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Harald Welzer: Zeiten Ende

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.09.2023

Cover Harald Welzer: Zeiten Ende ISBN 978-3-10-397581-9

Harald Welzer: Zeiten Ende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2023. 304 Seiten. ISBN 978-3-10-397581-9. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

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Rundblick oder Rundumschlag

Vorweg eine Warnung: Begriffe benutzen und sie als „Leitbilder“ für politisches Denken und Handeln zu propagieren, heißt Gefahr laufen, sie ideologisch zu instrumentalisieren, wie dies der dominanzheischende Diskurs um den Begriff „Leitkultur“ verdeutlicht hat. Im wissenschaftlichen, intellektuellen Diskurs wird immer wieder darauf hingewiesen, dass objektive, seriöse Gegenwarts- und Zeitdiagnosen nicht vom Himmel fallen, und auch nicht per Ordre du Mufti oder aus ideologischen oder esoterischen Motiven vergeben werden dürfen; vielmehr bedarf es einer soliden politischen Bildung und Aufklärung, Bestandsaufnahmen und Prognosen über Zustand und Entwicklung von nationalen und internationalen, lokalen und globalen Gesellschaften vorzunehmen. Es sind professionelle Denker, die zeitdiagnostische Überlegungen anstellen und sich bemühen, aus der Weltwirklichkeit hergeleitete und beobachtete Zustände als Wandlungs- und Veränderungsprozesse darzulegen. Die Feststellung, dass jede Zeit eine Zeit des Wandels ist (Ken Follett), lässt sich amorph und ambivalent erklären. Zeitdiagnostisch bedarf es näherer Erläuterungen darüber, welche weltanschaulichen Einstellungen und Ziele dabei verfolgt werden. Insofern kann das vorangestellte Obacht als „Leitbild“ eingeführt werden, dass es „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (sind, die) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ bilden (Globale Ethik). Zeitdiagnosen sind fragile wie gefährliche Versuche, die Welt anzuschauen und zu werten (vgl. z.B. auch: Heiner Hastedt, Hrsg., Deutungsmacht von Zeitdiagnosen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25798.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer kann als Menschenfreund und -analyst geortet werden. Das zeigen seine zahlreichen anthropologischen, gesellschaftspolitischen, realen und utopischen Appelle (Alles könnte anders sein, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25572.php). Es sind Anregungen und Aufrufe, die im öffentlichen Diskurs und Diskussionsformaten Aufmerksamkeit finden. Seine Kompetenz zeigt sich vor allem dadurch, dass es ihm gelingt, „dem Volk aufs Maul zu schauen“ und gesellschaftliche Tendenzen zu registrieren, die sich hin zu demokratie-distanziertem und -feindlichem Denken und Handeln entwickeln. Er nimmt den Begriff „Zeitenwende“ auf und fragt gesellschaftspolitisch nach den Wirkungen in den öffentlichen Wahrnehmungen. Perspektiven- und Paradigmenwechsel bei der Bildung und Veränderung des politischen Bewusstseins vollzieht sich sowohl individuell als auch kollektiv. Es sind traditionelle, traditionalistische und progressive Einstellungen, die sich als Anpassung oder Widerstand ausdrücken. Und es sind die überraschenden und bedauerlichen Tatsachen, dass lediglich ca. ein Drittel der Weltbevölkerung in freiheitlichen, demokratischen Gesellschaften leben kann. Dazu kommt der Tatbestand, dass die Menschen, die in Würde und Rechten leben, dies als normal und selbstverständlich erachten und kaum Anstrengungen unternehmen, diese Chance auch zu erhalten und zu verteidigen.

