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Hendrik Wallat: Dyspraxia

Rezensiert von Sabine Hollewedde, 18.01.2024

Cover Hendrik Wallat: Dyspraxia ISBN 978-3-95832-343-8

Hendrik Wallat: Dyspraxia. Kritische Theorie im Sog der Negativität. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2023. 416 Seiten. ISBN 978-3-95832-343-8. D: 69,90 EUR, A: 69,90 EUR, CH: 85,90 sFr.

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Thema

Die klassische Kritische Theorie um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer stellt keine positive Theorie dar, sondern hat den Anspruch, die Negativität des Bestehenden zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Begriff „Dyspraxia“ bezeichnet Wallat die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Kritische Theorie sich bildete: die Erfahrung einer verstellten befreienden Praxis in einer „inhumane[n] Wirklichkeit“ und des Scheiterns der revolutionären Befreiung. ‚Schlechte Praxis‘ oder ‚verstellte, unglückliche Praxis‘ hat somit ihren Grund in dem historischen Fehlen einer praktischen Perspektive bei gleichzeitigem Festhalten am Anspruch der Vernunft auf Wahrheit. Gegen revisionistische Versuche eines theoretischen Reformismus, welcher „im Kern die Selbstaufgabe der Vernunft“ bedeutet (S. 16), betont Wallat, dass die eine Quelle des „Sogs der Negativität“ (S. 17) ihre objektive Grundlage in dem historischen Scheitern der Revolution hatte. „Dieser Sog ist zwingend. Er ist ein nicht wegzudiskutierendes Resultat der Geschichte, welches Kritik, die von ihrem Gegenstand erzwungen wird, nicht aber der gleichermaßen schlechten wie beliebigen Laune von Dauer-Querulanten verdankt, von ihren praktischen Konsequenzen abschneidet.“ (S. 17 f.) Hinzu komme jedoch eine zweite, „hausgemacht[e] und keinesfalls zwingend[e]“ Quelle dieses Sogs (ebd.). Zum einen habe die klassische Kritische Theorie „die Gründe für die Negativität des Geschichtsprozesses“ nicht hinreichend analysiert (S. 18) und verfange sich in einer „sich selbst negierenden Vernunftkritik“ (S. 19). Außerdem mangele es der klassischen Kritischen Theorie an einem Begriff von politischer Praxis, wodurch „genuine Theoriedefizite der klassischen Kritischen Theorie“ angezeigt seien. (ebd.) Diesen ‚hausgemachten‘ Problemen möchte Wallat in diesem Buch nachgehen.

In den hier versammelten Studien zu Max Horkheimer, Albert Camus, Theodor W. Adorno und Hans Heinz Holz sowie Cornelius Castoriadis setzt sich Wallat kritisch mit den verschiedenen Ansätzen auseinander und zeigt auch Widersprüche oder Probleme der klassischen Kritischen Theorie auf. Von zentraler Bedeutung ist es für Wallat, den Praxis-Begriff neu zu denken und mit der Kritischen Theorie, die „der richtige Ausgangspunkt, nicht aber auch der dogmatisch zu fixierende Endpunkt“ sei (S. 20), zu verbinden. Auf diese Weise sollen einige Aporien gelöst werden, wenngleich Kritik „am Ende nicht positiv werden“ (ebd.) müsse und dürfe.

Wenn ‚Dyspraxia‘ „verkehrte[], gegen sich selbst kehrende[], unbewusste[] Praxis“ ist, so gilt es, diese durch „bewusste Praxis“ aufzuheben, durch eine Praxis aus Freiheit: „Als dem Vernunftwesen des Menschen an sich widersprechend, ist sie [Herrschaft; S.H.] moralisch verwerflich und muss durch politische Praxis überwunden werden.“ (S. 385) Geschichte ist kein Fatum und Herrschaft keine Notwendigkeit, sondern bestehe vielmehr aufgrund eines „politischen Seinsvorteils der Herrschaft“ (S. 388) weiter fort.

Autor

Hendrik Wallat ist Dozent für Sozialwissenschaften am Niedersächsischen Studieninstitut für kommunale Verwaltung/​Kommunale Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen (NSI/HSVN) in Hannover. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen im Bereich Kritischer Theorie, Politischer Philosophie und zur Geschichte der dissidenten Arbeiterbewegung.

