Andreas Pfister, Nikola Koschmieder et al.: Wege der Erreichbarkeit sozioökonomisch benachteiligter Familien
Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 30.04.2024
Andreas Pfister, Nikola Koschmieder, Sabrina Wyss: Wege der Erreichbarkeit sozioökonomisch benachteiligter Familien. Ein umsetzungsorientierter Dialog zwischen Forschung und Praxis in der Suchtprävention. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2023. 136 Seiten. ISBN 978-3-03777-270-6. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 28,00 sFr.
Thema und Zielgruppe
Dem Buch liegt die in der Schweiz durchgeführte qualitative Studie „Erschwerte Inanspruchnahme suchtpräventiver Angebote durch sozioökonomisch benachteiligte Eltern und Familien mit (prä-)adoleszenten Kindern“ zu Grunde, die den Alltag sozioökonomisch benachteiligter Familien und die Sichtweisen der betroffenen Familien zum Ausgangspunkt nahm. Die Forscher*innen reflektieren dann die Studienergebnisse gemeinsam mit Fachexpert*innen und einem Politiker, um den Dialog zwischen Forschung und Praxis zu vertiefen mit dem Ziel, die Erreichbarkeit dieser durch Präventionsangebote schwer erreichbaren, zugleich heterogenen Gruppe zu erhöhen. Das Buch richtet sich an Fachkräfte der Suchtprävention, an Kostenträger, an kommunalpolitisch Verantwortliche und an Forschende und Studierende.
Autor*innen
Andreas Pfister ist Sozialpädagoge und Erziehungswissenschaftler. Er forscht und lehrt als Professor an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ist Co-Leiter des dortigen Instituts für Public Health und leitete die im Buch vorgestellte Studie. Nikola Koschmieder ist Soziologin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention an der Hochschule Luzern tätig. Sabrina Wyss ist ebenfalls Soziologin und Senior Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Soziale Arbeit der Hochschule Luzern.
Aufbau
Das Buch umfasst neben der Einleitung, einem Resümee, der Danksagung und einem ausführlichen Literaturverzeichnis die Kapitel
- Suchbewegungen der Eltern nutzen
- Anknüpfen an bestehende Kontakte im Hilfesystem
- Schutzstrategien respektieren
- Was Familien beschäftigt – Thematische Relevanzsetzungen nutzen und
- Ressourcen stärken und Problemlasten mindern.
In jedem Kapitel werden zunächst wesentliche Studienergebnisse vorgestellt, zu denen dann dann Praktiker*innen und kommunalpolitisch Verantwortliche befragt werden. Hierbei wird besonderer Wert auf konkrete Umsetzungsmöglichkeiten gelegt.
Inhalt
In der Schweiz steht man – wie in anderen Ländern auch – vor der großen Herausforderung, die Gesundheitschancen benachteiligter Zielgruppen zu verbessern und (sucht-)präventive Maßnahmen bei insgesamt begrenzten finanziellen Ressourcen so zu gestalten, dass gerade diejenigen mit besonderen Gesundheitsrisiken erreicht werden.
Die Autor*innen konstatieren in diesem Zusammenhang erhebliche Forschungslücken und einen Mangel an qualitativ-interpretativen Zugängen. Sie entschlossen sich von Mai 2017 bis Januar 2020 32 qualitativ-problemzentrierte Interviews mit 16 Familien in der deutschsprachigen Schweiz durchzuführen, wobei 10–14 jährige Kinder separat von ihren Eltern befragt wurden. Nach der Auswertung der Forschungsergebnisse interviewten sie dann Expert*innen aus der Praxis der Sozialen Dienste/​Suchtprävention/​Suchttherapie sowie einen Kommunalpolitiker zu ihren Ergebnissen und Schlussfolgerungen, um im Fazit weiterführende Überlegungen zum Dialog zwischen Forschung und Praxis anzustellen.
