Yari Or (Hrsg.): Praxisbuch Transformation dekolonisieren
Rezensiert von Dr. Monika Pfaller-Rott, 01.03.2024

Yari Or (Hrsg.): Praxisbuch Transformation dekolonisieren. Ökosozialer Wandel in der sozialen und pädagogischen Praxis. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 354 Seiten. ISBN 978-3-7799-7310-2. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.
Thema
Das vorliegende Werk widmet sich der komplexen Thematik der „ökosozialen Transformation“ als Antwort auf die aktuellen Krisen durch die Perspektive von Diversität und sozialer Gerechtigkeit. Praktiker*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen, Therapeut*innen und Wissenschaftler*innen beschreiben in den lebendigen und anregenden Beiträgen neue Zugänge aus der Praxis für eine radikale ökologische Transformation in einem vielfältigen Europa. In dem Sammelband werden vielfältige Diskussionen und Praktiken in pädagogischen und sozialen Räumen dargestellt, die auf eine dekolonisierende Transformationspraxis zielen. Die Themen umspannen Umweltgerechtigkeits- und Community-Aktivismus, Naturpädagogik, Kunst und Kultur, sowie Transformationsarbeit über den Körper, den Emotionen und der Wahrnehmung. Im Fokus stehen die Räume und Praktiken der ökosozialen Transformation, in denen antirassistische und diversitätskritische Alternativen, welche zu postkolonialen (weißen), patriarchal (männlich und cis-normativ) und anthropozentrischen Ideologien geschaffen werden.
Die Herausgeberin beschreibt die Absicht dieser Publikation, etablierte Normen der Wissensvermittlung und ausschließende Sprache zu vermeiden und über die abwechslungsreiche Darstellung der Erfahrungen von Praktiker*innen Raum für ein breiteres, kollektives Verständnis von Handeln und Ideen zu schaffen.
Herausgeberin und Autor*innen
Die Herausgeberin Yari Or ist Professorin für Soziale Arbeit, Lernwissenschaftlerin und Ethnologin. Als Aktivistin und Akademikerin mit eigener Migrationsgeschichte (einschließlich Erfahrung von Völkermord, Flucht und Migration in ihrer Familie) setzte sie sich für eine innere und äußere Transformationsarbeit ein, mit dem Ziel einer gerechteren Zukunft. Unter den 23 Autor*innen finden sich Expert*innen mit verschiedenen Hintergründen und Fachkenntnissen, darunter Sozialarbeiter*innen, Aktivist*innen, Therapeut*innen, Künstler*innen und Pädagog*innen.
Aufbau
Die 18 Beiträge mit vielfältigen Themen und vorgestellten Methoden werden gegliedert in:
- Natur und Umwelt dekolonisieren,
- Politische Bildung dekolonisieren,
- Körper und Beziehungen dekolonisieren,
- sowie Transformationsräume dekolonisieren.
In den Buchbeiträgen werden in Kapitelbeiträgen und durch Interviews mit verschiedenen Akteuren in Europa unterschiedliche Perspektiven und Methoden zur Dekolonisierung von Transformationsräumen und -praktiken vorgestellt.
Am Ende jedes Kapitels wird den Lesern durch die fünf Fragestellungen die Möglichkeit geboten, sich intensiver mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Zudem sollen die Leser ihre eigenen Gedanken weiterentwickeln. Daher dienen diese Fragen als Anregung für Reflexion und Diskussion, um ein tieferes Verständnis der Themen und Ansätze der Dekolonisierung zu fördern.
Darüber hinaus bietet der Band eine umfangreiche Ressourcensammlung, die es den Lesern ermöglicht, ihr Wissen über die behandelten Themenbereiche zu vertiefen und weiterführende Informationen zu erhalten. Diese Ressourcen umfassen relevante Studien, Werke von Wissenschaftlern und Theoretikern sowie weiterführende Literatur, die den Lesern helfen sollen, ihr Verständnis zu erweitern und ihre Forschung zu vertiefen.
Zum Abschluss enthält der Sammelband ein wertvolles Glossar, das wichtige Begriffe und Konzepte ausführlich erläutert. Es dient als nützliches Nachschlagewerk für Leser, die mit speziellen Fachbegriffen möglicherweise weniger vertraut sind oder ihr Verständnis bestimmter Konzepte vertiefen möchten. Es trägt dazu bei, die Lektüre des Bandes zu erleichtern und den Lesern einen besseren Zugang zu den behandelten Themen zu ermöglichen.