Aufbau und Inhalt

Neben einer Einleitung beinhaltet der Band fünf Studien, welche auch jeweils als eigenständige Beiträge gelesen werden können. In der Einleitung stellt Wallat die einzelnen Beiträge im Kontext vor und verdeutlicht, was er unter Kritischer Theorie versteht. Sein Verständnis grenzt er scharf von dem „mittlerweile inflationär und inhaltlich verwässerte[n] Label ‚Kritische Theorie‘“ ab. (S. 9) Wallat hebt hervor, dass u.a. materialistische Dialektik, ein auf der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie fußender Begriff kapitalistischer Gesellschaft sowie die „Negativität der modernen Geschichte“, die Themen Antisemitismus und Faschismus zentrale Elemente Kritischer Theorie seien (S. 10). Wo im Anschluss an Jürgen Habermas hingegen die Marx’sche Theorie keine Rolle mehr spiele, könne auch nicht mehr von Kritischer Theorie in dem Sinne gesprochen werden, wie sie Horkheimer, Adorno und weitere vor Augen hatten. Hervorzuheben sind die Revisionen von Habermas und Axel Honneth: „Aus der revolutionären Not, aus deren Geist die klassische Kritische Theorie einst geboren wurde, haben ihre jüngeren Revisionen jedoch eine reformistische Tugend gemacht, die sehr viel resignativer ist als der defätistisch gescholtene Negativismus, dem eine Lanze zu brechen ist. Der theoretische Reformismus bedeutet im Kern die Selbstaufgabe der Vernunft, die ihre Maßstäbe nicht mehr autonom aus sich selbst gewinnt, sondern diese pragmatisch an den herrschenden Verhältnissen ausrichtet“. (S. 16) Hingegen sehe der vom Autor vertretene „kritische Materialismus“ durchaus die Aporien der klassischen Kritischen Theorie, ohne diese aber in Positivität aufzulösen.

Die erste und zugleich umfangreichste Studie Die Unwiederbringlichkeit des Glücks. Philosophische und politische Aspekte von Horkheimers pessimistischem Materialismus setzt sich ausgehend von Horkheimers Schopenhauer-Lektüre bis hin zu seiner Spätphilosophie mit der Entwicklung in Horkheimers Denken und seinen Aporien auseinander. Einleitend stellt Wallat fest, dass das Werk Horkheimers „zu sehr im Schatten von Adorno“ stehe und „[i]n systematischer Hinsicht […] selten rezipiert“ werde. (S. 22) Wallat geht der Frage nach der „Einheit im Denken von Horkheimer“ (S. 23) nach, wobei insbesondere Horkheimers Verhältnis zum Marxismus untersucht wird. „Ein rein neomarxistisches Unternehmen ist Horkheimers Kritische Theorie zu keinem Zeitpunkt gewesen, auch nicht in jener frühen Phase der Begründung eines interdisziplinären Materialismus, der fraglos in Marx’scher Tradition steht, diese aber zugleich bereits transzendiert.“ (S. 24) Zunächst untersucht der Autor die Bedeutung Schopenhauers für den jungen Horkheimer und zeigt, dass dessen Philosophie für Horkheimer vor dem Hintergrund der Kritik an der Hegel’schen Geschichtsphilosophie bedeutsam wurde. „Für Horkheimer dürfte Hegels Einleitung in seine Geschichtsphilosophie der Skandaltext der abendländischen Philosophie gewesen sein […]. Horkheimers Kritische Theorie ist in ihrem metaphysischen Kern expliziter Anti-Hegelianismus“. (S. 28, FN 4) Gegen die Hegel’sche Apologie des Leidens durch die Proklamation eines dadurch sich vollziehenden Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit steht Schopenhauers Betonung der Leidensfähigkeit und Todesverfallenheit der Menschen. Nicht Vernunft, sondern blindes Streben regiert nach Schopenhauer die Welt. Wallat bringt die Widersprüche innerhalb der Philosophie Schopenhauers insbesondere anhand von dessen Kritik an Kant pointiert zum Ausdruck und zeigt, warum dennoch Schopenhauer für Horkheimers materialistisches Denken von konstitutiver Bedeutung war. Daran anschließend widmet sich Wallat der Dialektik und dem Materialismus beim jungen Horkheimer, wobei insbesondere auch die Differenzen zwischen Horkheimer und Adorno, wie sie sich in protokollierten Diskussionen der 1930er und 1940er Jahre darstellen, aufgegriffen werden. Horkheimers Dialektik sei zwar durch die Marx’sche Theorie geprägt und habe die historischen Erfahrungen der 1930er Jahre in sich aufgenommen. Aber das charakterisiere sie nicht hinreichend. „Nicht allein die historische Erfahrung des Faschismus und Stalinismus stimmen seine materialistische Dialektik pessimistisch, sondern auch metaphysisch-kosmologische Spekulationen, die nicht (primär) dem Korpus der Marx’schen Theorie entstammen, sondern, bei aller Bedeutung dieser für die klassische Kritische Theorie, ihren begrifflich-kategorialen Rahmen transzendieren.“ (S. 51) Insofern widerspricht Wallat auch der Annahme, die Bezeichnung ‚Kritische Theorie‘ sei „eine Chiffre für (Neo-)Marxismus“. Sie stelle vielmehr einen eigenständigen Theorietypus dar. (S. 54) Wallat stellt fest, dass Horkheimers Materialismus starke positivistische Einflüsse aufweise und er sich gegen jeglichen Hegelmarxismus positioniert habe. So sei Horkheimers Kritik nicht nur gegen Hegel, sondern ebenso gegen Lukács gerichtet gewesen, „dessen identitätsphilosophische Prämissen und Schlüsse Horkheimer als herrschaftsaffine Ideologie dechiffriert“. (S. 61)

