Rolf Gröschner, Wolfgang Mölkner: Ich weiß, dass ich nichts weiß?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.04.2024
Rolf Gröschner, Wolfgang Mölkner: Ich weiß, dass ich nichts weiß? Fatale Fehldeutungen philosophischer Klassiker.
Verlag Karl Alber
(Baden-Baden) 2023.
168 Seiten.
ISBN 978-3-495-99546-4.
29,00 EUR.
Reihe: Philosophie erzählt - 11.
Inhalt
Der Mensch als unvollständiges (unvernünftiges), egoistisches, aber hoffendes (erdbewusstes?) Lebewesen existiert. Es sind Annahmen, Wünsche und Erkenntnisse, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948); weil „Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden“ (UNESCO-Verfassung, 1945/2001; dass „die Menschheit vor der Herausforderung steht, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1995). Im anthropologischen, philosophischen Bewusstsein sind es Denk- und Handlungsmarker aus zweiter Hand, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gedacht, geraten und weitergegeben wurden – von Philosophen aus der griechischen und römischen Antike und dem religiösen, ethischen, geistigen europäischen Denken. Sie sind zu Lebenslehren und Sprichwörtern geworden. Und sie sind, als Fatum und Diktat, in die Curricula und Wissenskanone eingegangen. Sie wurden und werden verändert, den politischen, zivilisatorischen und kulturellen Bedürfnissen angepasst und „zurechtgemacht“. Die Erkenntnis – „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – wird durch ego- und ethnozentristische, fundamentalistische und populistische Einstellungen wie: „Ich will alles, und das sofort; ich kann alles, und das perfekt!“ abgelöst. Der Homo faber und oeconomicus dominiert über den Homo sapiens und empathicus.
Autoren
Der Jenenser Rechtsphilosoph Rolf Gröschner und der Pädagoge Wolfgang Mölkner machen sich in einem Gesprächsprojekt daran, 13 philosophische Deutungen auf Fehlinterpretationen hin zu untersuchen. Sie verweisen darauf, dass die ursprüngliche Aussage – „Conditio sine qua non“ – einer sprachlichen Korrektur bedarf; denn das Lateinische „condire“ kommt von „Würzen“, während „condicio“ von „condicere“, dem Zusammen- oder gemeinsamem Denken und Tun, kommt: „Condicio sine qua non“. Dass dieser Hinweis keine spitzfindige, ethymologische Beckmesserei ist, wird in dem interessanten Dialog deutlich: „Konkreativität bringen wir gegen Kanzel und Katheder in Stellung“ (siehe dazu auch: Heinrich Rombach, 1994).
Aufbau und Inhalt
Gesprächssituationen und -ebenen bestimmen das Verhältnis der Menschen zueinander: Selbst- oder fremdbestimmt; dialogisch oder hierarchisch; selbstbewusst oder abhängig; selbst- oder systemdenkend (Karl Heinz Bohrer, 2011)… Sokrates Wissen und Streben, der vom Orakel als der „weiseste Mann Athens“ ausgewiesen wird, kreist um die Frage, „wie das Leben zu leben sei“. Es ist das Denken und Handeln, dass das Menschsein bestimmen sollte. Das sokratische Gespräch, als selbstbestimmte, dialogische Auseinandersetzung, nimmt wirkungsgeschichtlich und existentiell die „praktische Philosophie“ vorweg.
Es sind die Naturphilosophen, wie z.B. Heraklit von Ephesos‘ Lehre „Panta rhei“ – alles fließt – (um 520 - 460 v.Chr.), die das Natürliche über das Menschengemachte stellen (vgl. dazu z.B.: Jos Schnurer, Philosophie des Wassers, in: FORUM WISSENSCHAFT, 1/2024, S. 57ff), und „an der sich beschleunigenden Expansion des Universums gibt es … keinen sinnvollen Zweifel“. Jedoch „Heraklit auf den ‚Krieg‘ als Vater aller Dinge festzulegen, ist eine fatale Fehldeutung, weil der Heraklitische Logos als Prinzip der Weltvernunft nicht von der Vernichtung eines Kriegsgegners lebt, sondern von der Veränderung widerstreitender Kräfte im fließenden Wandel eine sich selbst erneuernden Welt“. Was für eine Perspektive in der chaotischen, aktuellen Welt.
