Jessica Gröber, Marc André Kellert et al. (Hrsg.): Quantitative Daten in bildungswissenschaftlichen Disziplinen
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim König, 23.11.2023
Jessica Gröber, Marc André Kellert, Dirk Hofäcker (Hrsg.): Quantitative Daten in bildungswissenschaftlichen Disziplinen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2023. 212 Seiten. ISBN 978-3-8474-2687-5. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.
Herausgeber:innen
Prof. Dr. Dirk Hofäcker lehrt Methoden der Quantitativen Sozialforschung am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Seine inhaltlichen Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der internationalen Sozialpolitik- und Arbeitsmarktforschung.
Jessica Gröber, M.A., ist dort Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie lehrt im Bereich der quantitativen empirischen Forschungsmethoden und befasst sich in ihrer Forschung mit dem Bezug Jugendlicher zu Wissenschaft.
Marc André Kellert, B.A. ist wissenschaftliche Hilfskraft an der dortigen Professur für quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung und lehrt im Bereich Propädeutikum und quantitative Forschungsmethoden. Er ist studierter Sozialarbeiter und hauptberuflich als Case-Manager für die Diakonie Düsseldorf tätig.
Thema und Entstehungshintergrund
Der Umgang mit quantitativen Daten der sozial- und bildungswissenschaftlichen Forschung stellt für Studierende in den Bildungs- und Sozialwissenschaften eine Herausforderung dar, sowohl mit Blick auf die Nutzung von Sekundärdaten als auch bezüglich der Erhebung quantitativer Primärdaten. Vor diesem Hintergrund entstand innerhalb der Arbeitsgruppe „Quantitative Methoden empirischer Sozialforschung“ am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen die Idee, ein außercurriculares Seminar anzubieten, das derartige Vorbehalte abbauen und zur Nutzung quantitativer Daten anregen sollte. Aus diesem Angebot entstand die Idee, Kernelemente des Seminars auch nachfolgenden Studierendengenerationen in Form eines Sammelbandes zur Verfügung zu stellen. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt auf der Vermittlung von ergänzendem, auf dem Inhalt klassischer Lehrbücher aufbauendem Wissen und auf praktischen Kompetenzen zur Durchführung eigener Forschungen mit dem Fokus auf quantitativen Methoden.
Aufbau und Inhalt
Einen sehr informativen Blick auf die Bedeutung und die Rolle quantitativer Daten in den sozial- und bildungswissenschaftlichen Disziplinen präsentiert Jessica Gröber im ersten Kapitel des Buches. Ihre Forderung, ‚data literacy‘, also eine differenzierte und umfassende Vermittlung von Datenkompetenz auch in den Studiengängen dieser Disziplinen zu etablieren, begründet sie gut nachvollziehbar. Anhand eines Überblicks über die Ablaufschritte empirischer Forschung identifiziert sie dann spezifische Themenblöcke und Herausforderungen in dieser Hinsicht, die schließlich auch die Struktur für die weiteren Kapitel des Buches liefern, die von verschiedenen Autor:innen verfasst wurden, jeweils vor dem Hintergrund der gemeinsamen Verhandlungen im oben erwähnten Seminar an der Universität Duisburg-Essen.
Im zweiten Kapitel werden die methodischen, methodologischen und fachspezifischen Perspektiven auf die Nutzung quantitativer Daten in bildungswissenschaftlichen Disziplinen entfaltet. Ausgangspunkte dafür sind die immer noch deutliche Skepsis gegenüber rein quantitativen empirischen Zugängen in den sozial- und bildungswissenschaftlichen Disziplinen sowie die offensichtlichen Grenzen ihrer Reichweite bei der Erforschung von individuellen und an Personen orientierten Gegenständen. Dirk Hofäcker, Jessica Gröber & Marc André Kellert präsentieren dazu eine Überblick über aktuelle Debatten zu den Möglichkeiten und Grenzen quantitativer Daten. Sie gehen dabei auf die Bedeutung von Evidenzbasierung in der Sozialen Arbeit sowie auf Perspektiven der verschiedenen bildungswissenschaftlichen Disziplinen ein. Bereits hier wird deutlich, dass der Blick auf die Grenzen quantitativer Methoden gleichzeitig einen Ansatzpunkt für die Möglichkeiten qualitativer Verfahren bietet und umgekehrt. Wenig überraschend endet der Abschnitt dann mit einem klaren Plädoyer für die gemeinsame Nutzung und Kombination quantitativer und qualitativer Verfahren.
