Daniel Kieslinger, Katharina Lohse et al. (Hrsg.): Verfahrenslotsen
Rezensiert von Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz, 07.08.2024
Daniel Kieslinger, Katharina Lohse, Judith Owsianowski (Hrsg.): Verfahrenslotsen - Zwischen unabhängiger Beratung und Organisationsentwicklung. Funktion, Rolle, Best Practice. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. 300 Seiten. ISBN 978-3-7841-3669-1. D: 27,00 EUR, A: 27,80 EUR.
Thema
Aufgrund des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) wurden mit Wirkung vom 1.1.2024 in einem neuen § 10b des Achten Buches Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) die „Verfahrenslotsen“ als verpflichtende Institution eingeführt. Diese sollen Umstrukturierungsprozesse hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe wesentlich unterstützen und fördern.
Vorschriften ohne Gesetzesbezeichnung sind im Folgenden solche des SGB VIII.
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Das hier anzuzeigende Buch wurde von Daniel Kieslinger, Katharina Lohse und Judith Owsianowski herausgegeben, ergänzt um weitere Beiträge von Ehlers, Grünenwald, Zimmermann, Kepert, Schweigler, Lüders und anderen (auch mit Berichten über bereits gestartete Projekte in der Praxis).
Entstehungshintergrund und Inhalt
Aufgrund des KJSG sind ca. 70 Vorschriften des SGB VIII geändert bzw. neu in das Gesetz eingefügt worden. Diese sind überwiegend mit Wirkung vom 10.6.2021 in Kraft getreten, teilweise aber auch zu späteren Zeitpunkten. Sehr zu begrüßen ist, dass nunmehr aufgrund des KJSG das Ziel der von der Fachöffentlichkeit teilweise seit Jahrzehnten geforderten Fortentwicklung des SGB VIII im Sinne einer „inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“ konkret verfolgt wird – mit dem Ziel der Schaffung einer einheitlichen Zuständigkeit des SGB VIII, für alle Kinder und Jugendlichen mit körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung (sog. „Inklusive Lösung“). Dieses Ziel soll in einem dreistufigen Verfahren bis zum Jahre 2028 erreicht werden.
Zunächst sind mit Wirkung vom 10.06.2021 „Schärfungen“ in einer ganzen Reihe von Vorschriften mit Blick auf Kinder und Jugendliche mit Behinderung vorgenommen worden, die bereits nach der Verkündung des Gesetzes im Rahmen einer ersten Stufe in Kraft getreten sind (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 2 - neu, § 7 Abs. 2 - neu – mit einer Legaldefinition der jungen Menschen mit Behinderungen, § 8b Abs. 3 - neu, § 9 Nr. 4 - neu, § 11 Abs. 1 Satz 3 - neu, § 22 Abs. 2 Satz 3, § 22a Abs. 4, 77 Abs. 1 S. 2, 78b Abs. 1,§ 79a Satz 2 oder § 80 Abs. 2 Nr. 4 - neu).
Für den Zeitraum vom 01.01.2024 bis 31.12.2027 ist im Rahmen einer zweiten Stufe die Einführung von „Verfahrenslotsen“ (§ 10b) zur Vermittlung von Eingliederungshilfeleistungen vorgesehen – sowie ein damit korrespondierender Anspruch von jungen Menschen, Müttern, Vätern und Erziehungs- und Personensorgeberechtigten auf Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung dieser Leistungen. § 10b hat den folgenden Wortlaut:
§ 10b Verfahrenslotse
(1) Junge Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe wegen einer Behinderung oder wegen einer drohenden Behinderung geltend machen oder bei denen solche Leistungsansprüche in Betracht kommen, sowie ihre Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigten haben bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung dieser Leistungen Anspruch auf Unterstützung und Begleitung durch einen Verfahrenslotsen. Der Verfahrenslotse soll die Leistungsberechtigten bei der Verwirklichung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe unabhängig unterstützen sowie auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirken. Diese Leistung wird durch den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe erbracht.