Schließlich geht Wallat auf Horkheimers „Materialismus der Praxis“ ein und betont auch hier die Abgrenzung zum tradierten Marxismus. „An die Stelle der revolutionären Gewissheit und des abgeschlossenen philosophischen Systems tritt ein konsequent geschichtliches Bewusstsein von menschlicher Praxis. Dieses gibt die Absolutheit und Notwendigkeit zugunsten von Freiheit und Möglichkeit auf, die als materialistisch vermittelte allerdings begründet und begrenzt, weder voluntaristisch noch Zufall, sind. Auf theoretischer Seite bindet dies die Theorie an die empirische Wirklichkeit und ihre geschichtlichen Veränderungen zurück.“ (S. 81) Das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Horkheimer führe jedoch notwendig in eine „diabolische Aporie“. (S. 82) Wenn „Praxis ohne Theorie blind ist […] und Theorie ohne Aussicht auf praktische Verwirklichung und Vermittlung ihrer Wahrheit abstrakt, mithin unwahr bleibt“ (ebd.), dann sind sowohl Theorie als auch Praxis nicht möglich. Theorie bekomme einen „prekären (Schwebe-)Status“ (S. 83), weil das Subjekt emanzipatorischer Praxis fehle. „Die Aporie eines Materialismus der Praxis ohne Praxis ist folglich nicht das Resultat einer Flucht vor Realpolitik oder einer messianischen Himmelfahrt des Politischen, sondern im Kern Folge der konsequenten Anwendung des kritischen Materialismus auf die geschichtliche Situation der 1930er selbst“. (S. 84)

Auch in Bezug auf das Ziel des Kommunismus macht Wallat im Kontext der Entwicklung der „Dialektik der Aufklärung“ einen entscheidenden Unterschied zwischen Horkheimer und dem Marxismus aus: der Kommunismus werde „schon damals immer weiter zu einer ‚vernünftigen Verfassung der Gesellschaft‘ […] politisch entkonkretisiert, deren Merkmale sich durch die Negation des Falschen nur indirekt andeuten lassen“. (S. 91) So habe es nicht bloß taktische Gründe gehabt, dass die Kritische Theorie nicht mehr explizit vom Sozialismus sprach. „Was immer auch dem Stalinismus an offensichtlichen, machtpolitischen Pervertierungen des Emanzipationsgedankens zugrunde lag, seine Gewaltgeschichte hat die Marx’sche Theorie und den Sozialismus nicht unberührt gelassen. Eine Kritische Theorie, die diese Erfahrung nicht in sich aufnimmt, kann nicht beanspruchen, in Gedanken die Gegenwart, ihre Geschichte und mögliche Zukunft adäquat zu erfassen.“ (S. 92 f.) In der „Dialektik der Aufklärung“ manifestiere sich, da nicht hinreichend auf die normativen Gründe der Kritik reflektiert werde, ein Begründungsproblem Kritischer Theorie, die den Maßstab der Kritik nicht bloß aus immanenter Kritik herleiten könne. In diesem Kontext nehme eine „negativistische Geschichtsteleologie“ (S. 107) einen größeren Stellenwert ein, welche mit „der Vorstellung von Fortschritt mittels universalisierter Naturbeherrschung […] so entschieden wie argumentativ fragwürdig“ breche. (ebd.) Mit der „Dialektik der Aufklärung“ habe in der Kritischen Theorie ein „Bruch“ stattgefunden, weil ihre Fundamente sich darin änderten. Es paare sich hier „ein negativer Hegelianismus mit einem nietzscheanischen Naturalismus zu einer apokalyptischen Deutung der Gegenwart als dem Endresultat eines von Anfang an autodestruktiven Geschichtsprozess, dessen konstantes Unwesen Herrschaft ist. Bösartig und überspitzt ließe sich sagen, dass Horkheimer in die Fänge Adornos geraten ist.“ (S. 108) Insgesamt habe sich Horkheimer – unter dem Einfluss Adornos – mit der Argumentation der „Dialektik der Aufklärung“ von der Basis der Marx’schen Theorie wegbewegt: „Die nachträgliche Streichung marxistischen Vokabulars in der Dialektik der Aufklärung war durchaus nicht inkonsequent oder rein strategisch motiviert. Sie unterstreicht vielmehr, wie indirekt und unbewusst auch immer, dass sich die Autoren zunehmend auf eine Argumentation hinbewegen, die nicht mehr mit der Marx’schen Theorie kongruent war.“ (S. 109) Schließlich widmet sich Wallat der Spätphilosophie Horkheimers, ihren ‚Abgründen‘ (S. 112 ff) und ‚konstitutiven Aporien‘ (S. 146 ff.).