Wir gelangen zu Platons „Ideenlehre“ und zu den kontroversen Auseinandersetzungen über seine Behauptungen „vom reinen Geist und vom Guten an sich“. Dabei ist Friedrich Nietzsches Widerspruch bedenkenswert; und die Reflexion über Denken und Tun bei verändernden Interpretationen des platonischen Höhlengleichnisses; und es sind die Verweise von Hannah Arendt, dass Platon „nicht die Idee des Schönen zur höchsten Idee erklärt, sondern das Gute“.
Wir sind angelangt bei Aristoteles Denken (Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, 2005, 640 S.). Es sind die Glückserwartungen, die ein gutes, gelingendes, humanes Leben ermöglichen und Harmonie erzeugt. Es sind die Tugenden, die Großgesinntheit und ethisches Bewusstsein schaffen und Großmannssucht verhindert. Wir landen bei Immanuel Kant (1724 – 1804), der die Menschen aufforderte, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und sich den existentiellen Fragen zu stellen: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen? – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“. Dass sich daraus nicht die Empfehlungen zur „Mittelmäßigkeit“, zu „Oblomerei“ oder zu „Couch Potatoe-Einstellungen“ ergeben, sondern zum aktiven, humanen, solidarischen Tun, ergibt sich von selbst.
Der anthrôpos, das menschliche Lebewesen, nimmt eine Mittelstellung zwischen zôon, dem Tier, und theos, Gott, ein. Dem Kirchenlehrer Aurelius Augustinus (354 – 430) gilt die Aufmerksamkeit, weil er im philosophischen, anthropologischen Diskurs als Vermittler zwischen „Glauben und Wissen“ verstanden wird. Mit seinem Bewusstsein – „Gib, was du forderst“ – reiht er sich ein in die Denker der Selbst- und Nächstenliebe. Er ist Dogmatiker und Diener: „Der Gerechte soll durch die Furcht vor Gott von bösen Werken gereinigt werden, wenn er die Strafen an den Sündern vollzogen sieht“. Weil der Mensch als unvollständiges Lebewesen und Sünder geboren wird („miseria hominis“) bedarf er des Heils des Glaubens.
Weil Reform und Veränderung als Menschengut gilt, finden wir auch Martin Luther (1483 – 1546): „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Es geht um die Balance des richtigen Verhältnisses von Glauben und Werken: „Der Glaube befreit nicht von guten Werken, aber sie müssen aus dem Glauben kommen“. Diese Einschränkung ist es, die uns davon abhält, Luther als „Vordenker für den modernen Freiheitsgedanken“ zu stilisieren.
Der Staatsdenker Thomas Hobbes (1588 – 1679) hat mit dem „Leviathan“ ein Modell für ein absolutistisches Gemeinschaftsmodell vorgestellt. Das Bundesverfassungsgericht rückt den absoluten Anspruch zurecht: „Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind“. So lässt sich Hobbes nicht als „Ahnherr des Absolutismus (verstehen, JS), sondern als Ahnherr des liberalen Rechtsstaates“.
Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) hat mit dem „Contrat Social“ Wertmaßstäbe gesetzt, die den Anspruch ausweist: „Der Mensch ist ursprünglich ein Wesen, das Freiheit hat und Freiheit will“. Freiheitswille ist Menschenwille und -würde. Es ist ein Missverständnis, Rousseaus Gesellschaftsvertrag als totalitär zu verstehen und den Citoyen als abhängig zu betrachten.
