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Barbara Sieferle: Nach dem Gefängnis

Rezensiert von Prof. Dr. Gaby Temme, 08.02.2024

Cover Barbara Sieferle: Nach dem Gefängnis ISBN 978-3-8376-6891-9

Barbara Sieferle: Nach dem Gefängnis. Alltag und unsichtbare Bestrafungen. transcript (Bielefeld) 2023. 234 Seiten. ISBN 978-3-8376-6891-9. D: 45,00 EUR, A: 45,00 EUR, CH: 54,90 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.

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Autorin

Barbara Sieferle studierte Ethnologie und Soziologie an der Universität Freiburg und Kulturanthropologie an der Universität Leiden (NL). Sie promovierte an der Universität Innsbruck in dem Fach Europäische Ethnologie. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin erhielt sie im Sommersemester 2023 eine Vertretungsprofessur am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg.

Entstehungshintergrund

Bei der Veröffentlichung handelt es sich um die Ergebnisse eines durch die DFG geförderten Forschungsprojektes „Leben nach der Haft. Alltagskulturelle Ordnungen zwischen Dis- und Rekulturation“ an dem Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie. Das Projekt führte die Autorin im Zeitraum von 2020 bis 2023 als wissenschaftliche Mitarbeiterin durch. Barbara Sieferle begleitete in zwei deutschen Großstädten in der Haft und in Anlaufstellen und Übergangswohnheimen der freien Straffälligenhilfe Männer unterschiedlicher Nationalitäten im Alter zwischen 24 bis 75 Jahren, deren Haftdauern zwischen 3,5 und 19 Jahren lagen. Ihre Begegnungen mit den Männern über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren dokumentierte sie in Gesprächs- und Feldnotizen. Aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus verstand und versteht sie die Männer dabei als Mitmenschen und, im Hinblick auf ihre Perspektiven auf die Welt, als Lehrer.

Das Ziel von Barbara Sieferle war es, die „Selbstverständlichkeit des Strafens“ zu hinterfragen und „ein genaueres Bild davon zu entwerfen, wie Strafe in unserer heutigen Zeit […] eigentlich konkret aussieht.“ (S. 20).

Aufbau und Inhalt

„Die eigentliche Strafe fängt erst nach der Entlassung an.“ (S. 20, 169). Ein „Haftschaden“ (S. 11) infolge der Inhaftierung ist bei Menschen mit längerer Haftzeit unvermeidlich. Entlang dieser Grundaussagen der Männer aus ihrer Forschung stellt Barbara Sieferle ihre Ergebnisse vor dem Hintergrund der folgenden Ausgangsfragen dar: „Was heißt es für diese Männer, aus dem Gefängnis entlassen zu werden? Welche Auswirkungen hat der Gefängnisaufenthalt auf ihr Leben danach? Wie bauen sich haftentlassene Menschen einen Alltag nach dem Gefängnis auf? Was zeichnet diesen Alltag aus?“ (S. 7). Sie will anhand ihrer Darstellung verdeutlichen, dass „Strafe auch alltäglich-informelle Formen“ (S. 20) annimmt.

Zu Beginn stellt die Autorin klar, dass es einen Mangel an Sozialisation, ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Sozialisation und damit eine Resozialisierung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht geben kann. Eine Einordnung der Institution des Gefängnisses und der eigenen Forschung erfolgt durchgängig bei allen Kapiteln anhand der Einbeziehung von kritisch sozialwissenschaftlicher und kriminologischer Literatur. Die Menschen, denen sie begegnet ist, versteht Barbara Sieferle als Erfahrungsgemeinschaft, die nach der Haftentlassung aus einer spezifischen marginalisierten und randständigen Position heraus „als aktiv Handelnde und Gestalter ihres eigenen Lebens“ (S. 24), einen „bedeutungsvollen Alltag aufbauen […] müssen und wollen“ (S. 23).

Im Weiteren begegnet der*die Leser*in unterschiedlich zusammengesetzten Charakteren an fiktionalen Orten und begleitet sie durch verschiedene Alltagssituationen: Dazwischen. Die Entlassung (S. 31–58); Stigma Gefängnis. Oder: ‚Ich beiße nicht‘ (S. 59–79); Gut oder böse? Moralische Positionierungen (S. 81–100); Mangel an Kapital (S. 101–124); Überschuss an Zeit? (S. 125–140); Dazwischen. Gescheiterte Übergänge – unsichere Hoffnungen (S. 141–157); Unsichtbare Bestrafungen. Alltag nach dem Gefängnis (S. 159–168).

Diese Kapitel sind absolut lesenswert! Für die Rezension werden konkrete Schilderungen und Situationen schlaglichtartig mit Fokussierung auf die Menschen im Sinne von Barbara Sieferles Forschungsansatz dargestellt. Die Männer sollen in der inhaltlichen Darstellung der Rezension durch Barbara Sieferle zu Wort kommen und im Anschluss einige Interpretationen der Autorin verdeutlicht werden.