Der zweite Beitrag Das (griechische) Maß der Natur. Die philosophischen Grundlagen von Camus’ politischem Denken geht davon aus, dass es neben einer ‚christlichen‘ (Marxismus) und einer ‚jüdischen Linken‘ (Anarchismus, Kritische Theorie) eine ‚griechische Linke‘ (u.a. Albert Camus, Cornelius Castoriadis) gebe, welche sich affirmativ auf die klassische griechische Philosophie beziehe und ein „explizit politisches und tragisches Emanzipationsverständnis“ habe. (S. 171) „Camus’ mittelmeerisches Denken bietet alternative Perspektiven auf die menschliche Emanzipation, die frei sind von der prozessualen Geschichtsphilosophie des Fortschritts durch Aufhebung oder der Idee einer messianischen Schicksalswende.“ (S. 172) Wallat sieht im Vergleich zur Kritischen Theorie hier einen „nicht unerheblichen Vorteil“, nämlich „die politische Praxis als konsequent innerweltliches Handeln zu begreifen.“ (S. 173) Wallat erläutert Camus’ Begriffe des Absurden und der Revolte und geht auf die „metaphysisch-moralische[n] wie auch praktisch-politischen Implikationen“ ein. (S. 178) Eine zentrale Stellung nimmt daraufhin Camus’ „Gewalt- und Marxismuskritik“ ein. „Camus hat die Diskussion um die Aporien sozialrevolutionärer Gewalt hingegen qualitativ voranbringen können, weil er den Marxismus in all seinen Fassungen einer dezidierten Kritik unterzog.“ Das „‚Unglück‘“ sei aber bereits in der Marx’schen Theorie angelegt, welche „spezifisch Bürgerliche[s]“ enthalte, nämlich den „Glauben an die ‚Mythen‘ von ‚Fortschritt‘ und ‚Wissenschaft‘“ (S. 190). Marx habe Hegel radikalisierend die Transzendenz der Vernunft zerstört und Befreiung schließlich als historische Mission des Proletariats aufgefasst, weshalb tatsächlich sich nicht die Menschen befreien, sondern „diese (re-)agieren nur in einem Prozess, dem seine eigene Lösung inhäriert.“ (S. 191) Dagegen beinhalte der Begriff der Revolte die Vorstellung wirklicher Befreiung der Subjekte, weshalb Wallat Camus aufgreift.

Kritik übt Wallat an Camus’ Vorstellung von der Natur als Maß und Norm. „Für seine Affirmation einer lebensbejahenden Revolte zieht sich Camus auf einen affirmativen Begriff von Natur zurück, der ohne einen fragwürdigen Überschuss an unausgewiesener begrifflicher Spekulation nicht zu haben ist.“ (S. 199) Camus setzt die Natur als Begründung der befreienden Praxis, was, wie Wallat zeigt, argumentativ nicht zu halten ist. „Die Revolte findet in dieser Natur nicht ihr sicheres Fundament, sondern einen Trug, der das Subjekt zugleich mit falschen Gewissheiten entlastet wie es seine Autonomie faktisch konterkariert.“ (S. 203)

Unter Nichtidentität oder Widerspiegelung? Materialistische Dialektik bei Theodor W. Adorno und Hans Heinz Holz stellt Wallat in einer ausführlichen Studie diese sich widerstreitenden Dialektikkonzeptionen vor. Anhand dieses Vergleichs soll der Begriff einer materialistischen Dialektik, welcher „bei Marx und Engels nicht eindeutig bestimmt und systematisch ausgearbeitet“ (S. 204) ist, genauer gefasst werden. Beiden Autoren ist gemein, dass sie an die Tradition der Philosophie anknüpfen und insbesondere Hegel für sie zentral ist. Dennoch unterscheiden sich die Theorien von dem Kritischen Theoretiker Adorno und dem Marxisten Holz wesentlich. Erkenntnistheoretisch etwa vertritt Holz einen materialistischen Monismus, welcher Geist als aus Natur abgeleitet begreift, und materialistische Dialektik ist für ihn „notwendig Systemphilosophie“ (S. 215), wohingegen Adorno Geist nicht in Natur auflöst und betont, dass materialistische/​negative Dialektik gerade nicht Systemphilosophie sein kann. „Adorno hebt demgegenüber auf die konstitutive Nichtidentität der Totalität ab, die mit dem Freiheitsvermögen des Menschen gesetzt ist. Aufgrund des humanen Vermögens zur Praxis ist der Totalität ein Moment der Freiheit und Spontaneität eingeschrieben, welches als unbedingtes, wenn auch materiell sich vermittelndes die Bewegung des Ganzen konstitutiv offenhält.“ (S. 229) Die Kritik von Holz an Adornos negativer Dialektik habe aber einen wahren Kern: Wie bereits in Bezug auf die „Dialektik der Aufklärung“ angesprochen tendiere Adorno dazu, „philosophisches Systemdenken mit Herrschaft zu identifizieren“. (S. 232) „In diesem Punkt reproduziert die Negative Dialektik stellenweise den Macht-Nominalismus der Dialektik der Aufklärung, der, entgegen der Intentionen der Autoren, in Teilen vor irrationaler Wissenschafts- und Erkenntniskritik nicht gefeit ist.“ (ebd.) Hinzu komme, dass Adorno mit dem Begriff der Versöhnung eine „Erlösungsidee“ vertrete, welche „mit Materialismus und Dialektik nicht vereinbar“ sei. „Adornos Dialektik(kritik) zielt final im Grunde auf eine neue Schöpfung, in der die Materie erlöst wäre.“ (S. 234)

