Matthias Bernt, Anne Volkmann: Segregation in Ostdeutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Eckardt, 04.04.2024

Matthias Bernt, Anne Volkmann: Segregation in Ostdeutschland. Transformationsprozesse, Wohnungsmärkte und Wohnbiographien in Halle (Saale).
transcript
(Bielefeld) 2023.
216 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6198-9.
D: 35,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 42,70 sFr.
Reihe: Urban Studies.
Thema
Das Buch adressiert aktuelle Entwicklungen in ostdeutschen Städten, wobei es sich auf Halle (Saale) als Fallstudie bezieht. Das Fallbeispiel wird im größeren Kontext der ostdeutschen Transformation gesehen und fokussiert sich auf das Thema Segregation, das hier hauptsächlich als Wohnsegregation erforscht wird.
Autorin und Autor
PD Dr. Matthias Bernt ist Forschungsgruppenleiter am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung.
Dr. Anne Volkmann ist Mitarbeiterin der Brandenburgischen Beratungsgesellschaft für Stadterneuerung und Modernisierung mbH.
Entstehungshintergrund
Das Buch wurde im Rahmen der „Beethoven-Initiative“ der DFG gefördert. Es bezieht sich auf Forschungen im Rahmen des DFG-Projekts „Similar but Different: Neighbourhood Change in Halle (Saale) and Łódź“, das in Kooperation mit der Universität Łódź von 2018 bis 2023 durchgeführt wurde.
Aufbau
Das Buch ist neun Kapiteln eingeteilt:
- Einleitung
- Segregation und Institutionen in der Stadtforschung
- Forschungsansatz und Methoden
- Von der sozialistischen zur kapitalistischen Stadt: Die Transformation des Wohnungssektors in Ostdeutschland
- Die Untersuchungsstadt Halle (Saale)
- Suburbanisierung: Abwanderung in die Zwischenstadt
- Gentrifizierung: Aufwertung und Verdrängung im Paulusviertel
- Großwohnsiedlungen: Sozialräumlicher Wandel in Halle-Neustadt
- Weichenstellungen: Fazit und Ausblick.
Inhalt
Kernstück der Publikation sind die eigene empirische Forschung und die theoretische Einbettung der Studie in den Stand der Segregationsforschung. Sowohl in der Einleitung wie auch im zweiten Kapitel wird zu letzterem eine fokussierte und auf die Empirie hinleitenden Einordnung der eigenen Forschung mit Bezug auf die Ostdeutschland-Forschung als auch mit Bezug auf die stadtsoziologische Segregationsforschung geleistet. Getragen wird die Studie durch die sehr grundsätzliche Frage: „Welche Rahmenbedingungen waren dafür verantwortlich, dass aus vergleichsweise stark sozial gemischten Städten innerhalb von drei Jahrzehnten vergleichsweise stark gespaltene Städte wurden?“ (S 12). Es soll herausgearbeitet werden, wie eine „spezifische Transformationspolitik“ (ebd) dies produziert hat. Angenommen wird, dass es eine, von den Autor:innen als „Segregationsmaschine“ aufgrund politischer Entscheidungen entstanden ist, bei der arme Haushalte verdrängt werden. So wird in der Einleitung eine überzeugende Begründung für die besondere Aufmerksamkeit auf die Segregation in ostdeutschen Städten geleistet, die sich aufgrund der fehlenden Forschungen zu diesem Thema ergibt und in einem weiteren Kontext von Leerstellen in der Ostdeutschland- wie Stadtforschung ergibt. Angedeutet wird bereits hier, die im nächsten Kapitel weiter begründete Perspektive auf Wohnstandortpräferenzen, die sich aus einer konzeptuellen Anerkennung der „Korridore“ (S. 19) der Handlungspraxen im Interplay zwischen der politischen Ökonomie und der individuellen Wohnstandortpräferenzen ergeben. Der Fokus soll dabei auf Besitzverhältnisse, Eigentumsregelungen und Mietgesetzen liegen. Dies soll ermöglichen, um „Weichenstellungen“ zu identifizieren, die die sozialräumlichen Spaltungen in den ostdeutschen Städten produzieren. Die eigentliche Untersuchung von Segregation wird anhand von Prozessen der Gentrifizierung, Suburbanisierung und dem Wandel der Großsiedlungen angegangen.
