Elke Christine Helen Harnisch, Anne Hartmann et al. (Hrsg.): Raus aus dem Haus
Rezensiert von Prof. Dr. Johann Bischoff, 11.12.2023

Elke Christine Helen Harnisch, Anne Hartmann, Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, Lisa Unterberg (Hrsg.): Raus aus dem Haus. Wissenstransfer in der kulturellen Bildung. kopaed verlagsgmbh (München) 2023. 241 Seiten. ISBN 978-3-96848-087-9. D: 18,80 EUR, A: 19,40 EUR.
Herausgeberinnen und Autorinnen
Das der Publikation zugrunde liegende Verbundvorhaben „Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung“ wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Programme zur empirischen Bildungsforschung gefördert. Das Team der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel unter der Leitung der Direktorin Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss sowie der Projektreferentinnen Anne Hartmann und Julian Scheuer und das Team der Internationalen Hochschule unter der Leitung von Lisa Unterberg sowie der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Elke Harnisch-Schreiber sind für die Herausgabe der Publikation verantwortlich und auch als Autoren vertreten.
Projektleitung
Frau Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss ist seit 2012 Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel sowie Professorin für Kulturelle Bildung an der Universität Hildesheim, ihr fachlicher Schwerpunkt liegt im Bereich Theater- und Medienwissenschaft.
Frau Prof. Dr. Lisa Unterberg ist Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule in Stuttgart, ihr fachlicher Schwerpunkt liegt im Bereich Musikwissenschaft und Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung.
Für Beiträge aus Forschung und Praxis konnten die o.g. Herausgeberinnen renommierte Autorinnen/Autoren gewinnen, aus der Praxis Katalin Pöge/Stephan Kaps, Sara Schwienbacher (Professorin in Ottersberg), Julia Yael Alfandari, Türkan Deniz-Roggenbuck/Dirk Sage sowie Lea Maria Spahn/Astrid Lembcke-Thiel.
Aus der Forschung sind neben den o.g. Herausgeberinnen Antje Klinge/Denise Temme, Tom Braun/Kerstin Hübner, Luise Fischer/Nina Kolleck, Friederike Schmidl/Franz Krämer hervorzuheben.
Thema
Zentrale Fragestellung des Verbundvorhabens: Wie kann Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Praxis in der Kulturellen Bildung gelingen? Eine Vermittlungsfragestellung zwischen Theorie und Praxis mit der Intention, zwischen beiden Arbeitsschwerpunkten einen Dialog zu entwickeln.
In der Publikation wird über zwei Teilgruppenprojektvorhaben berichtet, einerseits initiiert von der IU Internationalen Hochschule Stuttgart und andererseits von der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel. Integrativer Bestandteil der jeweilen Projektforschung sind Berichte über die Evaluation. Als Autorinnen/Autoren wurden „Spezialisten“ im Kontext der gesamten Bandbreite relevanter Fragestellungen zur Kulturellen Bildung gewonnen, die die Spezifik ihres Arbeitsfeldes transparent erläutern. Integrativer Bestandteil dieser Spezifik ist dann auch die Verwendung arbeitsimmanenter Ausdrucksweisen/Begrifflichkeiten aus unterschiedlichen Wissensbereichen, z.B. der Medizin, Pädagogik oder Soziologie. Ohne thematische Vorkenntnisse ist es z.T. etwas mühsam, die jeweiligen Aussagen der Autorinnen/Autoren nachzuvollziehen.
Als zentrale Aufgabe für ein Gelingen von Wissenschaftstransfer zwischen unterschiedlichen Akteuren/Akteurinnen in der Kulturellen Bildung (zwischen Theorie und Praxis) werden von den Herausgeberinnen drei Aspekte hervorgehoben:
- Existenz und Gestaltung von Räumen für Wissenstransfer,
- Wert der Selbstermächtigung,
- In-Bewegung-sein.
Spannend zu lesen sind die vorgestellten Ansätze aus der Vermittlungs- und Forschungspraxis, Kunst- und Bildungspraxis sowie die spezifischen Aussagen dazu der Multiplikatoren/Multiplikatorinnen. Der Slogan „Raus aus dem Haus“ verweist auf eine offene gestaltete Projektarbeit, folgend dem Prinzip der Selbstermächtigung. Das Verlassen des eigenen, sicheren Terrains mit der Zielstellung, in Bewegung zu kommen.
Räume, Selbstermächtigung und Bewegung werden als Leitmotive des Sammelbandes benannt, mit der Absicht, daraus Dialoge zu entwickeln.