Die Studienergebnisse zeigen den Autor*innen zu Folge, dass sozioökonomisch benachteiligte Familien in der Deutschschweiz keine homogene Gruppe sind. Finanzielle Ressourcen, Bildungsstand, Aufenthaltsstatus und soziale Netzwerke bilden den Grundstock, der den Alltag und den Zugang zu (sucht-)präventiven Maßnahmen prägt. Es sei für die gesundheitliche Chancengleichheit unabdingbar, politische und gesellschaftliche Maßnahmen zu ergreifen, die soziale und sozioökonomische Lage der benachteiligten Familien zu verbessern. Suchtprävention sollte stärker in Kontexte sozialer Sicherung eingebettet werden, damit Unterstützung, zum Beispiel in der Sozialhilfe, aus einer Hand geleistet werden könne. Dafür seien nicht nur – wie auch die Expert*innen betonen – eine gute Vernetzung zwischen den Sektoren, sondern auch eine verbesserte personelle Ausstattung der Erstanlaufstellen erforderlich. Eine besondere Rolle spielen Schlüsselpersonen in den Hilfesettings, die bereits von der Zielgruppe in Anspruch genommen werden. Der Alltag der Zielgruppe ist von Knappheit finanzieller, zeitlicher und gesundheitlicher Ressourcen geprägt, so dass es hilfreich sei, mit Maßnahmen der (Sucht-)Prävention an Themen anzuknüpfen, die für die Zielgruppe von Relevanz seien und Maßnahmen zu ergreifen, die unmittelbare Erleichterungen bei den alltäglichen Herausforderungen bieten (finanzielle Ressourcen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie insbesondere bei Alleinerziehenden). Zugleich solle man darauf achten, die Zielgruppe nicht (weiter) zu stigmatisieren, allgemeine Entwicklungsthemen bei der Bewerbung von Angeboten in den Vordergrund rücken und selbstwertstabilisierende und identitätsschützende Strategien der Zielgruppe respektieren. Die Suchbewegungen der Zielgruppe seien sehr unterschiedlich, daher sollten die Angebote breit und vielfältig aufgestellt sein, sowohl persönliche als auch anonyme digitale Zugänge bereitstellen und lebensweltlich gut erreichbar sein (aufsuchende Zugänge, kurze Anfahrtswege, Kinderbetreuung, finanzielle Anreize). Zu achten sei im gesamten Hilfesystem und insbesondere auch im Schulsystem auf den Kommunikationsstil und die Sprache (wertschätzende Ansprache). Ein professioneller Umgang mit schambesetzten Themen sei hilfreich.
Als Fazit für die weitere Zusammenarbeit zwischen Praxis und Forschung wird der stärkere Einbezug von Schlüsselpersonen und Adressaten in Forschungsvorhaben und Qualitätsentwicklungsinitiativen gefordert, wobei Expert*innen darauf hinweisen, hier auch an eine Entlohnung der Adressat*innen zu denken. Es bestehe zudem ein hoher Bedarf an Erfolgsgeschichten und Good-Practice Beispielen.
Es gelte, den Überhang an universellen gegenüber selektiven und indizierten Präventionsangeboten zu reduzieren. Im Sinne intersektoraler Vernetzung spielten zudem die Frühen Hilfen eine wichtige Rolle. Auf keinen Fall dürfe die Verhältnisprävention aus dem Blick geraten, denn eine Stärkung von Kompetenzen sozioökonomisch benachteiligter Familien und ein verbesserter Zugang zu Angeboten ändere wenig an bestehenden sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten. Die gesellschaftlichen Ungerechtigkeitsprobleme dürften nicht individualisiert werden.
Diskussion
Das Buch ist von einer respektvollen Haltung und einer großen Verständigungsbereitschaft geprägt. Trotz der verhältnismäßig geringen Zahl an befragten Familien wird durch die Studie eine recht hohe Heterogenität abgebildet. Die Studienergebnisse fördern insgesamt wenig Überraschendes zu Tage (wie auch ein Experte anmerkt), bekräftigen jedoch engagiert die fortlaufende Notwendigkeit, alle Entscheidungsträger für die Bedürfnisse und Perspektiven sozioökonomisch benachteiligter Zielgruppen zu sensibilisieren. Ausbaufähig wäre die Recherche nach eigenen Initiativen der Zielgruppe, beispielsweise in Communities mit Migrationshintergrund. Zudem richtet sich im vorliegenden Buch der Blickwinkel der Netzwerke stark auf die Schule, die Systeme sozialer Sicherung und auf andere professionelle Hilfesysteme, während Kooperationen mit ganz anderen Bereichen wie Sport, Kultur und Freizeit oder Ernährung und Lebensmittelbeschaffung weniger in den Fokus rücken.
Fazit
Dieser umsetzungsorientierte Dialog zwischen Forschung und Praxis in der Suchtprävention fokussiert die nach wie vor bestehenden Herausforderungen, sozioökonomisch benachteiligte Familien zu erreichen. Es gilt, die Perspektiven von Menschen gut zu verstehen, die in ihrem Alltag chronischen Stressbelastungen durch prekäre Lebensbedingungen ausgesetzt sind. Betont wird die Notwendigkeit, sich im Hilfesystem untereinander gut zu vernetzen, Schlüsselpersonen zu identifizieren und sich jenseits familienorientierter Suchtprävention auch für die Verbesserung der sozioökonomischen Lage der Zielgruppe einzusetzen.
Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 30.04.2024 zu:
Andreas Pfister, Nikola Koschmieder, Sabrina Wyss: Wege der Erreichbarkeit sozioökonomisch benachteiligter Familien. Ein umsetzungsorientierter Dialog zwischen Forschung und Praxis in der Suchtprävention. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen
(Zürich) 2023.
ISBN 978-3-03777-270-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31387.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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