Joachim Langner, Maren Zschach et al.: Jugend und islamistischer Extremismus
Rezensiert von Maria Wolf, 19.02.2024
Joachim Langner, Maren Zschach, Marco Schott, Ina Weigelt: Jugend und islamistischer Extremismus. Pädagogik im Spannungsfeld von Radikalisierung und Distanzierung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2023. 291 Seiten. ISBN 978-3-8474-2697-4. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.
Thema
Islamistischer Extremismus als Phänomen unter jungen Menschen lässt Fachkräfte oft unsicher zurück, fehlt es doch an Wissen über Radikalisierung und Distanzierung, um adäquate Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Der Sammelband bietet Forschungseinblicke zu Hinwendungs- und Distanzierungsprozessen junger Menschen und fördert damit die pädagogische Orientierung.
Herausgeber:innen
Die Herausgeber:innen sind wissenschaftliche Referen:innen unter der Leitung von Dr. Maren Zschach im Projekt „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention“ des Deutschen Jugendinstituts am Standort Halle/​Saale.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband entstand im Rahmen des von 2020 bis 2024 BMFSFJ-geförderten Projekts „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention“ des DJIs und vereint – im Frühjahr 2021 über einen offenen Call for Papers eingeworbene – empirische Beiträge zum Thema.
Aufbau
Die Veröffentlichung gliedert sich in zwei Abschnitte.
- Teil 1 präsentiert Forschungsbeiträge zu islamistischen Hinwendungs-, Radikalisierungs- und Distanzierungsprozessen junger Menschen.
- Teil 2 legt den Schwerpunkt auf die pädagogische Auseinandersetzung in unterschiedlichen islamistischen Radikalisierungskontexten.
Inhalt
Einleitend legen die Herausgeber:innen den Forschungsstand zu Hinwendung und Radikalisierung junger Menschen und zu pädagogischen Angeboten und Handlungspraxen im Kontext von Islamismus dar. Eine Diskussion der heterogenen Begriffe „Extremismus“ und „Islamismus“ bietet Orientierung im unübersichtlichen Diskurs einer noch überschaubaren Datenlage. So verläuft die begriffliche Einordnung angelehnt an die Bearbeitung rechtsextremer Radikalisierung im Jugendalter, gleichzeitig wird auf Besonderheiten aufgrund von Transnationalität und Stigmatisierung hingewiesen.
Janine Linßer, Gerrit Weitzel und Sebastian Kurtenbach fragen im ersten Beitrag des ersten Teils ob und wie sich salafistische Narrative in Einstellungen und Handlungen junger Menschen wiederfinden lassen. Die zentrale Aussage der qualitativen Studie ist, dass diese Narrative kaum auszumachen sind. Stattdessen lässt sich ein hohes politisches Bedürfnis finden, was durch Hürden eingeschränkt wird: Die Jugendlichen wollen beteiligt werden! Daher wird mit der Forderung Politik erfahrbar zu machen, eine ressourcenorientierte Integrations- und damit auch Präventionsform beschrieben.
Laura-Romina Goede und Jenny Marina Butt werten die JuPe-Jugendstudie von Schüler:innen der 9. Klasse aus und beschreiben individuelle und kollektive Diskriminierungserfahrungen als Risikofaktoren für islamistische Einstellungen. Dabei zeigt sich jedoch nur – oder immerhin – ein schwacher Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung kollektiver Diskriminierung, einem hohen Selbstwert und islamistischen Einstellungen.
In einer retrospektiven Studie mit sechs jungen Erwachsenen aus Berlin und Bonn thematisieren Nevin Uca, Nora Kleffmann, Aziz Dziri und Tim Müller die Widerstandsfähigkeit hinsichtlich islamistischer Angebote und Ideologien im Nahumfeld von Jugendlichen. Die Befragten befanden sich in ihrer Jugend in radikalisierte Peergroups und zum Teil selber in einem Radikalisierungsprozess von dem sie sich abgewendet haben. Resilienz ist dabei situationsabhängig und von vielen Faktoren geprägt. Als wichtige Ressourcen zur Belastungsbewältigung werden in der Studie die Möglichkeit zur demokratischen Partizipation sowie berufliche und ehrenamtliche Angebote genannt.
Die Funktion von Gender-Aspekten innerhalb von Involvierungs- und Distanzierungsprozessen untersuchen Kurt Möller, Katrin Maier und Florian Neuscheler. Dabei spielen unerfüllte Lebensgestaltungsbedürfnisse bei den Involvierungsprozessen ebenso wie enttäuschte Erwartungen und Desillusionierung bei den Distanzierungsprozessen eine große Rolle. Genderbezogene Differenzierungen bieten Ansatzpunkte für die Präventionsarbeit.