Hinsichtlich des Materialismus charakterisiert Wallat Holz’ Theorie als „monistischen Materialismus“ (S. 235), welcher nur Materie in verschiedenen Erscheinungsformen kennt und aufgrund dessen keinen haltbaren Begriff von Freiheit formulieren kann. „Holz ringt ersichtlich mit dem Problem der Freiheit, da diese schlicht nicht in einen monistischen Materialismus zu integrieren ist.“ (S. 242) Adornos Materialismus stellt sich hingegen als ein somatischer und gesellschaftstheoretischer dar. Er sei „derart gesellschaftstheoretisch fundiert, dass er sich effektiv gegen eine abstrakte Re-Philosophierung materialistischer Dialektik sperrt.“ (S. 252) Schließlich zeigt Wallat, wie unterschiedlich Adorno und Holz jeweils die historischen Erfahrungen in ihren Werken aufgenommen haben. „Adorno führt seine Erfahrung zu einer bisweilen fragwürdigen Kritik der Systemphilosophie und zu einem Verständnis von Praxis, das diese in Teilen mit falschen Ansprüchen belastet. Holz’ materialistische Systemphilosophie hingegen reproduziert und affirmiert die staatsozialistische Herrschaft in einer Form, die blind ist für die strukturellen Voraussetzungen des Scheiterns der sozialistischen Revolution.“ (S. 272)

In Autonomie und Schöpfung. Kritische Anmerkungen zur (Spät-)Philosophie von Cornelius Castoriadis wird Castoriadis’ Philosophie hinsichtlich des Autonomie- und Vernunftbegriffs und seiner Kritik am Marxismus diskutiert. „Castoriadis’ Kritik der philosophischen Tradition, des Marxismus und der modernen Gesellschaftstheorie ist in weiten Teilen bahnbrechend und sucht im Detail wie im Ganzen ihres Gleichen“. (S. 345) Allerdings schlage seine Kritik „in eine neue Mythologie“ (S. 346) um, indem das Subjekt der Praxis durch eine Schöpfung aus dem Nichts ersetzt werde. In dem, was bei Castoriadis als radikal Neues auftritt, sei seine Philosophie „verkehrt“, während seine Aufnahmen traditioneller Philosophie durchaus weiterführend seien.

Der abschließende Beitrag Negative Metaphysik und kritischer Materialismus. Über die Fundamente der Kritik, ihre rekursive Begründung und praktischen Implikationen führt die Thesen Wallats zusammen. Die vorgelegten Studien sollen „das Potential, aber auch die Leerstellen und Widersprüche der klassischen Kritischen Theorie ausgeleuchtet haben. Letztere betreffen vorrangig das wiederholte Abdriften in einen nietzscheanischen Naturalismus in Form einer negativ-hegelianischen Geschichtsdialektik.“ (S. 350) Sowohl bei Adorno als auch bei Horkheimer benennt Wallat Widersprüche und ausweglose Probleme. Dagegen positioniert der Autor im Anschluss an Karl Heinz Haag eine negative Metaphysik als „Fundament der Kritik“ (S. 351), welche ein „Plädoyer für eine kritisch-materialistische Kantaneignung – nicht für einen (Links-)Kantianismus! –, der auch ein ‚Rest-Aristotelismus‘ […] immanent ist“, darstellt. (ebd.) In „Der Fortschritt in der Philosophie“ habe Haag die Frage „nach den ontologischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis“ gestellt (S. 352) und dabei sowohl „die traditionelle antike Ontologie, den deutschen Idealismus, den logischen Empirismus wie auch […] Heideggers Fundamentalontologie“ kritisiert. (ebd.) Allen diesen Strömungen konstatierte Haag „implizite[n] Nominalismus und Positivismus“ aufgrund „ihrer Hypostasierung des ‚identifizierenden Denkens‘“. (ebd.) Wallat macht allerdings in Haags Werk eine „eklatante Leerstelle“ aus: So überrasche „das Fehlen Nietzsches in Haags Fortschritt der Philosophie, weil beide sowohl ein durchaus vergleichbares erkenntniskritisches Interesse an der Tradition abendländischer Philosophie haben als auch eine historische Erfahrung teilen, die das innere Movens ihrer beiden geistigen Anstrengungen abgibt: die Herrschaft des modernen Nihilismus und der nihilistischen Moderne“. Haag setzt dagegen eine negative Metaphysik, deren zentraler Gedanke der „Begriff des ‚intelligiblen Ansichsein der Natur‘“ sei. (S. 353) In „denkbar schärfsten Kontrast hierzu“ steht bei Nietzsche eine „sich selbst vernichtende[] menschliche[] Selbsterkenntnis“ und „der Geist als sich selbsttäuschender Illusionsproduzent“. (ebd.) Im Folgenden geht Wallat der Frage nach: „Was hätte Nietzsche wohl zur negativen Metaphysik gesagt?“ (S. 354) Hierzu wird das Verhältnis von Moral und Wahrheit bei Nietzsche dargelegt und die gestellte Frage damit beantwortet, dass „für Nietzsche mit der negativen Metaphysik nicht ein Ausweg aus den Aporien der Metaphysik gefunden, sondern endgültig das rein Unbestimmte als Grund der begrifflichen Erkenntnis eingestanden“ sei. (S. 362) Es sei daher „schlicht unverständlich, dass Haag […] sich den produktiven Herausforderungen von Nietzsches Provokationen nicht gestellt hat. Sein Fortschritt der Philosophie hätte jedenfalls an (weiterer) Überzeugungskraft gewonnen, wenn er einem seiner entschiedensten Gegner nicht derart durchgängig aus dem Wege gegangen wäre.“ (S. 363) In kritischer Auseinandersetzung mit Habermas’ „Rückzug auf Verfahrensrationalität und die Rationalitätsstruktur von Sprache“ (S. 364) geht Wallat der Bedeutung der Metaphysik für die Begründung von Gesellschaftskritik nach und stimmt darin Gerhard Schweppenhäuser zu, dass „die Versuche der Rettung der Metaphysik durch Kritik in der klassischen Kritischen Theorie einer rationalen, bewahrenswerten Einsicht entspringen: dass hiervon die ‚Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik‘ […] abhängt.“ (S. 365)

