Daron Acemoglu, Simon Johnson: Macht und Fortschritt
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.10.2023
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Daron Acemoglu, Simon Johnson: Macht und Fortschritt. Unser 1000-jähriges Ringen um Technologie und Wohlstand. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. 560 Seiten. ISBN 978-3-593-51794-0. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.
AcemogluMachtFortschritt
Macht wird gemacht, Fortschritt entsteht…
Die Einschätzung ist richtig und falsch. Richtig, weil es sich um Tätigkeiten und Eigenschaften handelt, die menschliches Denken und Handeln bestimmen; falsch, zumindest fragwürdig, weil die sich aufdrängenden Zusammenhänge keine Automatismen, sondern in jeweils individuellen und kollektiven Situationen menschengemacht sind. Es ist also richtig und angezeigt, die Phänomene synonym und antonym zu betrachten. Die Reflexionen über „Wer bin ich“ und „Wie bin ich geworden, wer und was ich bin?“ sind intellektuelle, existentielle, Anforderungen (Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022). Die Denk- und Gefühlslagen des anthrôpos sind, nach Aristoteles, auf Veränderungs- und Wandlungsprozesse ausgerichtet und bestimmen Entstehen und Vergehen: „Jede Bewegung ist nach Raum und Zeit teilbar“. Vom britischen Schriftsteller Ken Follett stammt die Erkenntnis, dass in der Geschichte der Menschheit jede Zeit eine Zeit des Wandels sei, womit er darauf hinweist, dass die Aufmerksamkeiten und Aufgeregtheiten der Menschen, ihre Zeit sei eine Epoche der außergewöhnlichen Krisen, relativ zu betrachten wären. Das bedeutet allerdings nicht, sich fatalistischen, traditionalistischen Auffassungen hinzugeben – „Was kann ich kleines Licht schon dagegen ausrichten?“ und „Das haben wir schon immer/noch nie so gemacht!“ und „Da könnt‘ ja Jeder kommen!“ – sondern die Phänomene, wie sie bei Macht- und Fortschrittssituationen entstehen und wirken, analytisch und aufgeklärt zu thematisieren und gegen blinde Fortschrittsgläubigkeit und elitäre Einstellungen zur Technologie und Machbarkeit vorzugehen.
Die Autoren
Die Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und Simon Johnson vom Masssachusetts Institute of Technologie (MIT) registrieren: „Den meisten Menschen auf der Erde geht es heute besser als ihren Vorfahren…“, zumindest in den industriell und technologisch entwickelten Ländern; doch global betrachtet gibt es gravierende Unterschiede und Ungerechtigkeiten: „Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer“. Das hat zu tun mit den vorherrschenden, entstandenen Macht- und Ohnmacht-Verhältnissen in der Welt. Ihr Tenor: Eine bessere, gerechtere, menschenwürdige (EINE) Welt ist möglich! Dazu bedarf es des Paradigmenwechsels, der ökonomisches Wirtschaften auf neue, gerechte und menschenwürdige Grundlagen stellt (Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018).
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort, in dem die Autoren die Frage stellen: „Was ist Fortschritt?“, wird die Studie in elf Kapitel gegliedert: Im ersten diskutieren und argumentieren Acemoglu und Johnson über die Möglichkeiten und Positionen, „Kontrolle über die Technologie“ zu erlangen. Sie setzen sich auseinander mit den Sogwirkungen, scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Automatismen des Fortschrittsbewusstseins auseinander. Sie identifizieren visionsoligarchische Entwicklungen und fordern: „Wir müssen diese moderne Oligarchie an die Kandare nehmen“. Im zweiten Kapitel titeln sie einen Analyse- und Lösungsvorschlag: „Kanalvision“. Es sind Herausforderungen, die Blicke über den eigenen Gartenzaun zu richten. Mit dem Beispiel des Baus des Suez-Kanals in Ägypten und des Panama-Kanals, die entscheidend verwirklicht werden konnten, dass überwiegend europäische (französische) Kapitaleigner durch Aktienkauf die notwendigen finanziellen Mittel aufbrachten. Im dritten Kapitel thematisieren die Autoren das Geschick und die Chuzpe des Kanalbauers Ferdinand de Lesseps (1805 – 1894) die „Macht zu überzeugen“. Die Gefahren, die sich aus Egoismen, Machtgebrauch, Erhalt und Ausweitung ergeben, führen in die „Visionsfalle“: Sobald eine Idee erfolgreich verwirklicht ist, zeigen sich Wunsch und Absicht, weiter zu machen. Viertens wird diskutiert, wie es Herrschern und Mächtigen gelingt, „das Elend (zu) kultivieren“. Es sind die Synergien zwischen Zwang, Macht, Manipulation und Überzeugungskraft, die zur Vorteilsnahme und Bevorzugung der Besitzenden und zur Benachteiligung