Laura Dickmann-Kacskovics rekonstruiert Biografische Erfahrungen junger Frauen in salafistischen Gruppierungen in Deutschland anhand zweier biografischer Interviews. Salafismus wird darin als Form der Lebensbewältigung in Situationen der Missachtung verstanden. Insbesondere das Bild einer „heilen Welt“ und das Stillen „weiblicher“ Bedürfnisse nach Sicherheit und Harmonie wird durch den Salafismus angeboten. Es werden Hinweise für die Distanzierungsarbeit vorgeschlagen.
Die Genderperspektive wird auch vom Beitrag über Potenziale eines biografieanalytischen, gendersensiblen Blick auf Hinwendungen und Distanzierungen im Feld des islamistischen Extremismus von Michaela Glaser und Susanne Johansson anhand einer biografischen Fallrekonstruktion eingenommen.
Nina Käsehage beschließt den ersten Teil des Buches mit ihrem Beitrag über jihadistische Sozialisationsprozesse junger Mädchen aus gewaltaffinen Milieus. In den 20 qualitativen Interviews, die für die Studie ausgewählt wurden, ist besonders die Wechselwirkung eigener Gewalt- und frühkindliche Mißbrauchserfahrung mit einer kompensatorischen Gewaltverherrlichung gegenüber Andersgläubigen auffällig.
Der zweite Teil des Sammelbands beginnt mit einem Beitrag von Britta Hecking und Victoria Schwenzer zu Resilienzbildung im Quartier. Anhand von Interviews, Gruppendiskussionen und Stadtteilbegehungen mit Jugendlichen werden Risiken und Resilienzen des untersuchten Stadtteils im Zusammenhang mit islamistischer Radikalisierung herausgearbeitet. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Rolle einer Einrichtung sozialräumlicher Jugendarbeit für Mädchen gelegt.
David Yuzva Clement rekonstruiert Beobachtung, Wissen und Handlungspraxis pädagogischer Fachkräfte im Kontext salafistischer Radikalisierung Jugendlicher und arbeitet auf der Basis von Interviews mit Fachkräften der Offenen Kinder- und Jugendarbeit eine Typologie der beobachteten Situationen und Herausforderungen im Umgang mit der Zielgruppe aus. Als problematisch zeigt sich dabei insbesondere ein Handlungstypus, der religiöse Fragen – damit aber eben auch Identitätsbestandteile der jungen Menschen – mit dem Verweis auf weltanschauliche Neutralität ausklammert, oder aber der entgegenstehende Typus, der diese Themen gleichsam als over-rapport allein auf der Sachebene diskutiert. Was als hilfreich sichtbar wird, ist ein fachliches Selbstbewusstsein, das aus einer souveränen Grundlage durch ein handlungsfeldfeldspezifisches Konzept und dessen fachlicher Umsetzung erwächst.
Den Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus beleuchten Maren Zschach, Annika Jungmann und Joachim Langner unter der Fragestellung, wie Fachkräfte in der Radikalisierungsprävention mit diskriminierenden und rassistischen Erfahrungen von jungen Menschen umgehen. Die empirische Basis bilden fünf 2019 durchgeführte Interviews mit Fachkräften im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung von Modellprojekten zur Radikalisierungsprävention des Bundesprogramms „Demokratie leben!“
Maike Nadar und Saloua Mohammed Oulad M’Hand beschäftigen sich mit Erreichbarkeitsstrategien in der Radikalisierungsprävention. Im Wesentlichen wird eine deskriptive Zusammenfassung der Erfahrungen von Einrichtungen geboten, die von Aussagen eines Aussteigers aus den „Zeugen Jehovas“ flankiert werden.
Die Einflüsse von Sozialisationsinstanzen und strukturellen Bedingungen auf Deradikalisierungs- und Distanzierungsprozesse junger Menschen im Kontext islamistischer Radikalisierung wurden von Eike Bösing, Yannick von Lautz, Mehmet Kart und Margit Stein untersucht. Basis dafür waren 25 inhaltsanalytisch ausgewertete qualitative Interviews mit Fachkräften. Nachvollziehbarer Weise betont der Beitrag neben den klassischen Sozialisationsinstanzen besonders die Rolle professioneller Deradikalisierungsbegleitung.
Den finalen Beitrag legen Maximilian Ruf und Dennis Walkenhorst zu praxisgeleiteter Distanzierungsforschung vor. Untersucht werden dabei ebenfalls anhand inhaltsanalytisch ausgewerteter qualitativer Interviews mit distanzierungswilligen jungen Menschen, ihrem Umfeld und involvierten Fachkräften die Verläufe der Distanzierung. Dabei entsteht ein komplexes Bild begleiteter und autarker Distanzierung. Für die Praxis besonders wertvoll sind die herausgearbeiteten „blinden Flecken“, die sich der Routine des Alltags fachlicher Bearbeitung entziehen.
