Frauke Schwaiblmair (Hrsg.): Musiktherapie als Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung oder fehlender Sprache
Rezensiert von Prof. Dr. Raika Lätzer, 21.02.2024
Frauke Schwaiblmair (Hrsg.): Musiktherapie als Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung oder fehlender Sprache. 30. Musiktherapie-Tagung am Freien Musikzentrum München e. V. (5.–6. März 2022).
Dr. Ludwig Reichert Verlag
(Wiesbaden) 2023.
118 Seiten.
ISBN 978-3-7520-0717-6.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR.
Reihe: Institut für Musiktherapie (München): Schriften aus dem Institut für Musiktherapie am Freien Musikzentrum München e.V. - Band 24. Zeitpunkt Musik.
Thema
Menschen mit Intelligenzminderung oder fehlender Sprache können genauso unter psychischen Erkrankungen leiden wie Menschen ohne Intelligenzminderung und mit Sprache. Im deutschsprachigen Raum gibt es allerdings für die erstgenannten Menschen kein ausreichendes Angebot für qualifizierte psychotherapeutische Behandlung. Musiktherapie stellt eine Möglichkeit dar, diese Menschen einerseits generell mit therapeutischen Angeboten zu versorgen und andererseits gerade Menschen mit fehlender Sprache zu erreichen.
Herausgeber:in und Autor:innen
Herausgeberin Frauke Schwaiblmair hat vielfältige berufliche und ehrenamtliche Tätigkeitsfelder: Sie ist Musiktherapeutin (DMtG), Diplom-Psychologin, Bezirksrätin, Inklusionsbeauftragte des Bezirks Oberbayern und sie versieht Lehraufträge an verschiedenen Musikhochschulen.
Die insgesamt acht Beiträge in dem Tagungsband stammen von Marie Becker, Birgitte Meier-Sprinz und Andreas Sprinz, Melanie Voigt und Thomas Wosch, Corinna Bonaccurso, Frauke Schwaiblmair selbst, Silke Reiner, Thomas Bergmann und Lutz Neugebauer. Fast alle Autor*innen haben selbst ebenfalls (unter anderem) einen musiktherapeutischen Hintergrund.
Inhalt
Das Buch entstand als Tagungsband im Rahmen der 30. Musiktherapie-Tagung am Freien Musikzentrum München e.V. im März 2022. Nach einer kurz gehaltenen Einleitung durch die Herausgeberin folgen acht einschlägige Aufsätze zum Thema. Eine Zusammenfassung der gesamten Inhalte erfolgt nicht, ab S. 117 werden Kurzinformationen zu den Autor*innen angeboten.
Schon unmittelbar in der Einleitung des Bandes macht Herausgeberin Frauke Schwaiblmair die Relevanz des Themenfelds aus ihrer Sicht deutlich: Bis zu 3 % der Bevölkerung lebt mit einer Intelligenzminderung und laut der WHO haben diese Menschen ein 3-fach oder sogar 4-fach höhres Risiko für psychische Erkrankungen (S. 7). Als besondere Herausforderung kommt die Gefahr hinzu, dass die psychische Erkrankung nicht entdeckt wird, sondern eine entsprechende Symptomatik als Symptom der Intelligenzminderung gesehen wird (S. 7). Der Band setzt sich vor diesem Hintergrund mit den Möglichkeiten auseinander, musiktherapeutisch mit Menschen mit Intelligenzminderung zu arbeiten und diese Musiktherapie insbesondere als Psychotherapie zu verstehen. Frauke Schwaiblmair zufolge leistet Musiktherapie zur psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung einen wesentlichen Beitrag (S. 8).
Die acht nachfolgenden Aufsätze greifen jeweils unterschiedliche Aspekte auf, zwei ausgewählte Aufsätze werden im folgenden näher vorgestellt.
Die promovierte Musiktherapeutin und Diplom-Psychologin Maria Becker stellt sich in ihrem Beitrag die Frage, inwieweit Musiktherapie eine Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung sein kann. Der Beitrag beginnt mit Vorüberlegungen zu passenden Begrifflichkeiten und stellt dann zentrale theoretische Konzepte für die eigene Herangehensweise vor (Container-Contained-Modell nach Bion, Interaktionstheorie und das ‚szenische Verstehen‘ nach Lorenzer (S. 12)). Sehr ausführlich und überaus nachvollziehbar schildert Maria Becker das musiktherapeutische Vorgehen mit der 5-jährigen schwerbehinderten Dahlia und mit Herrn G. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass der Gegenübertragung in der „psychoanalytischen Musiktherapie“ mit intelligenzgeminderten Menschen besondere Bedeutung zukomme.
