Philipp Rhein: Rechte Zeitverhältnisse
Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 15.04.2024

Philipp Rhein: Rechte Zeitverhältnisse. Eine soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. 397 Seiten. ISBN 978-3-593-51750-6. D: 45,00 EUR, A: 46,60 EUR.
Hinführung
Das vorliegende Buch ist die Veröffentlichung der Dissertation von Philipp Rhein, wie aus der Danksagung am Schluss deutlich wird.
Autor
Phillip Rhein, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe für Politikwissenschaft der Universität Kassel und Mitglied des Promotionskollegs »Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität« an der Universität Tübingen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält neben der ausführlichen Einleitung sieben Kapitel, die wiederum viele Untergliederungen aufweisen. Die sehr ausführliche Einleitung (19 Seiten) führt gleich in das Thema umfassend ein. Die in der Öffentlichkeit häufig wahrgenommenen Auffassungen, die Rechtspopulisten seien regressiv und würden vergangene goldene Zeiten beschwören, werden schon hier widerlegt: „Eine Einsicht lässt sich daraus schon vorweg gewinnen: eine Empörung über das vermeintlich nostalgisch Ewiggestrige rechtspopulistischer Weltanschauung verharmlost das Phänomen. Und in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Rechtspopulist*innen wird es weniger darauf ankommen, die ideologischen Inhalte oder programmatische Inhaltsleeren zu demaskieren; und noch weniger darauf, die vermeintlichen Ängste und Sorgen besorgter Bürger*innen auf demokratischen Abwegen wird zunehmen. […] Rechtspopulist*innen sind Aussteiger*innen aus den demokratischen Spielregeln der spätmodernen Gegenwartskultur und sie verweigern daher auch jede demokratische Gestaltung einer Zukunft. Die Zeit ist ihnen ‚reif‘ und -im doppelten Wortsinn- die ‚rechten‘ Zeitverhältnisse gekommen (sic!) um für eine ausgewählte Elite eine Zukunft vorzubereiten“ (S. 30). Eine der wesentlichen Ursachen liegt in der Erfahrung und Interpretation von Zeit: „Dabei stößt die empirische Analyse dieser Arbeit auf die Bedeutung kollektiver Erfahrung nichtnur in der Zeit, sondern auf Erfahrungen des Verlustes von Zeit selbst. […]. Dabei wird die These entwickelt, dass im Rechtspopulismus die Wut über den Verlust einer temporalen Ordnung der Gesellschaft zum Ausdruck kommt und dabei um diese Ordnung gerungen wird. Gesellschaftliche Zeitordnungen sind der Entfaltungsraum für gesellschaftliche Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen, sie sind Begrenzungsraum für Visionen und Utopien; sie stecken Erwartungshorizonte in der Zukunft und die Geltungsbereiche von Erfahrungsräumen in der Gegenwart ab; sie wirken als sozial strukturierende Wissens- und Kommunikationsstruktur“ (S. 15, Hervorheb. im Original). In diesem Zusammenhang steht auch die weitere (zentrale) These: „Der zeitgenössische Rechtspopulismus, so die zentrale These dieser Arbeit, beutet bestimmte konjunktive Erfahrungen mit den gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen der Spätmoderne aus. allerdings ist dies weniger im Sinne einer Wut über den Verlust von Vergangenheit zu begreifen. Womöglich verhält es sich im Rechtspopulismus gerade andersherum: Der gegenwärtige Blick der AfD wählenden spätmodernen Erfahrungsträger*innen auf eine für sie bedrohliche Zukunft prägt auch ihren Blick auf Vergangenheit und modifiziert ihn, wobei die sinnstiftende Verbindung zwischen diesen Zeitebenen als ‚Verlustwut‘ erfahren und vom Rechtspopulismus entsprechend symbolisch aufgewertet, programmatisch artikuliert und befeuert wird“ (S. 22). Auch wenn in diesem Buch viel von der AfD die Rede ist, so dient diese hier nur exemplarisch für das Phänomen Rechtspopulismus, aber gerade an ihr als in Parlamenten vertretene Partei mit ihrem politischen Agieren und Auftreten lassen sich viele Dinge belegen und beleuchten. Insofern ist es kein Buch über die AfD.
Das erste Kapitel widmet sich der Frage, ob es sich um eine Krisenzeit handelt oder eine Zeitkrise. Auf vergleichsweise wenigen Seiten (15 Seiten) kommt Philipp Rhein nach Sichtung einschlägiger Untersuchungen und im Vorgriff auf eigene empirische Befunde zu dem Schluss: „Aus den narrativen Interviews mit den untersuchten AfD-Wähler*innen dieser Studie geht eher hervor, dass es sich beim Rechtspopulismus nicht nur um ein Phänomen einer Krisenzeit, sondern einer tiefer liegenden Zeitkrise handelt“ (S. 33, Hervorheb. im Original). „Die Wahrnehmung von Zeit unter zeitlichen oder geschichtlichen Selbstverortung im gesellschaftlichen Geschehen scheint nicht nur unabhängig von objektiv-materiellen Bedingungen zu sein, sondern insbesondere in weniger wirtschaftlich und sozial bedrohten Soziallagen besonders prekär zu sein. […] Was in den Erfahrungswelten von Rechtspopulist*innen auf besondere Weise durchzubrechen scheint, sind die gesellschaftlichen Zeitstrukturen, die in der Spätmoderne in eine Krise geraten sind. Sie treten bei ihnen eine nihilistische Verlustwut los“ (S. 45).