Aufbau und Inhalt

Welzer benutzt für seine Studie, mit der er das „Zeitenende“ an die Wand malt, den Erzähl- und Argumentationsstil. Es sind zehn Begründungen, mit denen er darauf aufmerksam macht, dass es individual- und gesellschaftspolitisch höchst gefährlich ist, dass die Diskrepanz zwischen den politisch- und demokratie-staatlich Agierenden, den PolitikerInnen, und den „Normalos“, Hans- und Lieschen Müller, immer größer wird und die Kommunikations- und Verständnislosigkeit zunimmt. Mit der Frage „Wer bewohnt Deutschland?“ setzt er sich auseinander mit dem, was „normal“ ist und auf welchen Wertvorstellungen ein „gesellschaftlicher Konsens“ oder eine „Diskrepanz“ beruht. Im zweiten Kapitel nimmt er mit der Frage „Was war noch mal die Zeitenwende?“ den Diskurs auf, wie er global-öffentlich als Reaktion auf die vielfältigen Krisen in der Welt entstanden ist. Seine Konsequenz: „Demokratie muss man persönlich nehmen“. Der Ratschlag bedingt, dass er im dritten Kapitel das „Krisengeflecht“ auseinandernimmt und rät: „Wir müssen lernen, nicht nur wahrzunehmen, sondern auch wahrzugeben“, nämlich, dass die aktuellen und kommenden Krisen eine gemeinsame Ursache haben: „Wachsende Überlastung des Erdsystems bei ausbleibendem politischen Handeln“. Das erste Fazit daraus formuliert er im vierten Kapitel: „Kein Rückzug, nirgends“. Diese pessimistische Erkenntnis freilich lässt er nicht stehen, sondern zeigt auf, dass die Lösung ein „aufgeklärter Pazifismus“ sein kann, der gründet auf dem „moralischen Imperativ des Verzichts“. Das fünfte Kapitel ergänzt die Perspektiven: „The rest of the West. Oder: Versiegen lernen“. Mit Sechstens geht es um „Die“ Wirtschaft. Es sind kritische Fragen zum Begriff „Nachhaltigkeit“ und zur „Marktgläubigkeit“; Siebtens über „Die“ Medien; und Achtens „Die“ Politik, die zum Ausdruck bringen müsste, dass das politische Leitbild und Bewusstsein für eine freiheitliche Politik des 21. Jahrhunderts sei, dass „die Bedingungen für die Aufrechterhaltung und Fortsetzung der Freiheit von einer intakten Biosphäre und einem lebensermöglichenden Klimasystem abhängen“. Mit „Die“ Leute verweist der Autor auf die allzu bequemen, inkonsequenten Fingerzeige auf die „Anderen“, die schuld sind an den prekären Entwicklungen und zu wenig die Notwendigkeit des eigenen Denkens und Tuns bedenken. Schließlich im zehnten Kapitel die Erkenntnis, dass die „Gesellschaft in Gefahr“ ist, gelingt es nicht, eine humane, gleiche, gleichberechtigte und solidarische Menschheit im globalen und kosmischen Sinn zu schaffen. Es bedarf der Schaffung von „guten Orten“ und der Gestaltung von „guten Menschen“.

Diskussion

Begriffe erklären Welt. Wenn sie menschenwürdig, umwelt-, erd- und kosmisch-bewusst sein soll, kann ein „Leitbild“ hilfreich und wegweisend sein. Es muss wegführen von ego-, ethnozentristischen, nationalistischen, rassistischen und populistischen Parolen, von einer „Leitkultur des Wachstums und der Verschwendung“, und hinführen zu freiheitlichen, demokratischen und nachhaltigen lokalen und globalen Gesellschaften. Welzers Erstaunen und Erschrecken, dass die katastrophalen Krisen in der Welt sich zusehends verschärfen, und die Ohnmächte, sie zu verhindern, zunehmen, mündet in der beinahe passivistischen Aussage, es sei „fast unmöglich, heute noch ein zeitdiagnostisches Buch abzuschließen“:

Fazit

Dennoch! Weil Politik aktuelle und vorausschauende Gestaltung ist, sind passive, angepasste und abwartende Einstellungen „toxische Politik“, die nur den Menschen- und Demokratiefeinden zum destruktiven Denken und Tun verhilft: Demokratische Politik ist, persönliche Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen“. Damit wäre eine Definition für ein politisches Leitbild formuliert. Das ausführliche Register trägt dazu bei, die Studie mit der Frage: „Welches Land wollen wir sein?“ auch als Handbuch für den engagierten, aktiven, gesellschaftlichen Dialog zu benutzen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245