Dierk Borstel, Claudia Luzar (Hrsg.): Besonderen Gruppen begegnen
Rezensiert von Prof. Dr. René Börrnert, 20.03.2025

Dierk Borstel, Claudia Luzar (Hrsg.): Besonderen Gruppen begegnen. Wie Zugänge in der Praxis Sozialer Arbeit gelingen können. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 153 Seiten. ISBN 978-3-7799-6509-1. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Soziale Arbeit steht im Auftrag, Personen in prekären Lebenslagen zu unterstützen. Über diese Gruppen wird viel gesprochen und zumeist bloß vermutet, ohne jedoch mit den Betroffenen selbst zu reden. Es existieren Vorurteile, Stigmata oder Nichtwissen. Das vorliegende Buch zeigt Wege auf, wie der Zugang zu solchen Personengruppen trotz möglicher Schwierigkeiten gelingen kann. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen der Kontaktaufnahme, der Kommunikation und der Herstellung von Vertrauensverhältnissen als Basis professioneller Praktiken der Sozialen Arbeit.
Herausgeber:innen/​Autor:innen
Dr. Dierk Borstel ist Professor für praxisorientierte Politikwissenschaft an der Fachhochschule Dortmund. Arbeitsschwerpunkte sind Forschungen zur Radikalisierung/​Deradikalisierung, Wohnungslosigkeit und Gefährdungen der demokratischen Kultur.
Dr.in Claudia Luzar ist Professorin für Sozialpolitik und politische Bildung an der Katholischen Hochschule Freiburg. Arbeitsschwerpunkte sind Konflikt- und Gewaltforschung, Radikalisierung/​Deradikalisierung, psychosoziale Arbeit in Kriegs- und Krisengebieten.
Die Autor:innen der anderen Beiträge sind sowohl im Hochschulbetrieb als auch in der Praxis Sozialer Arbeit tätig. Der Band ist als Lehr- und Lesebuch für Studierenden der Sozialen Arbeit und Fachkräfte in diesen Arbeitsfeldern konzipiert.
Aufbau und Inhalt
In einer Mischung aus wissenschaftlichen Abhandlungen, Erfahrungsberichten und Interviews werden die einzelnen Arbeitsbereiche dargestellt. Die Beiträge stehen alle für sich und bauen nicht aufeinander auf. Gegenstand des Buches sind Adressat*innengruppen der Sozialen Arbeit, „bei denen sowohl der Zugang als auch die spätere Kommunikation mit ihnen häufig als schwierig erachtet wird“ (7).
Einleitung
Die Herausgebenden Borstel und Luzar stellen die einzelnen Kapitel vor und betonen, sie sprechen „nicht nur über diese Menschen und objektivieren sie so, sondern erkennen sie als Subjekte ihrer selbst an“ (10).
Kommunikation als Basis
Der erste Schritt der oben genannten Anerkennung besteht in der Begegnung mit wertschätzender Anerkennung. Amerein diskutiert in Folge ihrer grundlegenden kurzen Erörterungen zu diesem konstituierenden Element Sozialer Arbeit Kriterien „guter“ Kommunikation sowie „direkte Kommunikation“ als möglichen präferierenden Stil.
Wohnungslosenhilfe
Nübold und Sonnenberg zeigen auf, welche spezifischen Besonderheiten die Lebenslagen wohnungsloser Menschen prägen und wie Soziale Arbeit zu gestalten ist, um gesellschaftliche Ungleichheiten nicht zu reproduzieren. Ihre Reflexionen der Profession beziehen dabei die Aspekte Macht, Wirklichkeit als Konstruktion und die Adressat:innen selbst mit ein.
Drogensüchtige
Szczepanek setzt den Fokus ihrer Ausführungen auf Niedrigschwelligkeit in Theorie und Praxis, wobei sie konkret „Kontaktaufnahme“ und „Nähe und Distanz“ als besondere Herausforderungen in dem Arbeitsfeld betrachtet.
Brennpunktschule
Im Beitrag von Lohmann geht es um Schulsozialarbeit, die im Kontext einer Schule im „Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf“ (so der aktuelle Begriff für „Sozialer Brennpunkt“), besondere Aufgaben hat. Mehr als an anderen Schulen fungiert die Fachkraft hier „in besonderem Maße als Vertrauensperson, da die Kinder häufig aus belastenden Familienverhältnissen stammen und nicht immer jemand anderen haben, mit dem sie über ihre Sorgen sprechen können“ (53). Zudem erfordert der hohe Anteil an Kindern aus diversen Kulturkreisen eine hohe interkulturelle Kompetenz. Die Autorin bespricht Methoden, um im Erstkontakt Vertrauen zu gewinnen, was dann zu einem weiteren guten Arbeiten führen kann.
Jugendvollzugsanstalt
Im Interview beantwortet Experte Nickolai Fragen zur Macht des Sozialarbeiters in diesem Arbeitsfeld. Stichworte sind hierbei: Nähe und Distanz, Vertrauen, Kontaktaufnahme und Beziehungsaufbau. Auf die Frage, was ein Sozialarbeiter mitbringen muss, um im Gefängnis zu arbeiten, nennt er solche Eigenschaften wie Frustrationstoleranz, Komplikationskompetenz, Fairness, Gerechtigkeit, Akzeptanz und „ein dickes Fell“.