Inhalt
Die Beiträge der Publikation behandeln verschiedene Aspekte der Dekolonisierung in der Praxis. Sie ermutigen dazu etablierte Weltbilder, Analysen, Ansätze und Methoden der Transformation mit dem Fokus auf Dekolonisierung mutig zu hinterfragen. Dies trägt zweifellos zur Diskussion und Weiterentwicklung bei.
Einführend erfolgt ein kurzer relevanter Überblick zur historischen Entwicklung von Dekolonisierungsbewegungen und ihren aktuellen Auswirkungen in Europa. Hervorgehoben werden thematisch Fragen der Inklusion in der Natur- und Umweltpädagogik, das Reclaiming von individueller Heilung als Transformationsarbeit und die Dekolonisierung von Spiritualität und Wissen. Um diese Diskussionen und Praktiken in globalen Kontexten auf vielfältige Weise kennen zu lernen, werden die Beiträge unter folgenden Schwerpunkten gegliedert:
Natur und Umwelt dekolonisieren
Ein konkretes Vorgehen besteht darin, die Bildungsarbeit zur Klimagerechtigkeit unter Berücksichtigung von Ableismus, Adultismus und Rassismus zu analysieren. Ebenso wird das Potenzial der praktischen Arbeit zum ökologischen Empowerment in Verbindung mit der Ernährungswende in migrantischen Communities betrachtet. Ferner wird die fehlende Repräsentation von Menschen aus marginalisierten Gemeinschaften bei Freizeitaktivitäten in der Natur beschrieben (z.B. antirassistische – mit Kritik auf eurozentristische – Naturpädagogik, Land- und Forstwirtschaft, Kräuterkunde, alternativen Landwirtschaft und gerechte/​nachhaltige Permakultur). Darüber hinaus setzt sich das Kapitel mit der Schaffung von Naturräumen als Empowerment-Räume für Schwarze Kinder und Jugendliche auseinander und beleuchtet gleichzeitig das kolonial-rassistische Erbe der Naturpädagogik (Stichwort: indigene Praktiken).
Politische Bildung dekolonisieren
Der Abschnitt beginnt mit einem Beitrag zur globalen Klimagerechtigkeit als soziale Gerechtigkeit mit Bezug auf dekoloniale Bildungsarbeit und fordert intersektionale Lösungsansätze mit Rückblick auf die koloniale Geschichte. Mit der Bestandsaufnahme möglichst aller Lebewesen beschäftigt sich der Artikel „Politik von allen für alle“, indem allen Organismen politische Macht (Parlament, Exekutive, Judikative …) gegeben und demokratisch verhandelt wird. Es folgen Beiträge über Dekolonisierung von Natur, in der Kunst und Kunstvermittlung und über Schreib-Begegnungen, beispielsweise mit Denker*innen aus Lateinamerika, Nachdenken über feministische Strukturen, uvm.
Körper und Beziehungen dekolonisieren
Der Artikel „Muskelkater in den Ahnen – 'Ja' zum Körper, Tor zur Befreiung“ setzt sich mit körperorientiertem Empowerment Training jenseits der Vernachlässigung des Körpers auseinander, zurückgehend auf das Theater der Unterdrückten von Paulo Freire genauso wie Tanztherapie, Yoga Feldenkrais etc. mit dem Ziel der Einheit von Geist, Körper, Natur und Community. Es folgen Beiträge über Dekolonalisierung der Wahrnehmung, wobei – um nur einige Kapitel zu betrachten – der Verlust ökologischer Verbindungen durch ökosomatische Tanzpraxis ebenso angesprochen wird wie das Spüren der Verbindung mit dem Land oder die Körperwahrnehmung durch Begegnung mit anderen. Im Kapitel „Die Heilung der Mensch-Natur-Beziehung im Mutterleib, Geburt und Mutterschaft durch Ökosomatik“ spricht sie sich beispielsweise dafür aus, statt der westlichen Medizin, die Körper und Geist trennt, die Dekolonialisierung medizinischer Geburtspraktiken zu fokussieren und die Natur als Therapeutin und Heilerin ernst zu nehmen.