der Habenichtse führen. Der historische, faktische Diskurs wird im fünften Kapitel weitergeführt mit dem Aufweis, dass „eine Revolution der mittleren Sorte“ sich auftat; mit der Schaustellung des industriellen Fortschritts in Weltausstellungen und Präsentationen. Die von England ausgehende industrielle Revolution speiste sich aus Aufstiegshoffnungen und -erwartungen der Arbeiter, die jedoch der Macht des Kapitals unterlagen. Diese Entwicklungen werden im sechsten Kapitel mit „Opfer des Fortschritts“ thematisiert. Es waren Kinderarbeit und Ausbeutung, die das ungleiche Verhältnis zwischen Arbeit, Kapital und Kolonialismus bestimmten, und die den Kapitalismus zum globalen Machtbeherrscher werden ließen. Als „umstrittene(r) Pfad“ titeln die Autoren das siebte Kapitel. Es sind die zahlreichen Versuche, einen Gleichklang zwischen Kapitalismus und Sozialismus herzustellen, ein Einverständnis zwischen Ökonomie und Ökologie zustande zu bringen, die das Leuchtzeichen (oder die Fata Morgana) des „New Deal“ in den globalen Diskurs brachte und die Vision vom „geteilten Wohlstand“ aufkommen ließ. Achtens wird der „digitale Schaden“ ins Spiel gebracht. Es sind die Soft- und Hardware-Strategien, die Produktion und Markt bestimmen und gewissermaßen zwangsläufig die Entwicklung von der Automatisierung hin zur KI vollzogen. Als „künstliches Ringen“ bezeichnen die Autoren im neunten Kapitel die Prozesse, die als „KI-Traumwelten“ aus der traditionellen Drei-Klassen-Gesellschaft eine Zweiklassengesellschaft machen: „An der Spitze stehen die großen Tycoons, die fest davon überzeugt sind, dass sie aufgrund ihrer überragenden Genialität ihren Reichtum verdient hätten. Ganz unten befinden sich die einfachen Menschen, die nach Einschätzung der Tech-Entrepreneure fehleranfällig sind und in der Arbeitswelt ersetzt werden sollten“. Entsteht daraus die Konsequenz, dass, wie im zehnten Kapitel befürchtet wird, dass „die Demokratie zerbricht“? Am unkontrollierten autoritären, diktatorischen, undemokratischen Zensuren- und Überwachungssystem als politische Waffe? Mit den Mitteln der Propaganda, der Manipulation und von Fake-News? Was also wären Widerstand und Selbstbestimmung? Im elften, letzten Kapitel, erläutern die Autoren, wie eine „Neuausrichtung der Technologie“ und des technologischen Wandels sich vollziehen könnte: Durch Reformen, die darauf gründen, dass menschliches Dasein eingebunden sein muss in das Bewusstsein: Der Mensch gehört zur Erde, sie gehört ihm nicht!
Immer schon werden die Menschen – philosophisch, anthropologisch, gesellschaftlich, politisch und aktualistisch – aufgefordert, sich zu verändern. Die Richtungen und Zielsetzungen dabei sind immer bestimmt von den jeweils vorherrschenden Zu- und Umständen. Die zunehmenden Krisen, natur- und menschengemachten Katastrophen vermitteln mittlerweile eine Ahnung, dass die Menschen in ihrem bisherigen „Immer-Mehr“- Denken und Tun und ihrem Bewusstsein, alles machen zu dürfen, was sie können (oder zu können meinen), nicht den Mehrwert, sondern das Ende der Menschheit bewirken: „Eine andere, bessere Welt ist möglich“ – diese vielfach und in unterschiedlichen Varianten formulierte Hoffnung und Zielsetzung, dass es gelingen möge, allen Menschen ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Dasein auf der Erde zu ermöglichen und für alles Leben und Existieren in der Welt nachhaltige Bedingungen zu schaffen, wird immer wieder von ego-, ethnozentristischen, nationalistischen, rassistischen und populistischen Verhaltensweisen ge- und verhindert. Der Anthropologe David Graeber (+2020) und der Archäologe und Ethnologe David Wengrow haben in rund einem Jahrzehnt ein Gedanken- und Dialog-Experiment durchgeführt: Wie kann es gelingen, anthropologisch, kultur-und naturwissenschaftlich zu erkunden, für die Menschheit eine bessere Gegenwart und Zukunft zu denken? Sie richten dabei ihre Aufmerksamkeit auf Fragen, wie in der Menschheitsgeschichte kollektive Organisationsformen und Systeme entstanden sind, und wie diese positiv oder negativ, förderlich oder hinderlich auf Erwartungshaltungen wie Glück, Freiheit, Gerechtigkeit, Humanität… gewirkt haben; wie sie kapitalistische, ego- und eurozentristische oder soziale, gemeinschaftsbildende Entwicklungen förderten oder verhinderten. Sie betrachten dabei die Zeitspanne von rund 30.000 Jahren und analysieren, welche Imponderabilien bis heute bemerkbar und wirksam sind (David Graeber/David Wengrow, Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, 2022).
