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Claas-Hinrich Lammers: Narzisstische Störung

Rezensiert von Mag.a Manuela Pichler, 15.08.2024

Cover Claas-Hinrich Lammers: Narzisstische Störung ISBN 978-3-8017-3206-6

Claas-Hinrich Lammers: Narzisstische Störung. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2023. 94 Seiten. ISBN 978-3-8017-3206-6. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,22 sFr.
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - 90.

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Thema

Lammers beschäftigt sich in Band 90 der Reihe Fortschritte der Psychotherapie unter dem Titel „Narzisstische Störung“ mit narzisstischen Erlebnis- und Verhaltensweisen, therapeutischer Beziehungsgestaltung und therapeutischen Interventionen. Dabei ist er besonders bemüht, praxisnahe vorzugehen und das individuelle Erleben Betroffener ebenso darzustellen wie therapierelevante Dynamiken.

Autor

Claas-Hinrich Lammers, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2006 Ärztlicher Direktor und Chefarzt der 1. und 3. psychiatrisch psychotherapeutischen Klinik (Affektive Erkrankungen, Akutpsychiatrie und Psychose) an der Asklepios Klinik Nord, Ochsenzoll in Hamburg.

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus sechs Abschnitten

  1. Beschreibung der Störung
  2. Störungstheorien und Entstehungsmodelle
  3. Diagnostik und Indikation
  4. Behandlung und Interventionen
  5. Effektivität und Prognose
  6. Probleme bei der Durchführung

1. Beschreibung der Störung

Der Autor hebt besonders hervor, wie wichtig in der therapeutischen Arbeit Sympathie und Mitgefühl für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sind. Unterschieden werden durchgehend der grandiose narzisstische Typ und der vulnerable narzisstische Typ. Beide Selbst-Aspekte bedingen eine hohe Instabilität des Selbstwertgefühls und sind grundlegend für die Dynamik jeder NPS. Zentrale Emotionen dabei sind Scham, Wut und Neid und die Grundüberzeugung eigener Minderwertigkeit. Damit einhergehend leiden Patient*innen unter massiven Ängsten vor Zurückweisung und Identitätsdiffusion, auch suizidale Krisen können aufbrechen bei Misserfolgen, Scheitern oder Verlusten.

Die Prävalenz liegt bei ca. 1 %. Eine hohe Bedeutung haben auch komorbide Erkrankungen, da Betroffene häufig deshalb in Behandlung kommen. Circa 50 % leiden unter affektiven Störungen und Angsterkrankungen, mehr als 60 % unter Suchterkrankungen und anderen PS. 

2. Störungstheorien und Entstehungsmodelle

„Zwillingsstudien ergaben eine Erblichkeit von ca. 50 bis 70 %, womit die NPS eine der höchsten genetischen Komponenten von allen Persönlichkeitsstörungen aufweist“ (S. 25, zit. nach Torgersen, 2021) Als relevant für die Entstehung einer NPS werden frühe Missbrauchserfahrungen und systematische Idealisierungen genannt und eine daraus resultierende instabile Identität sowie eine problematische Selbstwertregulierung basierend auf maladaptiven kognitiv-behavioralen Bewältigungsstrategien.

3. Diagnostik und Indikation

Wesentlich im diagnostischen Prozess sind eine gute Differenzialdiagnose, Problem- und Verhaltensanalyse. Es werden an dieser Stelle einige wichtige Punkte für die therapeutische Arbeit genannt: eine Beziehung auf Augenhöhe, vorsichtige Normalisierung der Problematiken, Empathie und Ressourcenaktivierung.