Der kritische Materialismus soll „Auswege aus ihren [der Kritischen Theorie; S.H.] Widersprüchen und Aporien aufzeigen.“ (S. 351) Wallat legt seinen Begriff davon, was kritischer Materialismus sei, im den Band abschließenden Abschnitt dar. Kritischer Materialismus sei „kein Tarnname für Marxismus, sondern weit mehr Ausdruck für dessen immanente Kritik. Kritischer Materialismus ist aber auch kein Synonym für Kritische Theorie. Dass der hier vertretene kritische Materialismus viele Gemeinsamkeiten mit der klassischen Kritischen Theorie aufweist, versteht sich nach dem bereits ausgeführten von selbst. Er deckt sich aber nicht mit ihr, zumal sie selbst durchaus zu keinen Zeitpunkt eine einheitliche philosophische Schule gewesen ist.“ (S. 379) Die Grundlage kritischen Materialismus’ ist ein Begriff der Praxis als Handeln aus Freiheit. Die Menschheitsgeschichte beruht auf Bewusstsein und Freiheit, aber in verkehrter, nämlich herrschaftlicher Gestalt. Diese Verkehrung gilt es zu kritisieren. „Das Kritische am Materialismus liegt am Ende wesentlich in der Bedeutung, die er der Freiheit für die menschliche Existenz und ihre Geschichte beimisst. Dieses gleichsam idealistische Moment wird aber nicht verabsolutiert, was das Materialistische am kritischen Materialismus ausmacht.“ (S. 383) Freiheit und Spontaneität können nicht aufgelöst werden in Natur. Es gibt ein „notwendige[s] Moment der Unvermitteltheit und des Bruchs“, welcher allerdings nicht, „wie es bei Kant tatsächlich der Fall ist, zu einem Zwei-Welten-Dualismus zu hypostasieren“ ist. (ebd.) „Der kritische Materialismus bestimmt dementsprechend den Menschen als freiheitsfähiges und vernunftbegabtes soziales Sinneswesen, das durch natürliche und soziale Voraussetzungen, durch die drückende Schwerkraft der Materie (absolut und historisch variabel) begrenzt und bedingt ist.“ (S. 384)

Kritischer Materialismus ist somit laut Wallat unter Verweis auf die Arbeiten von Frank Kuhne wesentlich auf Kants Autonomie- und Freiheitsbegriff verwiesen, welcher wiederum materialistisch fundiert werden muss: „Der Zentralbegriff des kritischen Materialismus (von Marx), der der Verkehrung […], ist auf die Kantische Moralphilosophie verwiesen […], deren praktisches Telos wiederum erst durch seine materialistische Fundierung eine soziale Basis erhält.“ (S. 385) Wallat betont dabei, dass der intelligible Charakter aller Menschen in Herrschaftsverhältnissen beschädigt ist, wenngleich dies nicht für die Physis aller gleichermaßen gelte: „womit der empirische Charakter aus naheliegenden, materiellen Gründen gut leben kann, lässt den intelligiblen nicht unberührt, dessen vermeintliche Reinheit idealistischer Schein ist.“ (S. 387)