Diskussion
Vom MIT kommen immer wieder bedeutsame Berichte und Forschungsergebnisse über den Zustand und die Entwicklung der Welt. Bekannt und wegweisend sind z.B. die 1972 an den Club of Rome adressierten Berichte von sieben jungen Wissenschaftlern, mit der Warnung, dass die Grenzen des (ökonomischen) Wachstums erreicht seien (Dennis L. Meadows, u.a., Die Grenzen des Wachstums, 183 S.). Es sind die Ratschläge von Joseph Weizenbaum, mit Bescheidenheit und Skepsis und einer „Ethik des Verzichts“ auf die fortschreitenden, technologischen und virtuellen Entwicklungen zu reagieren (Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, 1978, 369 S.). Und es sind die Analysen des Naturwissenschaftlers Eduard Pestel, der den Auffassungen vom „quantitativen Wachstum“ das „organische, differenzierte Wachstum“ gegenüberstellt (Eduard Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, 1988, 208 S.). Es sind nicht zuletzt und fortwährend die Aufforderungen zum Perspektivenwechsel, wie sie die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 zum Ausdruck bringt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2. Aufl., Bonn 1997, S. 18). Der faszinierende Entwurf für die Entwicklung eines theoretischen und praktischen Rahmenmodells für ökonomisches und ökologisches Denken und Handeln fokussiert vier wesentliche Zielsetzungen: Wie wirken sich Produktionssteigerungen und -entwicklungen auf Löhne aus – Wie offen und bestimmt dürfen Innovationen für Technologien sein – Wie vollziehen sich die Diskussionen und Bestimmungen darüber, wie Produktionsgewinne ge- und verteilt werden – Wie gestalten und etablieren sich verfasste und gesetzlich festgelegte, institutionalisierte Machtverhältnisse. Es gibt verschiedene Bilder und Anschauungen, Zeitenwenden und Zeit-Erlebnisse darzustellen: Der Schrei (Edvard Munch), der Riss (S.L.Hoffmann), und Kosselecks Feststellung, dass man das Vergangene nicht erkennen könne, wenn man das Gegenwärtige nicht verstünde (Stefan-Ludwig Hoffmann, Der Riss der Zeit, 2023).
Es bleibt die Zumutung, sich intellektuell und real mit gesellschaftlichen, sozialen, politischen, menschengemachten Zuständen auseinanderzusetzen. Es sind Fragen um das Ich, das Andere, Zeit und Raum, die es ermöglichen, mächtige und fortschrittliche Ereignisse nicht einfach hinzunehmen, sondern sie zu gestalten (siehe dazu auch: Christian Schüle, Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben, 2017).
Fazit
Der Anspruch der Autoren, mit dem Rahmenmodell zum Thema „Macht und Fortschritt“ eine Alternative zu den herrschenden Lehrmeinungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vorzulegen, erfüllt sich mit den Auseinandersetzungen darüber, „wie politische und soziale Macht die Technologie-Auswahl beeinflussen und wie Institutionen und Technologie-Auswahlen gemeinsam bestimmen, in welchem Ausmaß Kapitaleigner, Unternehmer und Arbeitnehmer unterschiedlicher Qualifikationsgrade von neuen Produktionsmethoden profitieren“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 10.10.2023 zu:
Daron Acemoglu, Simon Johnson: Macht und Fortschritt. Unser 1000-jähriges Ringen um Technologie und Wohlstand. Campus Verlag
(Frankfurt) 2023.
ISBN 978-3-593-51794-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31363.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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