, nimmt begriffliche Abgrenzungen vor und berichtet über Daten zur Häufigkeit und Verbreitung des Phänomens. Hierbei finden nicht nur Studien und Forschungsergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum Berücksichtigung. Die Entstehungsfaktoren sexuellen Missbrauchs werden im zweiten Kapitel beleuchtet. Die Autorin geht hier ausführlich auf die Perspektive der Tatperson ein und beleuchtet neben (u.A.) Tatmotivation, Überwindung von (inneren und äußeren) Hemmnissen, Täterstrategien; psychosozialen Faktoren auch gesellschaftliche Bedingungen, die z.B. in Form von Mythen sexuellen Missbrauch begleiten und z.B. begünstigen.
Das dritte Kapitel setzt sich mit den Folgen für Opfer sexuellen Missbrauchs auseinander, die ein sexueller Missbrauch nach sich ziehen kann. Hierbei werden neben verschiedenen Erklärungsmodellen und Diagnostik auch spezifische Kontexte gesondert thematisiert; z.B. Kleinkinder, geschlechtsspezifische Effekte, Traumata, Scham.
Zudem bespricht in diesem Kapitel auch unterschiedliche Störungsbereiche und – Bilder, die als Folgen sexualisierter Gewalt auftreten können (Depressionen, PTBS aber auch auf Ebene des Sexualverhaltens und Gestaltung von Partnerschaften). Im Resümee betont sie jedoch auch, dass die Ausbildung von Störungsbildern hochkomplex und auch von individuellen Resilienzen aber auch Risikofaktoren, sozialem Umfeld, Dauer und Intensität der Gewalterfahr und deren Rahmenbedingungen und Begleitumständen abhängen kann.
Kapitel 4 besteht aus einer differenzierten Betrachtung von Bewältigungsstrategien Betroffener und berücksichtigt hier ausführlich die komplexen Wechselwirkungen der Aufdeckung und Verarbeitung der Missbrauchserfahrung Betroffener und dem sozialen Umfeld. Neben Faktoren, die das Risiko erhöhen, Gewalt zu erfahren; geht sie hier auch ausführlich auf schützende Faktoren ein und bespricht, wie variabel die Strategien der Bewältigung, die Betroffene zur Verfügung haben, sein können – und wie wichtig für die weiter Bewältigung die Reaktion des (sozialen) Umfelds auf die Offenlegung von Gewalterfahrungen sind.
Schwerpunkt von Kapitel 5 liegt auf Ansätzen und Methoden der psychotherapeutischen Arbeit mit Betroffenen (Psychotherapie der Opfer). Unter dem Blickwinkel der Psychotherapieforschung werden psychotherapeutische Methodologien und Behandlungsansätze dargestellt und diskutiert. Dabei werden Besonderheiten dieser Klientel herausgearbeitet und Implikationen der spezifischen Erfahrungen von Missbrauch (u.A. Tabu, Schuldfragen, Scham, Trauma) für die Behandlungsplanung besprochen. Amann geht neben den empirischen Evidenzen in der psychotherapeutischen Behandlung auch (beispielhaft) auf einige spezifische psychotherapeutische Strategien und Symptom- und Störungsbilder ein.
Im abschließenden Kapitel geht die Autorin noch auf den wichtigen Themenbereich der Prävention sexuellen Missbrauchs ein. Amann diskutiert hier auch internationale Studien, wodurch einerseits eine große Bandbreite an Präventionsstrategien deutlich wird, andererseits aber auch, dass (gelingende) Prävention eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sexueller Missbrauch braucht. Sie stellt unterschiedliche Konzepte und Strategien der Prävention sexuellen Missbrauchs vor und behandelt diese kritisch unter dem Blickwinkel empirischer Evidenzen. Neben den Formen von Prävention bespricht sie unter anderem auch Zielgruppen und Kontexte von Präventionsangeboten (Kita; Schule, Eltern, Kampagnen). Hierbei geht sie auch auf Tatprävention und die Arbeit mit (erwachsenen) Tätern ein und betont die Bedeutung, die diese als ergänzender Bestandteil in der präventiven Arbeit haben kann.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Amann in dem Buch inhaltlich einen breiten Bogen zwischen Definitionen sexuellen Missbrauchs, der historischen Einordung des Phänomens, Verbreitung, Entstehungsbedingungen wie soziale und kulturelle Faktoren aber auch Opfer- und Tätercharakteristika aufspannt und diesen mit der empirischen Datenlage rahmt.
Diskussion
Bei dem Buch von Gabriele Amann handelt es sich um ein umfassendes Grundlagen Werk; dass sich wissenschaftlich fundiert mit dem Thema Sexueller Missbrauch beschäftigt und dennoch an vielen Stellen eine gute Anschlussfähigkeit an die (therapeutische) Praxis ermöglicht. Gerade durch die Diskussion der internationaler Studien verdeutlich Amann nochmal, dass sexueller Missbrauch kein „Einzelfall“ ist sondern ein weltweites Phänomen.