Im zweiten Kapitel wird das Segregationsverständnis der Autor*innen ausgearbeitet und stellt eine überarbeitete Version eines Beitrags zum „Handbuch kritische Stadtgeographie“ dar. Ausgeführt werden die Kernideen der sozialökologischen, neoklassischen, behavioristischen, polit-ökonomischen Erklärungsansätzen und die so bezeichneten „Restrukturierungsansätze“ (S. 31ff). Mit letzteren wird eine multitheoretische Sichtweise auf Segregation formuliert, womit durch „unterschiedliche Fenster, durch die in denselben Raum geschaut und ein vollständigeres Bild gewonnen werden kann“ (s. 33). Anschließend wird für diese holistischen Sichtweise auf Segregation eine Fokussierung auf die institutionelle Ebene von Segregation ausgearbeitet, bei der das „Dreieck aus Entscheidung, Institution und Nachbarschaft“ beschrieben wird, in der Wohnverhalten untersucht werden soll. Im methodischen dritten Kapitel wird der Nachdruck der Studie auf die interpretativen Ansätze der qualitativen Sozialforschung anschaulich dargelegt, wobei der Rückgriff auf die multimethodische Gestaltung einer Fallstudie, hier Halle/​Saale, einen integrativen Rahmen für die praktizierte Methodendiversität bildet. Im anschließenden Kapitel wird systematisch eine Art literature review zum Thema Wohnungswandel in Ostdeutschland präsentiert. Insbesondere in der Zusammenfassung (Kapitel 4.4., S. 90ff) werden die wichtigsten Befunde dazu pointiert dargelegt und das Ende der Desegregationspolitik der DDR sehr verständlich erklärt. Kapitel 5 stellt dann die Fallstudie dar, die für diese Arbeit grundlegend ist. Wirtschaft, Bevölkerungsentwicklung, Wohnungsmarkt und die folgenden Segregationsmuster werden detailreich, aber übersichtlich seit 1990 nachvollzogen. Hier wird der Zusammenhang mit dem städtebaulichen Muster der DDR-Zeit erkennbar (S. 105), wenngleich das Muster der Nord-Süd-Dynamik erst nach der deutschen Wiedervereinigung in der bis heute wirkenden Form einsetzte. Die Segregation folgt also den Linien der städtebaulichen Entwicklung, intensiviert aber die Spaltungen nach der Wende, weil diese mit einer wirtschaftlichen De-Industrialisierung einhergeht. Wie in Kapitel 6 (Abwanderung in die Zwischenstadt), Kapitel 7 (Gentrifizierung des Paulusviertel) und Kapitel 8 (Wandel in Halle-Neustadt) erkennbar wird, erfasst diese Intensivierung der gesellschaftlichen Spaltung allerdings nicht nur die soziale Aufteilung der Nachbarschaften auf der Ebene der gesamtstädtischen gesellschaftlichen Geographie, sondern vollzieht sich auch innerhalb dieser Nachbarschaften. Im Ergebnis wird damit ein Bewohnerwandel beobachtbar, bei dem etwa die statusniedrigeren sozialen Gruppen verstärkt nach Halle-Neustadt ziehen und somit eine verstärkte Konzentration dieser an diesem einstig „parastaatlichen“ Stadtteil (S. 171) entsteht. Auf dem Punkt gebracht, bedeutet dies den sozialen Abstieg für eine ehemalige Vorzeige-Stadt des Sozialismus. Wie die Autor*innen im Fazit (Kapitel 9) darlegen, müssen die Prozesse von Gentrifizierung und Suburbanisierung damit in einen ursächlichen Zusammenhang gestellt werden. Die durch Steuersubventionen geleiteten Investitionen werden hier als eine wichtige institutionelle Weichenstellung identifiziert. Gleiches gilt für das euphorisierte Programm „Stadtumbau Ost“, das de facto die Großwohnsiedlungen als „Rückstandsgebiete“ stigmatisierte. Der staatlich wie gesellschaftlich angebotene „Korridor“ zur Verbesserung der Wohnlage bezieht sich auf den Neubau oder auf die Sanierung. Beides steht als Wohnoption aber nur Menschen zur Verfügung, die finanzielle und intellektuelle Ressourcen für diese Wahlmöglichkeit haben. Wie es sich geradezu aufdrängt, wird diese Beobachtung in den Kontext der neoliberalen Politik gestellt, wobei allerdings die vielfältigen Dimensionen der Transformationserfahrungen nicht darauf reduziert werden, die für die Erklärung von Wohnverhalten hinzugezogen werden müssen. In der abschließenden Diskussion um die handlungspolitischen Schlussfolgerungen wird verdeutlicht, dass „nicht einfach nur mehr Geld“ (S. 190) nötig ist. Kern der Forderungen der Autor*innen ist die Förderung der kommunalen Handlungsfähigkeit. Des Weiteren sind Eigentumsverhältnisse zu problematisieren und sind marktferne kommunale, genossenschaftliche und gemeinwohlorientierte Besitzverhältnisse zu priorisieren. Angesichts der Verarmung von Halle-Neustadt, wie aufgezeigt, müsste aber das stadtpolitische Handeln auch eine „Art städtischen Nachteilsausgleich“ (S. 191) anvisieren.
Diskussion
Es zeichnet dieses Buch aus, dass es mit großer Klarheit Zusammenhänge der ostdeutschen Stadtentwicklung seit 1990 in ein eigenes Forschungsprojekt umsetzt. Hierbei wird in kritischer Würdigung vorhandenen Wissens aus der Stadt- und Ostdeutschlandforschung ein Ansatz verfolgt, der zugleich anspruchsvoll und doch ergebnisorientiert methodisch vorgeht. Mit der Fallstudien-Konzeption gelingt es der Studie, um den argumentativ überzeugenden holistischen Ansatz der Segregationsforschung mit der historisch erarbeiteten „Korridore“ des Wohnens zu verbinden. Richtigerweise werden die Ebenen der Institutionen (hier soziologisch als Regelwerke verstanden) aufgegriffen, um die Fallstudie sozialräumlich zu strukturieren. Die Dreiteilung der Nachbarschaften (gentrifiziert, stigmatisiert, suburbanisiert) erlaubt eine forschungsmethodische Klarheit, die den gesellschaftlichen Wandel räumlich sehr nachvollziehbar zu beschreiben.
Fazit
Insgesamt ist das Buch eine überzeugende und anspruchsvolle Studie, die die gesellschaftliche Spaltung als sozialräumliche Segregation sichtbar und erklärbar macht. Anschaulich wird die grundlegende Analyse durch drei sehr lesenswerte Nachbarschaftsbeschreibungen und eine multiperspektivische theoretische Einordnung, bei der aber zum Schluss wichtige Einsichten durchaus eine politische Perspektive formuliert werden, die nicht einfach umzusetzen sein werden – aber sehr plausibel erscheinen.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Eckardt
Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar
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