Damit ist der Begriff der Geschichte, die bislang eine Geschichte von Herrschaftsverhältnissen und damit Vorgeschichte war, aufgenommen. Die Verkehrung der menschlichen Freiheit in Herrschaft gilt es aufzuzeigen und zu kritisieren. Dabei sei „die Kontingenz dieses bis heute gültigen Resultats von Geschichte“ deutlich zu und „die Möglichkeiten eines anderen Geschichtsverlaufs in der Vergangenheit kenntlich [zu; S.H.] machen, um die Offenheit der Geschichte in der Vergangenheit und somit die der Gegenwart gegen ihren faktischen Verlauf festzuhalten.“ (S. 390) Politisches Ziel des kritischen Materialismus ist die Aufhebung der Verkehrung durch eine Praxis aus Freiheit. Wallat betont, dass damit keine Geschichtsphilosophie im Sinne einer notwendigen Negation der Negation angesprochen ist. Eine solche kritisiert er vielmehr, weil auf diese Weise doch wieder Praxis aus Freiheit negiert werden würde. Der Geschichte sei eine Tragik zuzusprechen, gerade aufgrund des Auseinanderfallens von historischen Möglichkeiten der Befreiung und deren Scheitern. „Weil der Prozess der Verkehrung kein Fatum ist, wird er tragisch und der kritische Materialismus eine traurige Gestalt des Geistes.“ (S. 392) Diese Tragödie würde sich im Falle der Befreiung sogar noch steigern, da das Leid der ungezählten Opfer in der Geschichte nicht durch die Befreiung einer künftigen Generation aufgehoben werden würde. Wallat lehnt die Vorstellung einer Erlösung ab, welche einzig aus dieser Tragödie – einer „diabolischen Dialektik“ – herausführen könnte: „Auch wenn sie gut ausginge, ginge sie schlecht aus“. (S. 393)

Diskussion

Dem „Sog der Negativität“ ist nicht zu entkommen. Hendrik Wallat zeigt – und das ist angesichts der vielen Versuche, Kritische Theorie in eine positive umzuwandeln, äußerst relevant –, dass es einen objektiven Grund dafür gibt, warum negative Dialektik auf Aporien führt. Die Ausweglosigkeit der Theorie gründet in der Wirklichkeit der kapitalistischen Herrschaft. Angesichts dessen bedeutet der theoretische Reformismus eine „Selbstaufgabe der Vernunft“ (S. 16). Diese Einsicht, welche auf der klassischen Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer gründet, ist für die Studien leitend. Gleichwohl legen sie den Finger in die Wunden theoretischer Probleme, die sich sowohl bei Horkheimer als auch Adorno finden lassen, um, wie es im Klappentext heißt, „die theoretische Negativität […] angemessen begründen und als kritischer Materialismus neu formulieren“ zu können. Im Kern kritisiert Wallat das Fehlen eines Begriffs politischer Praxis bei Adorno und Horkheimer. Stattdessen seien sie in einer negativ-hegelianischen Geschichtsdialektik befangen (vgl. S. 19, 107, 350, 390). Zumindest fraglich ist, ob dieser Vorwurf Adorno trifft, der in der „Negativen Dialektik“ ein ganzes Modell der Kritik der Hegel’schen Geschichtsphilosophie gewidmet hat und gerade nicht diese einfach nur ins Negative umkehrt. Was Wallat zu Recht als Bedingung dafür einfordert, dass die Möglichkeit der Befreiung nicht abgeräumt wird (vgl. S. 390), hebt auch Adorno hervor: „Nur wenn es anders hätte werden können; wenn die Totalität, gesellschaftlich notwendiger Schein als Hypostasis des aus Einzelmenschen herausgepreßten Allgemeinen, im Anspruch ihrer Absolutheit gebrochen wird, wahrt sich das kritische gesellschaftliche Bewußtsein die Freiheit des Gedankens, einmal könne es anders sein.“ [1] Für Wallat wird dieses Problem mit der „Dialektik der Aufklärung“ relevant. Hier habe sich die Kritische Theorie von ihren Fundamenten in der klassischen deutschen Philosophie und bei Marx entfernt und auf die Frage nach der Begründung der Kritik mit einer negativen Geschichtsteleologie reagiert. Dass die Kritische Theorie von der „Dialektik der Aufklärung“ an zunehmend „nicht mehr mit der Marx’schen Theorie kongruent war“ (S. 109), scheint hingegen erklärungsbedürftig. Sicher, deckungsgleich sind Marx’sche Theorie und Kritische Theorie nicht – das bedeutete letztlich ihre Wortgleichheit. Ob aber die Kritische Theorie – und hier Adorno, in dessen „Fänge“ Horkheimer geraten sei – sich in der Folge von der Marx’schen Theorie als ihrer Basis entfernt hat, das wäre genauer zu untersuchen. [2]