Diskussion
Für die Leser und Leserinnen, die bis dahin nur wenige Berührungspunkte mit dem Thema islamistische Radikalisierung hatten, hinterlässt der Sammelband einen gemischten Eindruck. Das gezielte Lesen einzelner Beiträge ist wegen des mitunter geringen Erkenntniswertes etwas unbefriedigend, die Gesamtschau jedoch lässt ein Bild entstehen, das breite Einblicke in ein Feld voller Unbekannten gewährt. Grund dafür ist die noch stark ausbaufähige Forschungslage.
Islamistische Radikalisierung wird als Gegenbewegung zu Marginalisierung, Isolation, Rassismus und Diskriminierung beschrieben, die von den Identitätsangeboten des Islam geprägt ist (S. 33 f.). Die Blickrichtung auf den Extremismus verläuft dabei analog zum Diskurs über Rechtsextremismus (S. 9 ff.), der weitaus umfassender erforscht ist. Für die Forschung wirft der Sammelband nun mehr Fragen auf, als er beantwortet und bietet damit viele Anknüpfungspunkte für Anschlussforschung. Für die Praxis enthält er bereits jetzt Ansatzpunkte für eine sensible Betrachtung des fachlichen Handelns.
Eine erste Erkenntnis ist, dass islamistische Radikalisierung im Jugendalter kein Massenphänomen ist. Teilweise fragt man sich gerade beim Lesen der Forschungsbeiträge des ersten Teils, ob hier nicht gar einem Phantom hinterhergejagt wird. Ganz so ist es sicherlich nicht, denn die Folgen für die Einzelnen und ihr Umfeld sind immens und damit ist und bleibt das Thema relevant. Vor diesem Hintergrund ist jedoch zu bedenken, ob und wie stigmatisierende Effekte auch auf die Hypothesenbildung in der Forschung wirken.
Darauf aufbauend lautet eine weitere wichtige Erkenntnis, dass auch im Themenkreis islamistischer Radikalisierung die Angst vor dem Fremden abzulegen ist. Es müssen in der Praxis Reflektionen in den Vordergrund rücken, die Othering vermeiden, damit das fachliche Handeln an dem orientiert bleibt, was allgemeiner fachlicher Standard des jeweiligen Handlungsfelds ist.
Zum dritten sind mit dem – wenn auch noch spärlichen – Wissen über Radikalisierung und Distanzierung aus einer genderspezifischen Perspektive, die Glaubenssätze der Handlungsfelder zu überdenken. Im Kontext von Radikalisierungsprävention geht es u.a. auch um die Stärkung der Sozialisationsinstanzen und das Aufrechterhalten der positiven Wirkungen sozialer Kontrolle durch das Umfeld. Sozialräumliche Ansätze, hinausreichende Arbeit und Elternarbeit sind dabei durchaus hilfreiche Ergänzungen zu den etablierten Handlungspraxen Sozialer Arbeit, die der Stärkung bedürfen.
Zu beachten ist, dass extremistische Phasen in der Adoleszenz, trotz Distanzierungsbewegungen, identitätsbildend sind. Extremismus kann daher nicht allein in der Frage des Einstiegs, der Zugehörigkeit und des Ausstiegs als abgeschlossen gelten, sondern muss als Identitätskomponente anerkannt und wertgeschätzt werden.
Das Fachkräftehandeln im Kontext von islamistischer Radikalisierung und Deradikalisierung bewegt sich damit im Spannungsfeld sozialarbeiterischer Fachlichkeit und einer konkreten islamismusbezogenen Interventionsstrategie. In der konkreten Praxis ist die Grenze zu suchen. Ganz allgemein ist die Frage nach Islamismus und dem sozialarbeiterischen Umgang damit eher als vorsichtige Annäherung zu bezeichnen. Konkrete Modelle und Handlungskonzepte für die Praxis bietet der Sammelband kaum, es liegen jedoch durchaus Hinweise zur eigenständigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen vor, die anschlussfähig an die Bedingungen vor Ort gemacht werden müssen.
Fazit
Der Sammelband zur empirischen Forschung im Spannungsverhältnis von Jugend und islamistischen Extremismus bietet eine anregende Einführung in die Erscheinungsformen von Radikalisierung und Distanzierung. Viele Lücken für die weitere Forschung werden gekennzeichnet und Ansatzpunkte für die fachliche Reflexion der Praxis geboten. Daher ist es nur zu empfehlen, die Beiträge im gesamten auf sich wirken zu lassen.
Rezension von
Maria Wolf
MA Soziale Arbeit
Lehrkraft für besondere Aufgaben, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Es gibt 19 Rezensionen von Maria Wolf.
Zitiervorschlag
Maria Wolf. Rezension vom 19.02.2024 zu:
Joachim Langner, Maren Zschach, Marco Schott, Ina Weigelt: Jugend und islamistischer Extremismus. Pädagogik im Spannungsfeld von Radikalisierung und Distanzierung. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2023.
ISBN 978-3-8474-2697-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31373.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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