Aufbau und Inhalt
Der Kopaed Sammelband „Raus aus dem Haus – Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung“ erfasst Beiträge aus Forschung und Praxis bzw. Wissenschaft und Praxis. In einem „Steckbrief“ thematisieren die Herausgeberinnen ihre Motivation und Ziele des Projektvorhabens, geben einen Projektproblemaufriss, stellen Ansatzpunkte der Workshop/Seminare und Tagungen dar und fassen zentrale Erkenntnisse zusammen, z.B. Binarität auflösen, Prozesse initiieren, Ressourcen einfordern oder auch Begrifflichkeiten aushandeln.
Unterberg bietet einen Diskurs zum Begriff „Wissen“ an. Sie fordert zum Nachdenken auf, über Wissen bzw. die Natur des Wissens und weist auf unterschiedliche Systematisierungen hin – Wissen ist Ziel der Erkenntnisbemühungen. Integrativer Bestandteil sei, so Unterberg, der Transfer des Wissens und die Verständigung.
Hartmann/Scheuer beschäftigen sich mit der Frage, wie Austausch zwischen Forschung und Praxis in der Kulturellen Bildung gelingen kann. Sie beschreiben Begegnungsräume im Sinne von Möglichkeitsräumen und als Transferpraktiken: Reflexion, Dialog und Vernetzung, Beratung und Feedback, Kollaboration und Co-Kreation sowie Wissensvermittlung und Wissensaustausch. Ihre gewonnenen Kenntnisse führen sie jeweils unter „was haben wir mitgenommen“ aus, z.B. Austausch und Beratung oder Wissen explorieren.
Harnisch-Schreiber leistet eine strukturierte Übersicht zum Forschungsbericht „Wissenstransfer und Begleitforschung“. Als Erkenntnisse werden ausgewiesen: Prozesse initiieren, die am Wissenstransfer beteiligten Akteure/Akteurinnen ermächtigen, Ressourcen einfordern.
Pöge und Kaps laden dazu ein, die Verzahnung von Wissenschaft und Praxis zu entdecken. Offenheit und Vielfalt sind für sie zentrale Forderungen, Wissenstransfer gelingen zu lassen.
Schwienbacher beschäftigt sich mit dem Schwerpunkt „Resonanz“ und stellt das Worpsweder Projekt PAULA vor, dem Modell eines künstlerischen Resonanzraumes, wo Leser/Leserinnen zum Gestalter oder „Umgestalter“ (durch grafische Anleitungen) werden können. PAULA ist ein lebendiger Galerieraum, der zum Forschen, Arbeiten, Lernen auffordert – zur kulturellen Teilhabe. Der Name des Ottersberger Vorzeigeprojektes ist wohl auf die bekannte Künstlerin Paula Modersohn – Becker zurückzuführen. Der künstlerische Resonanzraum wird als Plattform und Weitergabe von Wissen begriffen, PAULA ein künstlerisch-kollaborativer Forschungs- und Vermittlungsraum.
Alfandari thematisiert eine kritische kulturelle Bildungspraxis im Kontext einer antisemitismus- und Rassismus bezogene Bildungsarbeit in einer thüringischen Gesamtschule. Beispielhaft thematisiert sie, wie Prozesse des „Verlernens“ initiiert werden können. Alfandari beschreibt Bildung als Werkzeug zur Hinterfragung von Machtverhältnissen und als Mittel der Selbstermächtigung. Perspektivwechsel ist dabei ein konstitutives Mittel, was durch Liminalität initiiert werden kann. M.E. bezieht sie sich dabei auf Turner, der Liminalität als Schwellenzustand beschreibt, in dem sich Individuen (hier: Schüler/Schülerinnen) oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben. Bezogen auf die Thüringer Schulgruppe beschreibt sie damit ihre pädagogische Arbeit, die Schüler zu motivieren, ihre sozialen Konstrukte kritisch zu hinterfragen und in der Performativität aufzulösen.
Deniz-Roggenbuck und Sorge konzentrieren sich auf Fragen zur Thematik „Wissen im Kontext von Machtasymmetrien und Dominanzsystemen“. Sie laden die Leser/Leserinnen ein, über Diversität und Inklusion nachzudenken. Das geschieht im Rahmen eines Dialoges zwischen beiden Autoren. Als „Anhang“ fügen sie noch eine „Fragenbox für den Arbeitsalltag“ bei, mit der Intention, zum offenen Nachdenken aufzufordern.
Klinge und Temme widmen sich dem Thema „Körperwissen“ und verdeutlichen ihre Erfahrungen dazu am Beispiel des Tanzes bzw. der Tanzvermittlung. Eine gemeinsam geteilte soziale Praxis beschreiben sie als konstitutionellen Bestandteil eines gelingenden Wissenstransfers. Zentrales Thema ist der Transfer vom praktischen, haptischen Wissen zu einem wissenschaftlichen Wissen. Sie beziehen sich dabei auf Aussagen renommierter Soziologen, wie z.B. Hirschauer, Bourdieu oder Prenzel und schaffen dann eine Verbindungslinie zum Wissenstransfer im Bereich Tanz und Tanzvermittlung.