Im zweiten Kapitel geht es um die von Philipp Rhein angeführte Verlustwut, die eng mit dem zeitlichen Erleben verbunden ist. Dazu geht er auf die Zeitvorstellungen in Lauf der Geschichte ein, um dann in der Moderne anzukommen und aufzuzeigen, wie sich das historisch verändert hat. „Mit der Theorie funktionaler Differenzierung und mit der Unterscheidung von Zeitformen im Kapitalismus lässt sich auf soziologisch-gesellschaftstheoretischer Linie das Dominantwerden der Vorstellung einer universellen, singulären Geschichtsvorstellung und einer linearen Zeitmodalität seit der Neuzeit erklären, diese hat eine kontingente und entwicklungsoffene Zukunft hineinentwickelt. […] Politische Gestaltbarkeit der offenen Zukunft einerseits, Entfremdung in der verdinglichen, abstrakten Zeit und Beschleunigung sozialen Wandels andererseits sind die Erfahrungskorrelate der moderne Zeitstruktur“ (S. 62 f.). Das ist untersetzt durch Untersuchungen zur Spätmoderne, wobei die These von einerseits des Verlustes von spätmoderner Zeitkultur und andererseits das kollektive Verlusterleben von Zukunft hier noch einmal bekräftigt wird.
Kapitel 3 ist die Hinführung und Erläuterung zur Empirie. Mittels der dokumentarischen Methode und auf der Basis von soziologischen Einordnungen (wie soziale Lage, Generationenbegriff, Gemeinschaft als Erfahrungsraum) erfolgt die Erläuterung der Datengenese und Auswahl der gewählten Forschungsmethode. Insgesamt 12 sehr ausführliche narrative Interviews bilden hier die Datenbasis. Die Interviews wurden noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geführt. Sie sind in der Regel länger als 90 Minuten. Aufgrund der schwierigen Zugänglichkeit von Interviewpartner*innen wurden Einzelinterviews durchgeführt anstatt Gruppendiskussionen. Aus dem beruflichen und privaten Umfeld von Philipp Rhein ergaben sich zufällige Kontakte zu AfD-Wähler*innen.
Kapitel 4 befasst sich bereits mit der Auswertung der Datenlage. Dabei werden zwei verschiedene Sinntypen herausgearbeitet: Die ‚Durchschauenden‘ und die ‚Opfer‘. „Den ‚Durchschauenden‘ ist ein elitäres Selbstbild zu eigen. [Die ‚Opfer‘ …] zeigen sich nicht egalitär-selbstgewiss, sondern bedroht“ (S. 131). Die ‚Durchschauenden‘ haben also plausible Erkenntnisse, warum Dinge so sind, wie sie wahrgenommen und interpretiert werden und grenzen sich mit dieser Gewissheit sogar teilweise ab. Die ‚Opfer‘ wiederum sehen sich als ausgegrenzt oder stigmatisiert und fühlen sich als Minderheit. Beide Typen werden anhand von ausführlichen Zitaten und Einordnungen in den Kontext ausführlich beschrieben und erläutert, bevor sie in einer Zusammenfassung als ‚Selbstviktimisierung‘ und ‚Selbstelitisierung‘ beschrieben werden, was wiederum Ausgangspunkt für das nächste Kapitel ist, in dem es um die eingangs schon häufig angesprochenen Zeitbilder in Verknüpfung der Selbstbilder geht und was bedeutet das für die Verarbeitung eines Erfahrungsraums der Spätmoderne?
Im Zusammenhang mit den soziodemografischen Daten lassen sich drei Typisierungen herausarbeiten, die im Zentrum von Kapitel 5 stehen: die berufliche Selbstständigen, die zur Gruppe der ‚Durchschauenden‘ zugeordnet werden können, die prekären ‚Opfer‘, die eher destruktiv eingestellt sind und die neue Gruppe von jungen Angestellten, die ebenfalls dem Typus ‚Opfer‘ zuzuordnen sind, allerdings nicht prekär leben, sondern eine apokalyptische Sichtweise haben. Anhand von ausführlichen Interviewpassagen werden die unterschiedlichen Sichtweisen, was ihre Begründung betrifft, herausgestellt, gleichwohl einend in einer pessimistischen Zukunftsaussicht.