Carsten Schröder nimmt in seinem Beitrag zur Mixed-Methods-Forschung genau dieses Plädoyer auf und diskutiert es als eine Frage nach methodologischer und methodischer „Zukunftsmusik“. Er präsentiert dazu gelungene Praxisforschungsprojekte aus der Sozialen Arbeit und stellt gleichzeitig deren Bezug und Relevanz für eine professionstheoretische Debatte in diesem Bereich, die in der Herausforderung besteht, die Eignung verschiedener Methoden und Datentypen sowie die Kombinationsmöglichkeiten zur Bearbeitung der eigenen Forschungsfrage abzuwägen.
Das dritte Kapitel widmet sich dann der zentralen Frage nach geeigneten Datenquellen in der bildungs- und sozialwissenschaftlichen Forschung. Sinnvollerweise steht hier am Anfang die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärdaten und die Empfehlung, bereits vorhandene und frei zugängliche Sekundärdaten offensiv zu nutzen. Ein Beispiel für amtliche Daten sind die der Deutschen Rentenversicherung Bund, welche zu wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung stehen. Die sich hier ergebenden Möglichkeiten erläutern Leila Akremi und Katharina Werhan. Sie diskutieren Spezifika, die Entstehung und Analysemöglichkeiten von prozessproduzierten Daten, gehen dazu auf das Datenangebot der Deutschen Rentenversicherung ein und stellen vor diesem Hintergrund zwei Forschungsbeispiele vor.
Wie einfach der Zugang zu den Daten von Forschungsdatenzentren ist, verdeutlicht Moritz Heß am Beispiel des Deutschen Alterssurveys (DEAS) und des European Social Surveys (ESS). Mit beispielhaften Fragestellungen, Auswertungen und Ergebnisdarstellungen sollen insbesondere Studierende zur Nutzung von Sekundär- und Surveydaten ermutigt werden, etwa wenn es um die Erhebung von Einstellungsfragen und subjektive Indikatoren geht.
Mit Blick auf die methodischen und methodologischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Erhebung eigener Primärdaten zu erheben, wird in diesem Buch auf viele bereits vorliegende Anleitung speziell auch für den bildungs- und sozialwissenschaftlichen Bereich verwiesen. Nur ein Ansatz, der bisher wenig Beachtung gefunden hat, wird näher vorgestellt: Mojgan Stegl präsentiert in ihrem Beitrag „Soziale Netzwerkvisualisierungen in der bildungswissenschaftlichen Forschung mit Stata® und VennMaker®“. Sie geht dazu aufgrundbegriffe und Maßzahlen der sozialen Netzwerkanalyse und auf die Potenziale dieser Methode etwa bei der Analyse des sozialen Kapitals sensu Bourdieu ein und zeigt an Beispielen, wie eine praxisorientierte Erfassung, Beschreibung und Darstellung sozialer Netzwerke funktioniert.
Sam Zeini widmet sich der Soziale Netzwerkanalyse auf Basis von sozialen Medien mit dem von Beispiel von Twitter – inzwischen bekannt unter X. Auch hier stehen das praktische Vorgehen bei der Analyse der Daten sowie die Möglichkeiten der Visualisierung im Vordergrund. Besonders bedeutsam sind aber auch die ethischen und rechtlichen Überlegungen zum Schutz der Daten dabei.
In einem engen Zusammenhang dazu stehen die Herausforderungen bei der Rekrutierung und Erhebung spezifischer Zielgruppen, die nun im vierten Kapitel von Anne Bohlender, Jana Brix, Thorsten Heien, Jessica Gröber & Dirk Hofäcker referiert werden. Viel dreht sich dabei um Lösungsansätze für verschiedene zielgruppen- und disziplinspezifische Herausforderungen: Rekrutierungs- und Erhebungsstrategien werden sehr praxisnah aufzeigt und anhand von Studien des Sozialforschungsunternehmens Kantar Public verdeutlicht. Thematisiert werden dazu u.a. Herausforderungen in der Forschung mit Kindern und Jugendlichen, Geflüchteten sowie Wohnungslosen.
In zwei weiteren Beiträgen, die sich den Spezifika von Menschen mit psychischen Erkrankungen (Thomas Forkmann) und der Zielgruppe der obdachlosen Menschen (Kai Hauprich) widmen, werden interessante Hinweise und Tipps zum Zugang zu diesen Zielgruppen, zu Möglichkeiten zur Kooperation mit Einrichtungen, zum Einholen des Einverständnisses solcher Zielgruppen, zum Umgang mit krankheitsbedingten Besonderheiten in der Forschung sowie zur Entwicklung von spezifischen Erhebungsdesigns präsentiert und diskutiert.