Der „Haftschaden“ drückt sich in unterschiedlichen Situationen aus: Überforderung mit der Technik und der Sorge, wenn sie Andere um Hilfe bitten, würde erkannt, dass sie aus dem Gefängnis kommen; die Schnelligkeit des Straßenverkehrs (Straßenbahnen, Fahrräder); ungewohnte und Vielzahl der Geräusche; körperliche Nähe auf Tanzflächen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, die mit Gewalt im Gefängnis assoziiert wird; Verunsicherung bei Interaktionen mit ‚normalen‘ Menschen draußen, die nicht Vollzugsbeamt*innen sind; die bürokratischen Erfordernisse nach der Entlassung und die fehlende Möglichkeit des nahtlosen Anschlusses an den Alltag der Familie, den man mehrere Jahre durch die Haft nicht miterlebt und gestaltet hat. Folge nach Barbara Sieferle sind u.a. Isolationen und Rückzug im Alltag.

In den Erzählungen der Männer finden sich mehrere Stigmatisierungssituationen durch Andere und Professionelle. So fühlt sich Silvio durch die Bezeichnung seines Bewährungshelfers als ‚Proband‘ wie ein im Labor beobachtetes Versuchsobjekt. An anderer Stelle wird geschildert, wie den Männern ein Fußballverein preisgünstigere Stehplätze für ein Fußballspiel überlässt. Als sich die Männer über den Aufdruck „Gebucht von sozial Schwachen“ beschweren, entgegnet der Sozialarbeiter, sie sollen „[…] froh sein, überhaupt eine Karte bekommen zu haben […]“ (S. 111). Ähnliches berichtet Murin im Hinblick auf seinen Arbeitsplatz, wenn er mit dem Kombi vorfährt, auf dem „soziales Arbeitsprojekt“ steht (S. 123). Nach der Interpretation von Barbara Sieferle wird deutlich, dass die Menschen nach der Haftentlassung auf der Suche nach stigmafreien Räumen sind.

Die Autorin beschreibt ihr anfängliches Unverständnis Silvio gegenüber, der viele Arbeitsstellen recherchiert, aber keine Bewerbungen absendet. Aus heutiger Sicht sieht sie die Recherche als „Akte der Hoffnung“, die eine Möglichkeit in der Zukunft in Aussicht stellten, die gegenwärtig nicht gegeben ist (S. 152).

Am Schluss des vorletzten Kapitels zieht Barbara Sieferle die Schlussfolgerung: „Andersheit ist nicht einfach gegeben, sondern resultiert aus gesellschaftshierarchischen Beziehungen und Sozialen Zuschreibungsprozessen. Andersheit ist vom Menschen gemacht.“ (S. 168).

Diskussion

Durch die Art der Darstellung ist es dem*der Leser*in möglich, die Männer und die Autorin in der Zeit kurz vor der Haftentlassung und danach zu begleiten. Es wird in vielen Nuancen deutlich, worin die eigentliche Strafe nach der Entlassung besteht und aus welchen vielen kleinen Alltagssituationen sich diese zusammensetzt und verstärkt. Welche kreativen Lösungen die Männer, in diesem durch die Gesellschaft eng gesetzten Rahmen entwickeln, wird ebenfalls in den Seiten 31–168 gut ersichtlich. Das Abschlusskapitel ist verzichtbar.

Durch die Wahrnehmungen von Barbara Sieferle einerseits und ihre kritischen Selbstreflexionen der eigenen Sichtweisen und Interpretationen andererseits, werden u.a. Begegnungen beim Einkauf oder ein gemeinsames Kaffeetrinken in einem Café zu zentralen Schilderungen, die für kriminologische Forscher*innen ein Vorbild sein können, sich nicht zu sehr auf Forschungen über Menschen, sondern auf die Forschung mit ihnen zu fokussieren. Dabei sollten nach der Autorin die besseren Ausgangsbedingungen im Hinblick auf das Kapital als Forscher*in gegenüber marginalisierten Gruppen klar reflektiert und hinterfragt werden.

Leider sind die rechtlichen Ausführungen größtenteils falsch. Es erfolgen Bezugnahmen auf das Bundesstrafvollzugsgesetz, das im Hinblick auf die von der Autorin dargestellten Regelungen, seit 2016 in keinem der Bundesländer mehr gilt. Damit befindet sich Barbara Sieferle zwar im Einklang mit anderen sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Vollzug, die rechtliche Rahmung ist dennoch nicht korrekt. Hinzu kommt, dass auch die Darstellung zu Strafrestaussetzungen, Bewährungsweisungen und -auflagen fehlerhaft ist. Insofern sollte durch Autor*innen von nicht-juristischen Veröffentlichungen sichergestellt werden, dass eine vorherige rechtliche Prüfung stattfindet. Eine andere Lösung wäre, im Rahmen von kulturwissenschaftlichen Untersuchungen auf eine rechtliche Rahmung bei der Darstellung der Ergebnisse zu verzichten.

Fazit

Ein lesenswertes Buch für Alle, die sich mit der tatsächlichen Situation von Menschen, die aus der Haft entlassenen werden, beschäftigen möchten. Eine Pflichtlektüre für jene Professionen, die Menschen innerhalb und außerhalb des Vollzuges Unterstützung anbieten (sollen). Warnhinweis: Die rechtlichen Ausführungen sind zu ignorieren und selbst zu recherchieren.

Rezension von
Prof. Dr. Gaby Temme
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Es gibt 8 Rezensionen von Gaby Temme.

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ISSN 2190-9245