Das erste Kapitel zu Grundlagen schafft große Klarheit zu verschiedenen Definitionen sexuellen Missbrauchs, neben Definitionskriterien und inhaltlichen Schwerpunkte arbeitet sie auch heraus; wie wichtig es ist, auch den jeweiligen Kontext zu betrachten, in dem Definition eingeführt und verwendet werden. Spannend wäre hier noch ein Verweis auf den vor allem sozialwissenschaftlich geprägten Begriff der sexualisierten Gewalt; der genau wie der Begriff der sexuellen Gewalt, der in aktuellen Fachdebatten Verwendung findet. Ersterer betont, dass nicht sexuelle Handlungen, sondern Gewalt und Machterleben meist zentrale Faktoren für Taten sind.
Amann arbeitet prägnant heraus, dass ein singuläres Erklärungsmodell sexuellen Missbrauchs dem komplexen Thema nicht gerecht wird und schafft eine gute Grundlage, multifaktoriell auf das Thema zu blicken.
Hierbei ist sie konsequent darin, die Verantwortung der Tatperson für Missbrauch heraus zu arbeiten. Sie beschäftigt sich sowohl im Kapitel zu Entstehungsfaktoren als auch beim Thema Prävention damit; dass diese auch in den Blick genommen werden müssen.
Gleichzeitig zieht sich durch das Buch, dass sexueller Missbrauch immer in gesellschaftlichen und sozialen Kontexten stattfindet. Das soziale Umfeld Betroffener, gesellschaftliche Mythen zum Thema; fehlendes Wissen und Handlungssicherheit im Umgang mit Betroffenen, Leerstellen in Präventionsstrategien haben einen Einfluss darauf, wie die Folgen sexuellen Missbrauchs individuell aussehen könnten.
Ein wenig ausführlicher hätte ich als Rezensentin gerne den Themenkomplex Psychotherapie und Strafverfahren besprochen gewusst. Dieses Spannungsfeld ist in der Praxis für viele Therapeut:innen aber auch anders pädagogisch-psychologisch Tätige häufig mit vielen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten versehen und wird in der (Fach-)Öffentlichkeit weiterhin rege diskutiert.
An einigen Stellen wäre zudem eine konsequentere Unterscheidung der Adressat:innen psychotherapeutischer Methodik hilfreich gewesen; die Spezifika in der Behandlung und Arbeit mit sexuell missbrauchten Kindern kommen ein wenig kurz. In dem Zusammenhang wäre auch die Diskussion des Concept der Childhood Houeses spannend gewesen. Dieses arbeitet multiprofessionell und versucht, betroffenen Kindern und Jugendlichen (und ihren Bezugspersonen) möglichst „in einem Haus“ Unterstützung, Begleitung und Beratung zukommen zu lassen. Neben psychologischer und medizinischer Versorgung geht es hierbei auch um Zusammenarbeit mit Justiz, Jugendhilfe und weiteren lokalen Akteuren. (Fußnote https://www.childhood-de.org/)
Erklärtes Ziel des Buches ist es auch, Praktiker:innen unterschiedlicher Disziplinen Grundlagen und praxisnahes Wissen an die Hand zu geben, was an vielen Stellen gelingt. An einigen Stellen ist es aber durch die Fülle an Informationen auch sehr dicht, was es gerade für „Fachfremde“ zu einer voraussetzungsvollen Lektüre machen kann.
Fazit
Das Buch „Sexueller Missbrauch an Kindern“ von Gabriele Aman liefert einen zusammenfassenden Überblick zu Definitionen und Datenlage zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern. Der Band liefert neben wertvollem Grundlagenwissen auch praxisbezogene Erkenntnisse für alle Fachpersonen, die sich in Forschung, Beratung, Therapie und weiteren Berufsfeldern mit dem Thema „sexueller Missbrauch an Kindern“ auseinandersetzen – und geht im Kapitel zu Prävention differenziert auf Faktoren und Möglichkeiten ein, die schützend wirken können.
Die Autorin macht in dem Buch deutlich, das sexueller Missbrauch ein hochkomplexes gesamtgesellschaftliches Thema ist mit dem ein Umgang gefunden werden muss – und versucht mit dem Buch, Wissen zu vermitteln und (Fachkräfte) etwas handlungsfähiger zu machen.
Rezension von
Julia Ludewigs
AWO-Fachstelle zum Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen
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Es gibt 1 Rezension von Julia Ludewigs.
Zitiervorschlag
Julia Ludewigs. Rezension vom 27.08.2024 zu:
Gabriele Amann: Sexueller Missbrauch an Kindern. Grundlagen, Therapie und Prävention. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2023.
ISBN 978-3-8017-3022-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31351.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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