Ältere Menschen
Am Beispiel des Projektes „KommiT“ aus Stuttgart verdeutlichen Doh, Jokisch, Günther und Jäkh, wie digitale und soziale Teilhabe im Alter gefördert werden kann: „Durch ein gezieltes sozialpädagogisches Ansprachekonzept und ein medigeragogisches Peer-to-Peer-Konzept konnten nicht nur digitale Grundkompetenzen vermittelt werden, sondern auch eine internetspezifische und eine allgemeine Selbstwirksamkeit. Zudem konnte das Gefühl der Obsoleszenz und gesellschaftlichen Ausgrenzung reduziert werden und neue Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und Selbstständigkeit im Alter gefördert werden“ (80).
Prostituierte
Auf die Kernfrage „Wie gelingt der Zugang zu dieser besonders schwer erreichbaren Zielgruppe?“ antwortet Forschungsexpertin Wege im Interview. Hierbei arbeitet sie zwei Typen von Prostituierten heraus. Erstens solche, die ihrer Prostitution freiwillig und selbstbestimmt nachgehen und sich gut selbst versorgen können. Für die Soziale Arbeit seien aber die eines zweiten Types Relevant, weil sie oft durch alle sozialen Raster fallen: „Das sind die Frauen, die nicht freiwillig und selbstbestimmt der Tätigkeit nachgehen, die über keine Ressourcen verfügen, die mit prekären Lebenssituationen zu kämpfen haben, vielleicht auch eine instabile Persönlichkeit oder auch andere psychische Belastungen aufweisen und die eigentlich dringend auf Unterstützung angewiesen sind“ (96).
Rechtsextreme Jugendliche
Sehr klar strukturiert bringen Borstel und Luzar ihre Forschungs- und Praxiserfahrung hier zu Papier. Wenngleich Rechtsextremismus heute in der Ausprägung der 1990er Jahre nicht mehr anzutreffen sei (Stichwort: Springerstiefel und weiße Schnürsenkel), so habe er sich jedoch nicht vollends aus den Köpfen (nicht nur) junger Menschen verabschiedet. Die Phänomene haben sich vielmehr ausdifferenziert, sind zunehmend ins Digitale verschwunden und somit weniger offen präsent als zur Zeit der Politischen Wende in Deutschland und danach. Die Autor:innen klären folgende Kernfragen: Was ist Radikalisierung und wie lässt sie sich erkennen, welche Aufträge hat Soziale Arbeit, wie gelingt der Zugang und die Kommunikation, welche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen braucht es und welche Chancen und Grenzen sind auszumachen?
Soziale Arbeit in Gewaltkontexten
Der Beitrag von Raiser fällt etwas aus der Reihe, da er sich nicht auf Soziale Arbeit in Deutschland, sondern in Kolumbien bezieht. Gleichwohl beschreibt der Autor gut nachvollziehbar, wie Konfliktsituationen identifiziert werden können und welche Zugänge es zu den Akteuren und Betroffenen gibt.
Linke Jugendsubkultur
Brandstetter geht der Frage nach, “wie sich die Lebenswelt einer Reihe von Jugendsubkulturen gestaltet – auch solcher, die sich explizit als ‚links‘ verstehen, welche durchaus im Sinne von vielen Jugendforscher*innen noch als ‚Bewegung‘ bezeichnet werden, und die vielerorts ihren Ursprung in den 70er/80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben“ (117). Die kritische Analyse des Autors formuliert die Rolle von sozialen Fachkräften als Beobachtende und Begleitenden mit Anwalt-Funktion, die sich durch eine kritische Parteilichkeit auszeichnen.
Migrationsarbeit
Der Beitrag von Sozialer Arbeit für ein gelingendes interkulturelles Miteinander wird im Interview mit Bulic in den Blick genommen. Der Experte beschreibt hier die aufsuchende Arbeit, bei der die Menschen im Sozialraum und das trägereigene Netzwerk aktiv beteiligt werden.
Leitfaden
Zum Schluss bieten die Herausgebenden Borstel und Luzar einen Leitfaden für den Zugang zu den vorab beschriebenen Personenkreisen.
Diskussion
Es lässt sich hier kurzfassen: Der Mix aus verschiedenen Darstellungsformaten ist didaktisch plausibel, kurzweilig lesbar und dadurch gut erfassbar. Die Autor:innen bieten Grundlagentexte zu den Adressat:innen-Kreisen und immer auch Verweise zur vertiefenden Lektüre. Die Herausgeber:innen halten Einleitung und Fazit hinreichend knapp und formulieren auf den Punkt. Das Buch ist insgesamt trotz des schmalen Umfangs sehr aussagekräftig.
Fazit
Knapp und für einen ersten Zugang sehr passend skizziert der Band die besonderen Personengruppen, auf die Soziale Arbeit Bezug nimmt. Gerade für Studierende bietet das Buch einen guten Über- und Einblick.
Rezension von
Prof. Dr. René Börrnert
Fachhochschule des Mittelstands (Rostock)
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