Beim Diskurs über Fragen des Wissens und Nichtwissens kommen wir an Immanuel Kant (1724 – 1804) nicht vorbei. Mit seinen Kritiken, „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/1787), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), „Kritik der Urteilskraft“ (1790), ordnet er die Verhältnisse ein, die der Mensch zu sich, zu den Mitmenschen, zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zur Zeit und zur Natur hat: „Unser gesamtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe, und das der Freiheitsbegriffe, denn durch beide ist es a priori gesetzgebend“. So gelangt er zum „Kategorischen Imperativ“, der sich als Sprichwort und Lebenslehre ausdrückt: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinen andern zu!“. Er kommt zur Wertung, dass die Menschenwürde einen höheren Stellenwert hat als die Menschenliebe.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) fragt mit dem „Weltgeist“ nach der „wirklichen“ Vernunft: Seine Einschätzung – „Was vernünftig ist, das ist wirklich und was wirklich ist, das ist vernünftig“ – unterfüttert er mit der Aussage, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dunkelheit beginne, und der Geist sich von der Natur lossage. Denn die „Freiheit ist ebenso eine Grundbestimmung des Willens, wie die Schwere eine Grundbestimmung des Körpers ist“.
Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) hat mit seinem philosophischen Denken der Religiosität des Menschen den Kampf angesagt: „Der Irrtum des religiösen Menschen besteht darin, dass er das Bewusstsein von seinem unendlichen Wesen wie gegenständliches Bewusstsein nimmt und daher sein Wesen religiös als Gott vergegenständlicht“. Ich und Du wird zum Wir.
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) wird bei der Rezeption seines Denkens auf vielfältige Weise ausgewiesen: „Sie reicht vom profaschistischen Verführer bis zu einem Vollender der abendländischen Metaphysik“. Der „Übermensch“ wird in seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“ (1883- 85) als Machtwesen stilisiert. Der nihilistische Gedanke, dass der Homo sapiens ein Homo sacer sei (Giorgio Agamben, 2002) und damit ein Brandstifter faschistischen Gedankenguts sei, widerspricht Hannah Arendt: Nietzsches „bleibende Größe liegt darin, dass er zu zeigen wagte, wie schäbig und bedeutungslos Moral geworden war“.
Ludwig Wittgenstein (1889 –1951) zeigt mit seinen „Sprachspielen“ die verschiedenen philosophischen Denk- und Handlungsmöglichkeiten auf. Mit dem „Tractatus Logico-Philosophicus“ verweist er darauf: „Die Bedeutung des Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Die Sprachkritik ist somit Grundlage der Kommunikation: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“.
Diskussion
Die Erkenntnis und die Einsicht, dass ich weiß, nichts zu wissen, verlangt die intellektuelle Mühe, sich klar zu werden, wer ich bin, und: Wie ich geworden bin, was ich bin (Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst, 2022). Es bedarf der Entdeckung des freien Willens (Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015); und es ist notwendig, über die ausgewählten Beispiele hinaus, nach LiteratInnen und Lebensschicksalen zu suchen (wie etwa Bettina von Arnims), in denen das Mühen nach Freiheit, Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit deutlich wird (Herward Sieberg, Elisabeth von Heyking. Ein romanhaftes Leben, 2012,; sowie: Herward Sieberg, Die Dichterin Irene Forbes-Mosse, 2022,).
Fazit
Die irritierende, gleichzeitig ehrliche Erkenntnis – „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – kommt leicht und schwer von den Lippen. Dort, wo sie benutzt wird, zeigen sich nicht selten Oberflächlichkeit und Fehldeutung. Diesen auf die Spur zu kommen, sprechen Rolf Gröschner und Wolfgang Mölkner miteinander und bringen Leserinnen und Leser zum Erstaunen und zu neuen Erkenntnissen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 11.04.2024 zu:
Rolf Gröschner, Wolfgang Mölkner: Ich weiß, dass ich nichts weiß? Fatale Fehldeutungen philosophischer Klassiker. Verlag Karl Alber
(Baden-Baden) 2023.
ISBN 978-3-495-99546-4.
Reihe: Philosophie erzählt - 11.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31377.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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