Transformationsräume dekolonisieren
Der Artikel „The Circle of Oyá/Iansa: Transformation mit der Hilfe unserer Ahnen“ beschäftigt sich nicht nur mit der eigenen spirituellen Heilung und Ermächtigung, sondern auch mit der Ehrung der Ahnen und sieht das Reich der Ahnen als Quelle der Kraft, Stärke und Orientierung – beispielsweise zum Aufbau von Resilienz, zur Orientierung. Es folgen noch Beiträge über das Erkennen von dominanten Denk- und Verhaltensmustern in unseren Gruppen in Verbindung mit Erfahrungen zum Kartenset „Raus aus der Dominanz“, sowie zur Selbstermächtigung in der Klimagerechtigkeitsbewegung und Community Accountability als „kollektive Fürsorge mit dem Ziel, Gewalt oder Verletzungen in Beziehungen unabhängig von Institutionen oder Rechtssystemen aufzuarbeiten“ (S. 320) um Traumata zu verringern (Stichwort: außerhalb des Justizsystems restaurative Gerechtigkeit).
Diskussion
Endlich ist es so weit: Radikal neue Ideen und Ansätze zur Gestaltung einer ökosozialen Wende werden aus der Perspektive und mit Stimmen von Menschen aus Ländern des sog. Globalen Südens beschrieben, die gehört werden möchten und sollten. Dies geschieht insbesondere, um die dominanten Zugänge zu ökosozialer Transformation in Deutschland, der globalen Netzwerke, die grundlegenden Strukturen der Ausbeutung und Zerstörung kritisch zu betrachten.
Die vorliegende Publikation stellt somit eine äußerst wertvolle Ergänzung zu rein theoretischen Werken zu Dekolonisierungs- und Transformationstheorien dar und ist für ein breites Spektrum von Lesern – von Wissenschaftlern und Praktikern bis hin zu Studierenden und Interessierten – von großem Nutzen. Sie bietet eine gelungene und vielfältige Reflexion über eigene Perspektiven, Vorurteile und Denkweisen sowie über postkoloniale, patriarchale und anthropozentrische Haltungen und Ideologien. Insbesondere wird eine gründliche Analyse postkolonialer, patriarchaler und anthropozentrischer Ansätze in Beziehungen, Gemeinschaften und Gruppen vorgenommen.
Es ist wichtig anzumerken, dass die Publikation nicht nur eine narrative Darstellung zahlreicher konkreter Projekte bietet, sondern auch eine Vielzahl von promovierten Wissenschaftler*innen zu Wort kommen lässt, die einen wissenschaftlich fundierten Praxis-Theorie-Bezug herstellen (siehe relevante Studien und Wissenschaftler*innen/​Theoretiker*innen z.B. Robin Wall Kimmerer, Cal Sagan, Eugene Genli, Helen Poynor, Thích Nhát Hanh, Ruth King, Suely Rolnik, Donna Haraway, Jane Bennett).
Leser*innen dieser wertvollen Publikation werden eingeladen zu einem Perspektivwechsel, in Bescheidenheit zu gehen, zuzuhören, mit Wertschätzung die eigene Sichtweise einfach einmal außer Acht zu lassen. Erst nach dem Zuhören, Verstehen und Wahrnehmen ist es möglich in Dialog zu treten, um die ernsthafte Berücksichtigung von besonderen Kritikpunkten im Transformationsdiskurs, wie z.B. kulturelle Aneignung (cultural appropriation) im dialogischen Miteinander und mit gegenseitiger kultureller Wertschätzung auf gleicher Augenhöhe auszutauschen. Die kritische Betrachtung von generellen Aussagen wie „Wenn du das Weißsein hereinlässt, nimmt es dir alles, was du hast“ verdeutlicht die Notwendigkeit eines differenzierten Diskurses. Die einseitige Kritik an „exotisierenden Nachfragen zu ihrer Person“ wirft die Frage auf, ob ein Blick in die Gegenwart nicht gewinnbringender wäre und ob wir nicht letztendlich alle Mitglieder einer großen Menschheitsfamilie sind.
Fazit
Das „Praxisbuch Transformation dekolonisieren“ bietet eine umfassende und vielschichtige Betrachtung der ökosozialen Transformation. Es ist eine wertvolle Ressource für Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Studierende, die sich mit dem Thema auseinandersetzen möchten, zudem trägt es zur Entwicklung eines breiteren Verständnisses von Handeln und Ideen im Transformationsprozess bei.
Rezension von
Dr. Monika Pfaller-Rott
Akad. Oberrätin, Dipl. Sozialpäd., Dipl. Pädagogik, Dipl. Management, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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