Es ist dem Zufall und der Möglichkeit der Datenauswahl geschuldet, dass ein Großteil der befragten Personen aus Württemberg stammt. Daher kommt hier (Kapitel 6) noch eine Variante dazu: Chiliasmus als revolutionär-endzeitliche Orientierung, verbunden mit der Interpretation der Gegenwart als dem Untergang geweiht und ausbrechend aus dieser Gegenwart in eine neue und andere Zukunft. Daraus entwickelt Phillip Rhein die württembergisch-pietistischen Basistypik, was anhand vieler Interviewpassagen und Erläuterungen noch sehr differenziert aufgeschlüsselt wird. Es ist auch kein homogenes Bild, was sich hier zeigt, sondern daran wird eine breite Streuung mit unterschiedlichen Bezügen und Rechtfertigungen deutlich.
Das letzte Kapitel 7 fasst bisherigen Ausführungen zusammen und deutet diese vor allen Dingen im Hinblick auf das Selbstverständnis der AfD-Wähler*innen und auf die Bedrohung der Demokratie. „Mit ihrer chiliastischen Utopie verarbeiten sie biographische Erfahrungen, und diese Erfahrungen sind für sie insbesondere in temporaler Hinsicht problematisch geworden. […] Sie deuten und beschreiben Vergangenheit als Verlust und die Gegenwart als Gefahr, weil die Zukunft verschlossen und bedrohlich erscheint“ (S. 347 f.). Die Deutungshoheit von Normalität ist ein Bild von einer weißen, ethnisch-homogen-deutschen Gesellschaft, bestehend aus heterosexuell-patriarchalen Kleinfamilien. „Die chiliastische Utopie der AfD-Wähler*innen ist auf Zukunft gerichtet und speist sich von einer Vorstellung einer Wiederkehr der ewigen Normalität, die sie zu repräsentieren glauben. Dann allerdings unter anderen Vorzeichen. Dann würden die Auserwählten das Ruder übernehmen“ (S. 348). Rechtspopulismus, so die Analyse von Philipp Rhein, ist eine sehr ernstzunehmende Bedrohung für die Demokratie, denn AfD-Wähler*innen haben längst den Glauben daran verloren, dass die Welt gemeinsam mit anderen gestaltet werden kann. „Chiliastische Rechtspopulist*innen sind eine besonders drastische Erscheinungsform dieser Gegenwart: mit ihrer elitär narzisstischen Selbstaufwertung negativer Privilegierung betreiben sie eine krude Form von Selbstoptimierung und verweigern darin schon die Vorstellung, eine gemeinsame Zukunft mit anderen überhaupt haben zu können. Darin verabschieden sie sich aus der Demokratie“ (S. 366). Auf diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, ob Menschen mit diesem Selbstverständnis überhaupt noch für ein Parteiensystem mit einem gemäßigten Spektrum zu gewinnen sind. Philipp Rhein bezweifelt das ein wenig und resümiert zum Schluss: „Am Ende geht es um die Verteidigung der Demokratie, mehr noch: um die Verteidigung demokratischer Zukünfte gegen diejenigen, die sich eine Zukunft (nur noch) ohne sie vorstellen können“ (S. 366).
Diskussion
Auch wenn die Anzahl der Proband*innen relativ gering und dazu auch noch regional begrenzt ist, so lassen sich dennoch typisierende Anschauungen herauslesen, was dem Verfasser auch gut gelungen ist. Insbesondere die Differenzierung der Typologien, die sich erst einmal sehr unterscheiden und dann im Hinblick auf die Erwartung von Zukunft dennoch vereinen, macht deutlich, wie breit und heterogen das Spektrum ist. Deutlich wird daran auch, wie geschickt es die AfD (und andere rechtspopulistische und -extreme) Strömungen verstehen, diese Motivationen aufzunehmen und trotz ihrer Heterogenität zu bündeln.
Das Buch ist nicht unbedingt leicht zu lesen, was dem akademischen Kontext der Dissertation geschuldet ist. Insofern bleibt es fraglich, ob es politisch auch zur Kenntnis genommen wird (was sehr wünschenswert wäre), denn hier sind Erläuterungen und Zusammenhänge ersichtlich, die helfen, die gegenwärtigen Polarisierungen und Popularisierungen besser zu verstehen (anstatt diese auch noch plakativ mit zu bedienen). Auch wenn die Interviews vor der Corona-Pandemie entstanden sind und die Pandemie sicherlich noch einige Narrative mehr anreichernd für das jeweilige Weltbild liefern konnte, so sind die Ergebnisse der Studie nicht überholt, weil sie grundsätzliche Fragen aufnimmt und erläutert.
Fazit
Das Buch legt eine fundierte Analyse von potentiellen AfD-Wähler*innen vor, indem es aufzeigt, was diese Menschen bewegt und vor allen Dingen auch, wie diese Motivationen entstanden sind. Wer sich mit Rechtspopulismus an sich und seiner Funktionsweise wie auch der Wählerschaft dieser Gruppierungen befassen will, findet hier gut hergeleitet ein differentielles Bild, weil Einheitsschemata oder pauschale Bewertungen dem nicht gerecht werden.
Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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