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Lothar Böhnisch, Heide Funk: Verantwortung - Soziologische und pädagogische Perspektiven

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 22.05.2024

Cover Lothar Böhnisch, Heide Funk: Verantwortung - Soziologische und pädagogische Perspektiven ISBN 978-3-8376-6285-6

Lothar Böhnisch, Heide Funk: Verantwortung - Soziologische und pädagogische Perspektiven. transcript (Bielefeld) 2023. 170 Seiten. ISBN 978-3-8376-6285-6. D: 35,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 42,70 sFr.
Reihe: Pädagogik.

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Thema und Autor:innen

Das Buch befasst sich mit dem vieldiskutierten Begriff der Verantwortung in soziologischer und pädagogischer Hinsicht. Es handelt sich um eine gemeinsame Publikation von Lothar Böhnisch, der Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden lehrte, und Heide Funk, die Sozialwissenschaftlerin an der Hochschule Mittweida war.

Aufbau

In seinem ersten Teil beleuchtet das Buch verschiedene Aspekte, die es soziologisch mit dem Verantwortungsbegriff in Verbindung bringt. In Teil 2 nennt es drei Gesellschaftsmodelle, in der die Verantwortungsidee zum Zuge gelange, und beleuchtet im dritten Teil das Leitbild der Zukunftsverantwortung. Der abschließende vierte Teil thematisiert das Anliegen pädagogischer Verantwortung.

Inhalt

Einleitend wird betont, dass sich menschliche Verantwortung in einem Spannungsverhältnis zwischen eigener Autonomie einerseits und der Angewiesenheit auf andere andererseits befinde (S. 7). Diesem Sachverhalt widmet sich der erste Buchteil unter der Überschrift „Soziologische und sozialphilosophische Perspektiven“. Die Gegebenheit, dass Menschen auf andere angewiesen sind und zugleich selbst Verantwortung tragen, beruhe auf dem gesellschaftlichen Prinzip der Arbeitsteilung (S. 21). In der Gegenwart drohe freilich die Gefahr, dass Menschen in ihrer Autonomie überfordert würden, z.B. durch „Strukturen der Ausbeutung im globalen Kapitalismus“ (S. 32). Thematisch spricht der erste Buchteil noch eine Vielzahl weiterer Fragestellungen an, etwa die Verantwortung gegenüber der Natur (S. 24) oder das feministisch-sozialpolitisch fundierte Leitbild der Sorge für andere („care“, S. 40). Vor allem beklagt er eine neue strukturelle Verantwortungslosigkeit, deren Ursache u.a. das Internet oder die globalen Finanzsysteme seien (S. 25 ff.).

Der zweite Buchteil präsentiert drei Modelle der Gesellschaftsdeutung, anhand derer sich die Idee der Verantwortung bzw. das Spannungsgeflecht Autonomie versus Angewiesenheit verdeutlichen lasse. Eine kommunitaristische oder kommunitäre Sicht begreife Verantwortung als „gebundene Autonomie“ im Rahmen einer Wertegemeinschaft (S. 55). Ein Gesellschaftsmodell „jenseits von Markt und Staat“ rücke Gemeingüter („commons“) in den Blick, die Menschen gemeinsam herstellen, nutzen und verwalten (S. 59). In einer „Tätigkeitsgesellschaft“ stünde die Sorge für andere bzw. für das Gemeinwohl und für die Gemeinwohlbilanz im Vordergrund (S. 62 ff.).

Der dritte Buchteil thematisiert die „Verantwortung für die Zukunft“. Dies geschieht unter dem Vorzeichen von „Entgrenzung“ und „Entbettung“. In der Gegenwart habe sich ein entgrenzender soziokultureller Wandel ereignet, durch den die Welt unübersichtlich geworden sei. Z.B. habe im „heutigen digitalen Kapitalismus“ eine Entgrenzung des Reichtums stattgefunden (S. 87). Der globalisierte Kapitalismus sprenge die Steuerungsfähigkeit nationaler Geld-, Steuer- oder Sozialpolitik. Unter Entbettung versteht das Buch eine Herauslösung gesellschaftlicher Gegebenheiten aus früheren Zusammenhängen, etwa „die Verselbstständigung der Ökonomie gegenüber den nationalstaatlichen Gesellschaften im Prozess der Globalisierung“ (S. 70).

Als ein Beispiel für Entgrenzung und Entbettung erwähnt der dritte Buchteil die Gentechnologie, die auf neue Chancen der Krankheitsbekämpfung abzielt. Aus Sicht von Böhnisch/Funk droht sie jedoch „zwangsläufig zur sozialen Spaltung in Gesunde und Kranke, Behinderte und Nichtbehinderte“ zu führen (S. 80). Sie befinde sich unter dem Diktat der Ökonomie: „Die Problematik des genetischen Diskurses liegt vor allem darin, wie er ökonomisch vorangetrieben wird. Mit machbarkeitsideologischen genomischen Prognosen werden die sozialen Grenzen der Ökonomisierung nicht nur noch weiter herausgeschoben, sondern – und dies stellt die neue Qualität der genökonomischen Perspektive dar – die Grenzüberschreitung wird über den und im Menschen selbst vollzogen“ (S. 82).