Besonderheiten, aus denen sich die Forderung nach ethischen Richtlinien und rechtlichen Vorschriften bei der Beforschung von vulnerablen Zielgruppen ergeben, greift Vanessa Lettieri schließlich im fünften Kapitel auf und formuliert Kriterien für einen entsprechenden Datenschutz in der empirischen (Sozial-)Forschung. Sie erläutert, welche Schritte hier zu beachten sind und welche praktischen Konsequenzen sich dabei aus der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ergeben, etwa auch im besonderen Fall von Minderjährigen. Eine Checkliste zur Prüfung der notwendigen Arbeitsschritte auf dem Weg zu einer datenschutzkonformen Forschung kann insbesondere Studierende und Lehrende genau dazu befähigen.
Diskussion
Empirische Zugänge zu sozial- und bildungswissenschaftlichen Praxisfeldern sind noch immer deutlich dominiert von qualitativen Methoden. Dies hat in weiten Teilen auch seine inhaltlich gut begründbare Richtigkeit. Allerdings, und hier liegt ein zentraler Verdienst dieses Buches, ist es wichtig, auch die Potenziale und Reichweiten quantitativer empirischer Forschung zu betrachten und zu stärken. Dass der Königsweg meist in Mixed-Methods-Zugängen liegt, bringen die Autor:innen an schönen Beispielen illustriert gut zum Ausdruck.
Verdienstvoll ist es auch, dass in dem Buch drei zentrale Perspektiven im Zusammenhang mit der quantitativen Analyse von Daten, die gleichzeitig deutliche Herausforderungen darstellen, identifiziert und auch Gewinn bringend und handlungsleitend diskutiert werden:
- Die große Menge an inzwischen frei zugänglichen Sekundärdaten birgt ein enormes Potenzial gerade auch in den sozial- und bildungswissenschaftlichen Disziplinen. Ihre regelgeleitete Analyse kann sehr Gewinn bringende Verwertungszusammenhänge für die jeweilige Praxis eröffnen.
- Vor allem in der Sozialen Arbeit kann Praxisforschung durch einen gekonnten, den ethischen und rechtlichen Vorgaben genügenden Zugang zu spezifische Zielgruppen belastbare Befunde und Erkenntnisse mit Blick auf die methodische und konzeptionelle Weiterarbeit innerhalb der Praxis und auch der Profession ermöglichen.
- Die wachsende Bedeutung von Datenkompetenz und die Konsequenzen, die sich daraus für die Akteure im Bereich empirischer Forschung ergeben, kommt an einigen Stellen gut zum Ausdruck. Gerade dies hätte allerdings unter dem Label ‚data literacy‘ noch deutlich stärker betont werden können. Hier liegt gerade in der Ausbildung an Hochschulen eine künftig zentrale Herausforderung.
Insgesamt betrachtet wird der in der Einleitung formulierte Anspruch, einen Leitfaden zur Erweiterung der quantitativen Datenkompetenzen zu liefern, eher nur partiell und an einigen wenigen Stellen eingelöst. Ein kurzer Überblick, welche Analysemethoden für quantitativen Daten zur Verfügung stehen und welchen Mehrwert sie für die sozial- und bildungswissenschaftliche Disziplinen haben, hätte dem Buch gut getan. Nichtsdestotrotz sind die Überlegungen zur Netzwerkanalyse absolut erhellend. Der vorliegende Band stellt eine spannende und zukunftsweisende Ergänzung der vorliegenden Lehr- und Arbeitsbüchern zur Praxisforschung im sozial- und bildungswissenschaftlichen Feld dar.
Fazit
Der Sammelband präsentiert die Vorzüge quantitativer Forschung in sozial- und bildungswissenschaftlichen Disziplinen sowie die großen Potenziale von Mixed-Methods-Studien, gerade mit Blick auf die hier relevanten Zielgruppen. Studierende der Bildungs- und Sozialwissenschaften bekommen wichtige Informationen und Anleitungen, die über das in den klassischen Lehrbüchern zur empirischen Sozialforschung vermittelte Wissen hinausgehen und die Spezifika des Feldes berücksichtigen. So kann dieser Band dazu beitragen, nicht nur empirische, sondern auch Datenkompetenzen zu erweitern und eigenständige empirische Zugänge in diesen spezifischen Praxisfeldern zu unterstützen.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim König
Evangelische Hochschule Nürnberg
Allgemeine Pädagogik & Empirische Sozialforschung
Leiter des Instituts für Praxisforschung und Evaluation
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Es gibt 26 Rezensionen von Joachim König.
Zitiervorschlag
Joachim König. Rezension vom 23.11.2023 zu:
Jessica Gröber, Marc André Kellert, Dirk Hofäcker (Hrsg.): Quantitative Daten in bildungswissenschaftlichen Disziplinen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2023.
ISBN 978-3-8474-2687-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31374.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
Urheberrecht
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