4. Behandlung und Interventionen

Dieser Abschnitt nimmt den größten Teil des Buches ein und gliedert sich wie folgt:

  • therapeutische Beziehungsgestaltung
  • Krisenintervention und Bearbeitung aktueller Konflikte
  • Schemaarbeit
  • Interaktionelle Arbeit
  • Reduktion der Anspruchshaltung und Förderung der Leistungsfähigkeit
  • Förderung intrinsisch motivierter Interessen
  • Existenzielle Perspektive

Der therapeutischen Beziehungsgestaltung misst Lammers, im Buch wiederkehrend, einen besonderen Stellenwert bei, da die therapeutische Beziehung als Lern- und Experimentierfeld für Patient*innen zentral ist. Sie wird von Patient*innen häufig als belastend, frustrierend und bedrohlich erlebt, diese Problemaktualisierung ist aber unausweichlich und bietet sinnvolle therapeutische Möglichkeiten. Als wesentlich zum Gelingen nennt er aufrichtiges Interesse, Empathie, eine kooperative Arbeitsbeziehung und die Arbeit an, oft unter den Symptomen liegenden, authentischen, legitimen Bedürfnissen nach Geborgenheit, Sicherheit, Verbundenheit.

Häufig sind akute Krisen ein Anlass für Patient*innen in eine Behandlung zu kommen. In diesen Phasen kommt es zu einem Zusammenbruch des grandiosen Selbst Anteils und zu einer Aktivierung des vulnerablen Selbst Anteils verbunden mit heftigen Emotionen, Instabilität und großem Leidensdruck. In der akuten Krise kann es daher, zur Stabilisierung, zunächst passend sein, das Größenselbst zu reaktivieren, auch Anxiolytika können unterstützend eingesetzt werden. Da Betroffene meist, aufgrund überhöhter Ansprüche und Leistungsdruck, ein ohnehin sehr hohes Stresslevel haben, sollten im Laufe einer Therapie Methoden zur Stressreduktion etabliert werden, die dann auch im Krisenfall zur Selbstregulierung genutzt werden können.

In der Schemaarbeit wird an den negativen Grundannahmen – „Ich bin minderwertig und nicht liebenswert“ – und Gefühlen, insbesondere Scham, des vulnerablen Selbst gearbeitet. Neben kognitiven Techniken sind dabei auch Techniken zur Emotionsregulation wichtig, von denen einige in diesem Abschnitt vorgestellt werden. 

„Ziel der interaktionellen Arbeit ist die Fähigkeit zur reziproken Beziehungsgestaltung, welche man umgangssprachlich auch als Beziehung auf Augenhöhe bezeichnen kann.“ (S. 63) Lammers schlägt als ersten Schritt eine Interaktionsanalyse zum besseren Verständnis von Ursachen und Folgen interaktioneller Problematiken vor. Danach kann intensiv an der Fähigkeit zum Perspektivwechsel, insbesondere kognitiv, gearbeitet werden, um Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle andere besser einschätzen zu lernen. Im sozialen Kompetenztraining geht es dann, um die Fähigkeiten zuzuhören, sich für andere zu interessieren, Verständnis zu zeigen und Kompromisse eingehen zu können. „Bei der Arbeit an dem kognitiven Empathievermögen, … sollte aber nicht vergessen werden, dass es narzisstischen Patient:innen auch an Empathie sich selbst gegenüber fehlt.“ (S 67) Die Arbeit an der Beziehungsfähigkeit schließt also immer auch die Beziehung zu sich selbst mit ein.

Ein wichtiger Schritt ist die Reduktion von überhöhten Anspruchshaltungen sich selbst und anderen gegenüber, da die überhöhten Ansprüche mit Abhängigkeit von Lob und Bewunderung der Umwelt, hohem Leistungsdruck und häufig, aus Angst zu versagen, auch mit Arbeitsstörungen einhergehen können. Diese Veränderung ist für Patient*innen oft sehr schwer, für langfristige Zufriedenheit und stabile Beziehungen aber unerlässlich.

Häufig werden von Betroffenen intrinsische Tätigkeiten, kreativer Ausdruck, Spiel und Entspannung als unnütz abgewertet und abgelehnt. Diese Betätigungen wirken aber identitätsstiftend und stabilisierend und sind daher zu fördern. Für Betroffene bedeutet es auch, sich mit der inneren Leere auseinanderzusetzen und nach und nach das Ablenkungsverhalten zu reduzieren. So erst wird eine Bindung nach innen möglich, die Etablierung von intrinsischen Interessen und Hobbys und letztlich auch eine Annäherung an existenzielle Fragen nach Werten und Sinn. 