Einen alternativen Emanzipationsbegriff entdeckt Wallat u.a. bei Albert Camus, der mit seinem Begriff der Revolte wahre politische Praxis beschreiben könne, die weder hegelsch (wie im Marxismus) noch messianisch argumentiere. Camus' Marx-Kritik wird aufgenommen, Marx habe die Hegel’sche Geschichtsphilosophie übernommen und teile den bürgerlichen Fortschrittsglauben. Dies ist der Sache nach jedoch bei Marx weit differenzierter, macht er doch immer wieder deutlich, dass technologischer ‚Fortschritt‘ im Kapitalismus immer auch ein Fortschritt in der Beherrschung von Mensch und Natur ist – also nicht quasi automatisch zur Befreiung führt. Zwar argumentiert Marx, dass die Entwicklung der Produktivkraft die Möglichkeit der Emanzipation aufzeigt, er behauptet aber nicht, dass hierin bereits das Heil der Befreiung liege. In verschiedenen marxistischen Rezeptionen, die sich auch auf Engels stützen, gibt es die Vorstellung eines allmählichen Fortschreitens zum Kommunismus, was dann von den Subjekten nur noch ausgeführt werden müsse. Dies ist aber nicht auf den Marxismus in toto und auf Marx auszudehnen. Marx appellierte an die Subjekte, führte ihnen ihre Unterdrückung vor Augen und war politisch aktiv. Nicht stellte er sich auf den Hegel’schen Standpunkt eines die Vernunft in der Wirklichkeit vernehmenden Philosophen, dessen Angelegenheit es nicht sei, wie „sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zweispalt herausfinde“. [3] Insofern wäre die Marx-Kritik von Camus doch zu hinterfragen.

Zweifelhaft erscheint auch die Aufnahme von Castoriadis, dessen Werk wesentlich auf einer Abkehr von der Marx’schen Theorie und vom Sozialismus fußt. Wenn eingangs von Wallat festgestellt wurde, dass eine Theorie, die keinen Begriff von kapitalistischer Vergesellschaftung mehr hat, nicht Kritische Theorie sein kann, Castoriadis einen solchen aber gerade nicht hat – jedenfalls nicht im Sinne der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos –, dann fragt sich, wie Castoriadis’ Praxisbegriff hier ergänzend sein kann. Wallat ist selbst schließlich nicht davon überzeugt, wenn er konstatiert, dass Castoriadis das Subjekt der Praxis schließlich durch eine Schöpfung aus dem Nichts ersetze – womit nichts gewonnen ist.

Insgesamt sollen diese kritischen Fragen ganz und gar nicht das Verdienst dieser Studien von Wallat schmälern, die sich mit einer großen Sachkenntnis den Fragen widmen und nicht nur dem Anspruch nach Kritische Theorie dadurch weitertreiben. Hervorzuheben sind aus Sicht der Rezensentin die umfangreiche Studie zu Horkheimers Materialismus, in welcher vor allem die Darstellung von Horkheimers materialistischer Dialektik systematisch wertvolle und weiterzuentwickelnde Gedanken enthält, sowie die abschließende Studie über „Negative Metaphysik und kritischer Materialismus“. Hier wird das Problem noch einmal auch unter Bezug auf Karl Heinz Haags belangvolles Werk über den „Fortschritt in der Philosophie“ pointiert dargelegt und Wallats Begriff eines kritischen Materialismus erläutert. (Produktive) Anschlussfragen stellen sich: Kann der Rückgriff auf Kant zur Begründung einer Praxis aus Freiheit ungebrochen bestehen bleiben, wenn doch die kapitalistische Herrschaft „den intelligiblen Charakter nicht unberührt“ (S. 387) lässt? Müsste nicht an dieser Stelle gerade einbezogen werden, was es heißt, dass Kritische Theorie „den Kantischen ‚Gerichtshof‘ der Vernunftkritik wiedereinsetzte, die traditionellen Kategorien der Welterklärung […] einem Prozeß unterworfen [hat; S.H.], aus dem keine dieser Kategorien unverändert hervorgeht“ [4]? Wie Wallat an der zitierten Stelle andeutet, gilt dies auch für den Begriff der Freiheit und damit für das, was Praxis aus Freiheit heißen könnte. Ob in Bezug auf diese Frage mit Camus und Castoriadis Antworten zu finden sind, bleibt zumindest für die Rezensentin zweifelhaft.

Fazit

Hendrik Wallat legt mit „Dyspraxia“ einen Band vor, der substanzielle und weiterführende Studien zur klassischen Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer beinhaltet. Der Autor wendet sich gegen eine vorschnelle Auflösung der Aporien Kritischer Theorie und zeigt vielmehr ihren Grund in der Objektivität gesellschaftlicher Herrschaft. Vermittels abwägender und äußerst kenntnisreicher Diskussion der theoretischen Probleme Kritischer Theorie – die er vor allem am Begriff der politischen Praxis ausmacht – schärft Wallat den Begriff ‚kritischer Materialismus‘.


[1] Adorno: Negative Dialektik, in: Ders. Gesammelte Schriften Bd. 6, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003, S. 317.

[2] vgl. etwa Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie, transcript, Bielefeld 2015.

[3] G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: Ders. Werke Bd. 17, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1969, S. 344.

[4] Rolf Tiedemann: „Nicht eine erste Philosophie sondern eine letzte“. Anmerkungen zum Denken Adornos, in: Ders. (Hrsg): „Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“. Ein philosophisches Lesebuch, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1997, S. 17.

Rezension von
Sabine Hollewedde
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Es gibt 24 Rezensionen von Sabine Hollewedde.

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ISSN 2190-9245