Die Musiktherapeutin Brigitte Meier-Sprinz und der Kinderneurologe Andreas Sprinz arbeiten gemeinsam am Zentrum für interdisziplinäre Neuropädiatrie Kempten (ZiNK) und setzen sich in ihrem Aufsatz mit psychischer Komorbidität bei schwerer (kinder-)neurologischer Erkrankung auseinander. Besonderer Schwerpunkt ist die notwendige ambulante psychotherapeutische Behandlung. Musiktherapie wird hierbei als „Option“ im Titel genannt. Die beiden Autor*innen arbeiten drei potenzielle Belastungs- und Risikofaktoren für die psychische Gesundheit von Eltern und Kindern bei einer schweren kinderneurologischen Erkrankung heraus: Die Belastung der frühen Beziehungsentwicklung, die psychosoziale Belastung und ein „uneindeutiges Verlust-Trauma“ (S. 37).
Der Beitrag behandelt des Weiteren ein berührendes Fallbeispiel: Die Entwicklung der fünfzehnjährige Sophia im Rahmen einer musiktherapeutischen Behandlung wird eindrucksvoll geschildert. Sophia ist schwerst mehrfach behindert und verfügt insbesondere über keine Möglichkeit, sich verbal mitzuteilen. Im Laufe der Musiktherapie allerdings erlernt sie, sich über ein Stempel-System schriftlich verständlich zu machen. Lesen hatte sie sich bereits selbst beigebracht. Sophia schreibt Texte, Gedichte und Lieder und beschreibt eindrücklich, dass sie ohne die neu erschlossenen Ausdrucksmöglichkeiten Ängste hatte und sich unendlich einsam gefühlt hat. Der Beitrag schließt mit einem Hinweise auf die Notwendigkeit zur Teilhabe für Menschen mit Intelligenzminderung und die Möglichkeit und Notwendigkeit für diese Menschen, auch bei psychischen Herausforderungen begleitet zu werden. Dies sei oftmals ausschließlich über musiktherapeutisches Arbeiten möglich (S. 58).
Diskussion
Frauke Schwaiblmair hat einen vielseitigen und interessanten Band herausgegeben, der verschiedene Facetten des musiktherapeutischen Arbeitens mit Menschen mit Intelligenzminderung vorstellt. Tatsächlich wird der Bedarf überaus überzeugend dargestellt und es wird auch überzeugend dargestellt, dass gerade musiktherapeutisches Arbeiten aufgrund der Möglichkeiten im non-verbalen Bereich eine probate Therapieform ist. Schon in der Einleitung stellt die Herausgeberin Frauke Schwaiblmair dar, dass Menschen mit Intelligenzminderung außerordentlich von Kreativtherapien profitieren – eine Aussage, die durch die Aufsätze in dem Band eindrucksvoll gestützt werden.
Fazit
Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine bedeutende Publikation für den Bereich (Musik-)Therapie für Menschen mit Intelligenzminderung. Wie in sehr vielen anderen Bereichen werden die Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit Beeinträchtigungen im Allgemeinen auch im (psycho-)therapeutischen Bereich nicht ausreichend berücksichtigt. Der Band leistet somit einen Beitrag dazu, diese bei (manchen) Menschen mit Intelligenzminderung bestehenden Bedarfe zu erkennen und die therapeutische Versorgung zu gewährleisten.
Rezension von
Prof. Dr. Raika Lätzer
Professorin für Musikpädagogik in der Sozialen Arbeit, Katholische Stiftungshochschule München
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Es gibt 17 Rezensionen von Raika Lätzer.
Zitiervorschlag
Raika Lätzer. Rezension vom 21.02.2024 zu:
Frauke Schwaiblmair (Hrsg.): Musiktherapie als Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung oder fehlender Sprache. 30. Musiktherapie-Tagung am Freien Musikzentrum München e. V. (5.–6. März 2022). Dr. Ludwig Reichert Verlag
(Wiesbaden) 2023.
ISBN 978-3-7520-0717-6.
Reihe: Institut für Musiktherapie (München): Schriften aus dem Institut für Musiktherapie am Freien Musikzentrum München e.V. - Band 24. Zeitpunkt Musik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31402.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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