5. Effektivität und Prognose

Als für eine Prognose günstige Faktoren, allerdings unabhängig von Therapie oder Alltag, werden Erfolgserlebnisse, gute Beziehungserfahrungen und eine realistische Selbstwahrnehmung genannt. Die Abbruchrate ist sehr hoch und liegt bei 60 %. Wieder werden Empathie, Förderung von realistischen Zielen, gesunder Autonomie und die Arbeit an dysfunktionalen Einstellungen betont. Nicht förderlich dagegen ist eine konfrontative Vorgehensweise, die häufig in Machtkämpfen endet.

6. Probleme bei der Durchführung

Neben der hohen Abbruchrate kann immer wieder eine Arbeit an der Motivation nötig sein, da Betroffene oft fremdmotiviert in eine Behandlung kommen und ein eigener Antrieb fehlt. Der Verlauf ist zudem häufig von Krisen, Lügen und Grenzüberschreitungen begleitet, die eine große Herausforderung für Therapeut*innen darstellen.

Karten

Am Ende des Buches finden sich zwei herausnehmbare Karten mit Fragen für den Behandlungsbeginn und ein Fallkonzept, die direkt in der Praxis eingesetzt werden können.

Zielgruppe

Dieses Buch richtet sich an Fachpersonal. Gleichermaßen an Psychotherapeut*innen, Psycholog*innen, Pflegepersonen, Fachärzt*innen sowie Student*innen und Unterrichtende.

Diskussion

Den Aspekt der Grundhaltung, der Lammers sichtlich wichtig ist, möchte ich noch herausgreifen und die Frage stellen, wieweit eine Grundhaltung von Mitgefühl, eine Beziehung auf Augenhöhe, basierend auf Sympathie und Empathie diagnosespezifisch besonders relevant sein kann? Sind doch gerade diese Faktoren diagnoseunabhängig unabdingbar für jede therapeutische Arbeit. In der Arbeit mit Menschen mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen und damit einhergehenden intensiven Übertragungsprozessen sind professionelle Helfer*innen in einem besonderen Ausmaß gefordert, diese Haltung aufrechtzuerhalten und immer wieder zu etablieren. Aber liegt dies „nur“ an den Patient*innen, oder liegt es nicht auch an nicht förderlichen Umgebungsfaktoren, an Personalknappheit, Zeitdruck, etc.

Vielleicht ist es weniger die Frage „Welche besonderen Bedürfnisse haben Menschen mit einer NPS“ sondern vielmehr: „Welche Rahmenbedingungen braucht es in der Arbeit mit hoch belasteten Menschen um der besonderen Dynamik, als Teil der Geschichte der Patient*innen, gerecht werden zu können und heute einen sicheren Rahmen für Patient*innen und Profis in stationärer und ambulanter Versorgung gewährleisten zu können?“

Fazit

Claas-Hinnrich Lammers gibt einen praxisnahen Einblick in die Dynamik und das Dilemma von Menschen mit einer NPS. Trotz der Kürze des Buches sind einige Aspekte der Behandlung sehr genau und unmittelbar für die Praxis tauglich dargestellt. Das Buch eignet sich wenig als Einstiegslektüre in das Thema, da es zu kurz greifen würde, als Vertiefung für Praktikerinnen kann es aber, gerade der Kürze wegen, sehr nützlich sein.

Rezension von
Mag.a Manuela Pichler
Klinische- und Gesundheitspsychologin, Arbeitspsychologin
Publikation: http://www.zks-verlag.de/subjektives-wohlbefinden-im-alter-print/
Website
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Es gibt 9 Rezensionen von Manuela Pichler.

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Zitiervorschlag
Manuela Pichler. Rezension vom 15.08.2024 zu: Claas-Hinrich Lammers: Narzisstische Störung. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2023. ISBN 978-3-8017-3206-6. Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - 90. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31385.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


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