(2) Der Verfahrenslotse unterstützt den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen in dessen Zuständigkeit. Hierzu berichtet er gegenüber dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe halbjährlich insbesondere über Erfahrungen der strukturellen Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen, insbesondere mit anderen Rehabilitationsträgern.
Die Realisierung der angestrebten „inklusiven Lösung“ wird jedoch schließlich maßgeblich davon abhängen, ob es bis zum Jahre 2028 zu einer dritten Stufe kommt – und zuvor zur Verabschiedung eines weiteren Bundesgesetzes bis zum 01.01.2027 mit den konkreten Regelungen zum Übergang der Zuständigkeiten auch der jungen Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung in die Kinder- und Jugendhilfe.
Diskussion
Aufgrund des KJSG sind die Verfahrenslotsen als die beschriebene 2. Stufe des komplizierten Reformprozesses mit Wirkung vom 1.1.2024 als verpflichtende Institution in Trägern der öffentlichen Jugendhilfe eingesetzt worden. Diese sollen Umstrukturierungsprozesse hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe wesentlich unterstützen und fördern. Gelingen soll dies einerseits durch einen individuellen Beratungsauftrag, der vor allem junge Menschen und deren Angehörige adressiert, die einen (möglichen) Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen haben, andererseits sollen die Verfahrenslotsen den öffentlichen Träger in den Transformations- und Veränderungsprozessen hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe unterstützen. Mit der konkreten Umsetzung des Verfahrenslotsen geht eine Vielzahl von Fragestellungen einher, die im Rahmen dieses Sammelbandes eingehend handelt werden.
Das Werk ist in drei große Abschnitte untergliedert (Grundlagen; Theorie und Forschung; Praxis) und enthält 15 Einzelbeiträge zur neuen und komplizierten Thematik „Verfahrenslotsen“ aus unterschiedlicher, insbesondere fachlicher, rechtlicher und organisatorischer. Sicht. Eingehend behandelt werden auch komplizierte Abgrenzungsfragen zu anderen Beratungs- und Unterstützungsangeboten. Auch wird versucht, das rechtliche Verhältnis des – zudem mit einem erheblichen personellen und administrativen Aufwand verbundenen – „Verfahrenslotsen“ zum Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu klären.
Fazit
Das Werk gibt einen ausgezeichneten Überblick über die meisten der zahlreichen, komplizierten Fragen im Zusammenhang mit der Implementation und der Arbeit der Verfahrenslotsen. Es kann allen in diesem neuen Arbeitsbereich Tätigen lebhaft empfohlen werden, ebenso wie den Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe und allen anderen, die sich in Praxis und Wissenschaft mit dieser Thematik auseinandersetzen.
Rezension von
Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz
Assessor jur., Magister rer. publ., Ministerialdirektor a. D.
Er war Professor für Kinder- und Jugendhilferecht und Familienrecht an der Hochschule RheinMain, Wiesbaden. Zuvor war er u.a. Leiter der Abteilung Kinder und Jugend im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Vorsitzender der Sachverständigenkommission für den 14. Kinder- und Jugendbericht sowie Schiedsstellenvorsitzender. Er ist Autor von ca. 500 wissenschaftlichen Abhandlungen und Fachveröffentlichungen, darunter 51 Buchpublikationen, sowie Lehrbeauftragter an mehreren Hochschulen und Fachbereichen für Soziale Arbeit.
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Es gibt 8 Rezensionen von Reinhard Joachim Wabnitz.
Zitiervorschlag
Reinhard Joachim Wabnitz. Rezension vom 07.08.2024 zu:
Daniel Kieslinger, Katharina Lohse, Judith Owsianowski (Hrsg.): Verfahrenslotsen - Zwischen unabhängiger Beratung und Organisationsentwicklung. Funktion, Rolle, Best Practice. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024.
ISBN 978-3-7841-3669-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31379.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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