Der vierte Buchteil betrifft ein ganz anderes Thema, nämlich die Pädagogik sowie weitgefasst das Schulsystem. Die Schule diene dem Erlernen von Verantwortung (S. 114), wobei Schüler:innen als Bürger:innen zu verstehen seien (S. 119). In einer „demokratisierten Schule“ könne Verantwortung „in Gruppen und Projekten“ erlernt werden (S. 115). Allerdings sei die Schule heute unter ökonomischen Verwertungsdruck geraten (S. 121). Wichtig für die Schule seien Empathie und Respekt (S. 107) und eine verantwortliche Konfliktbewältigung (S. 112). Böhnisch/​Funk plädieren für eine Öffnung der Schule für die sie umgebende Lebenswelt, auch durch von Schüler:innen verantwortete Projekte (S. 138), für eine „Verantwortungspartnerschaft“ zwischen Familie und Schule (S. 133) und unter Rückgriff auf das Gesellschaftsmodell der Just Community für eine Zentrierung der Schule auf die Schüler:innen: „der Projektunterricht und die Modelle einer Schule ohne Noten verschieben einen erheblichen Teil der Verantwortung auf die Ebene der Schüler:innen“ (S. 141). Besondere Beachtung verdiene die Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen (S. 143), die Stabilisierung von Vertrauen (S. 150), die Integration auch von Migrant:innen (S. 151) oder das Einüben von Nachhaltigkeit (S. 154).

Diskussion

Abgesehen von kurzen Anspielungen verzichtet das Buch darauf, den im Buchtitel genannten Begriff „Verantwortung“ geistesgeschichtlich zu erläutern und ihn definitorisch zu klären. Begriffsgeschichtlich ist er auf das antike römische Recht, nämlich auf die „Antwort“ des Angeklagten vor Gericht zurückzuführen. Er nimmt den Menschen als Handlungssubjekt in den Blick, der ethische und rechtliche Verbindlichkeiten bzw. Sollensnormen zu beachten hat. Böhnisch/Funk gehen auf dieses Begriffsprofil nicht weiter ein, sondern lassen ihre Überlegungen immer wieder darum kreisen, dass menschliches Sein in der Spannung von Autonomie und Angewiesenheit auf andere zu deuten sei. Die drei sozialwissenschaftlich angelegten Kapitel des Buches und sein viertes Kapitel zur „Pädagogik der Verantwortung“ (S. 97) sind nur locker miteinander verbunden.

Im einzelnen bringt das Buch starke Zivilisationsskepsis zum Ausdruck – sei es in den Abschnitten über globalisierte kapitalistische Wirtschaftsstrukturen, über die Genmedizin oder anderes. Oftmals warnt es vor „Verantwortungslosigkeit“. Der kritischen Kommentierung des sozialen und technologischen Wandels, die das Buch enthält, vermag der Rezensent jedoch nur teilweise zu folgen. Es greift z.B. zu kurz, wenn im Abschnitt „Gesundheit und Verantwortung zwischen sozialer Bindung und gentechnologischer Machbarkeit“ (S. 79 ff.) behauptet wird, die moderne biotechnologische Forschung sei unter das Diktat der Ökonomie und in den Sog einer Machbarkeitsideologie geraten. Hierbei wird ausgeblendet, dass der biotechnologische Fortschritt ethisch, rechtswissenschaftlich, medizinisch sowie gesundheits- und -rechtspolitisch ebenso umfassend wie kritisch diskutiert wird und dass ihm international sowie in den Nationalstaaten immer wieder Grenzen gezogen werden. Letzteres wurde z.B. im Jahr 2018 an den weltweiten Reaktionen auf die Keimbahnexperimente des chinesischen Biophysikers Jiankui He deutlich. Die an „der“ Gentechnologie geübte Kritik des Buches fällt zu pauschal und zu plakativ aus.

Die Überschrift des letzten Buchkapitels „Pädagogik der Verantwortung“ weckt sehr hohe Erwartungen. Für das Leitbild der Verantwortung interessiert sich die Pädagogik seit den 1920er Jahren. Seitdem richtet sie ihre Aufmerksamkeit darauf, dass Lehrer:innen für Schüler:innen reflektiert Verantwortung übernehmen, die dann zunehmend auf die Schüler:innen selbst übergeht, sodass sie schließlich zur Selbstbildung und zur Eigenverantwortung gelangen. Das hier vorliegende Buch erwähnt viele Einzelaspekte zum Lehrer-Schüler-Verhältnis, zur Schulorganisation oder zum Schulsystem, ohne in systematischer Bündelung konsistente Schlussfolgerungen zu ziehen. Genauso fehlt ein Schlusskapitel, in dem Böhnisch/Funk aus ihrer eigenen Sicht einen Gesamtertrag ihrer Überlegungen zur Deutung von Verantwortung formuliert und ihn zur Diskussion gestellt hätten.

Fazit

Das Buch behandelt den Begriff der Verantwortung und nimmt sich vor, zu ihm ein neues „Paradigma“ einer „Verantwortung in der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ zu entwickeln (S. 7). Hierzu listet es zwar Einzelaspekte auf, über die im einzelnen zu diskutieren wäre. Es dringt aber nicht dazu vor, in bündiger Form ein prägnantes Ergebnis zu präsentieren.

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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Es gibt 20 Rezensionen von Hartmut Kreß.

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ISSN 2190-9245