Braun und Hübner beschäftigen sich mit der Rolle der Verbände der kulturellen Kinder- und Jugendbildung bezüglich des Wissenstransfers.
Fischer und Kollek stellen ausgewählte Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit zur Thematik „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen“ vor. Sie postulieren eine Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis und beziehen ihre Aussagen auf von ihnen favorisierte wissenschaftstheoretische Annahmen. Sie folgern, auch wenn Praxis und Forschung oft institutionell und personell getrennt sind, brauchen sie einander, um Veränderungsprozesse anzustoßen und zu bewirken.
Schmiedl und Krämer fügen einen weiteren theoretischen Impuls zum Wissenschaftstransfer hinzu. Sie stellen den Aspekt „Digitalisierung in der Kulturellen Bildung“ ausführlich vor. Sie eröffnen Perspektiven zum Transferverständnis, d.h., sie zeigen Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung mit essenzialistischen und substanzialistischen Theorie – Positionen auf. Sie beschreiben Anforderungen an Digitalisierungsmaßnahmen in der kulturellen Bildung und beziehen sich auf ein Metaprojekt, das ebenfalls vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Als anwendungsbezogene Forschungsergebnisse thematisieren sie drei transferrelevante Ergebnisformen: unmittelbar transferrelevante Erzeugnisse (z.B. Apps), pragmatisch relevantes Verfügungswissen sowie professionelles und institutionelles Orientierungswissen für die Praxis. Postuliert wird ein Wissensaustausch zwischen Praxis, Administration und Wissenschaft.
Lemke-Thiel und Spahn bieten dem Leser/der Leserin eine dialogische Selbstbefragung an. Sie bearbeiten Wissenstransfer eher künstlerisch. Die Texte sind grafisch gestaltet, die Grafikerin Benz illustriert ihre Aussagen. Benz hat auch die Gesamtgestaltung der Publikation übernommen.
Zielgruppe
Die Veröffentlichung richtet sich insbesondere an forschungsinteressierte Leserinnen und Leser, die aktuelle Ergebnisse der kulturwissenschaftlichen Forschung erfahren möchten. Sie können vielfältige Gedankenanstöße erhalten und auch einen Einblick auf die Bezugswissenschaften der Kulturellen Bildung bekommen.
Für Studierende im kulturellen Bereich könnte die Publikation ebenfalls hilfreich sein, wenn sie mit praktizierter Bildungsarbeit (wie in der Publikation beschrieben) verbunden werden kann.
Diskussion
Einzelne Artikel der Publikation lesen sich z.T. als „summary“ eines Forschungsberichtes. Zu empfehlen ggf. für Masterstudierende eines Studienganges Kulturwissenschaften/Medienwissenschaften, die sich insbesondere mit den in der Publikation genannten Schwerpunkten auseinandersetzen möchten.
Leserinnen/Leser der künstlerischen Praxis sollten sich zuvor mit dem gesamten Bezugsfeld der Kulturellen Bildung, auch mit „Vermittlungsansätzen“ auseinandergesetzt haben, ansonsten wird ggf. eine Überforderung beim Lesen durch das Abstraktionsniveau der Texte erfolgen, was dann evtl. zum Motivationsverlust beim Lesen der Texte führen könnte. Es wird aber der Theorie – Praxis Bezug in der Publikation als konstitutiv herausgestellt.
Noch ein kleiner Hinweis: zur besseren Lesbarkeit hätte ich mir gewünscht, dass ein generisches Femininum als Schreibweise ausgewiesen wäre, die vielen Sternchen im Text erfordern beim Lesen eine hochgradige Konzentration.
Fazit
Die Publikation gibt einen sehr guten Überblick über die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der empirischen Bildungsforschung geförderten Verbundvorhabens „Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung“. Das Team der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel und der Internationalen Hochschule haben es vermocht, Autorinnen/Autoren zu gewinnen, die einen erweiterten Einblick in die Thematik „Wie kann Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Praxis in der Kulturellen Bildung gelingen“ geben können. Theorie und künstlerische Praxis, zwei unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte sollen im Dialog zueinanderfinden. Kein einfaches Unterfangen, das wird in den einzelnen Beiträgen immer wieder deutlich. Auch, dass es keine Alternative dazu gibt, wenn kulturelle Bildung erfolgreich verlaufen soll.
Rezension von
Prof. Dr. Johann Bischoff
Professor für Medienwissenschaft und angewandte Ästhetik an der Hochschule Merseburg
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