William MacAskill: Was wir der Zukunft schulden
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.12.2023
William MacAskill: Was wir der Zukunft schulden. Warum wir jetzt darüber entscheiden, ob wir die nächste Million Jahre positiv beeinflussen. Siedler Verlag (München) 2023. 444 Seiten. ISBN 978-3-8275-0179-0. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 34,63 sFr.
Zukunft denken
Besonders in Zeiten, in denen sich (scheinbar) gegenwärtige Lebensbedingungen der Menschheit schwierig gestalten; in denen die Rufe nach Gewissheiten und Sicherheiten keinen Widerhall finden; in denen sich Weltuntergangsstimmungen ausbreiten; in denen Wahrsager, Hexen, Wirklichkeitsleugner, Ideologen und Fake Newser auftreten – ist Zuversicht gefragt. Es gilt Ausschau zu halten nach Zeitdiagnostikern, die mit wissenschaftlichen Methoden fragen, wie die Zukunft der Menschheit aussehen könnte [1]. Es können Gesellschafts-, Sozial-, Zukunftsforscher und Analytiker sein, die Perspektiven erkunden; es kann sich um Alltagsdenker, Schriftsteller, Lyriker oder Journalisten handeln (siehe z.B.: Heribert Prantl 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​24119.php).
Hier soll ein Denker vorgestellt werden, der als Wissenschaftler davon überzeugt ist, dass die Menschheit das Potenzial hat, allen Menschen auf der Erde ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, der britische Philosoph William MacAskill von der Oxford University. Er ist überzeugt, dass das, was die Menschen heute denken und tun, individuelle und kollektive, lokale und globale Auswirkungen auf das zukünftige Dasein der nachfolgenden Generationen hat. Es ist die Jetzt-Verantwortung, wie wir mit den aktuellen terrestrischen, kosmischen, sozialen Entwicklungen umgehen, wie wir Krisen und Katastrophen bewältigen [2].
Inhalt
Effective Altruism
Die Frage nach euzôia, bene vivere, das gute Leben, wird seit der antiken, anthropologischen Lebenslehre als das existenzielle Ziel des anthrôpos, des Menschen, bezeichnet. Eu zên, gut leben, gilt als die Fähigkeit, danach zu streben, im Leben der Menschen mehr als das Notwendigste, nämlich ein sittlich gutes Leben zu erreichen. Damit wird ein Ziel angestrebt, das sowohl dafür eintritt, dass jeder Mensch auf der Erde in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse zu erfüllen [3], als sich auch der Wertvorstellungen und Haltungen wie Nächstenliebe, Fernstenliebe, Empathie, Gemeingut, Allmende, Agape… zu versichern. Wir sind beim Begriff „Altruismus“, mit dem selbstloses, uneigennütziges, nicht egoistisches und auf den Anderen bezogenes Denken und Handeln bezeichnet wird, und das in der idealen Form als Verhaltensweise gilt, die nicht auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung basiert, sondern bei der Gebende und altruistisch Handelnde zu einer stärkeren Befriedigung und Bestätigung gelangt. Die Auffassung zeigt sich auch im Prinzip „Was mehr wird, wenn wir teilen“, das die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom als ökonomisches Konzept vom Wert der Gemeingüter entwickelte, und für das sie 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt [4]. MacAskill nimmt den Gedanken auf und fragt: „Wie kann ich am meisten bewirken und der größtmöglichen Zahl von Menschen zu einem besseren Leben verhelfen?“. Dabei geht er mit den Mitteln und Möglichkeiten des Big Data, der experimentellen Feldforschung, naturwissenschaftlichen Kontrollverfahren und den Informationen, wie sie leistungsfähige Rechner zur Verfügung stellen, der Frage nach: „Doing good better. How Effective Altruism Can Help You Make a Difference“. Der Anspruch, die richtigen Fragen zu stellen, um die richtigen, wahren und effektiven Antworten zu bekommen, ist ja ein bewährtes Mittel für kritisches Denken. Altruistisches Denken und Handeln kann dabei in die Falle geraten, Mitgefühl als Schild vor sich herzutragen und egoistisches Nützlichkeitsdenken als das einzig wirksame Mittel zu betrachten. Da sind Rechnungen angebracht wie: „Wenn Sie eine 40-Stunden-Woche haben, arbeiten Sie in 40 Jahren genau 80.000 Stunden“. Interessant wird es, wenn man jetzt weiter fragt; etwa: Wie verbringe ich diese Zeit? Mit Egoismus und unnützem Konsum, oder mit Altruismus? Es sind die Zauberwörter Empathie und Solidarität, die die Richtung weisen.
Es gilt, Mitstreiter und Gleichgesinnte zu finden, die sich ernsthaft und existentiell der Frage stellen: „What are the most important issues of our time? How can wie best address them?“. MacAskill belässt es dabei nicht bei den theoretischen, argumentativen Überlegungen, sondern zeigt an konkreten Beispielen auf, wie effektiver Altruismus wirkt. Es sind die sympathischen, empathischen, humanen Haltungen und Einstellungen einer ganzheitlichen, verantwortungsbewussten Lebensführung: „Ich kann und will Gutes tun!“. Es sind die existentiellen, anthropologischen und philosophischen Fragen; „Wer bin ich?“ und „Wie bin ich geworden, was und wie ich bin?“ [5], die zu allen Zeiten die Menschen veranlasst haben, über den eigenen, physischen und psychischen Gartenzaun zu schauen, und sich nicht zufrieden zu geben mit einem: „Da kann man nichts machen!“. Es ist vor allem in Krisenzeiten die Frage: „Was wird aus uns und unserem Leben auf der Erde?“, die nach Aussicht sucht. MacAskill entwickelt eine dreischrittige Formel: EA = Empathie + Solidaraität = Effektivität + Zuversicht = Selbstbewusstsein + Wirksamkeit [6].
„Was können wir einer ‚Welt im Ungleichgewicht‘ entgegen setzen?“
Von Ken Follett stammt die Erkenntnis, dass jede Zeit eine Zeit des Wandels sei. Das ist eigentlich ein selbstverständliches, logisches Bewusstsein; doch wenn in Gegenwarten Krisenzeiten auftreten, die von Menschen nicht einfach weggemacht und weggewünscht werden können, geraten Individuen und Kollektive in Panik. Ohnmachtsempfindungen und momentanistische Einstellungen scheinen die Oberhand zu gewinnen. Es sind ego-, ethnozentristische, nationalistische, rechtsradikale und populistische Einstellungen, die sich breit machen. Beim Wiener-Münchener Forschungsprojekt „Vom Werden“ wurden 2017 interdisziplinäre Fragen zur „Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft“ gestellt und das Augenmerk darauf gerichtet, wie den zunehmenden globalen Umwelt-, den menschengemachten Wirtschafts- und Finanzkrisen, und den menschheitsbedrohenden Pandemien und Gefährdungen begegnet werden kann. Die antike, griechische Ovidsche Erkenntnis – „Nichts auf der ganzen Welt ist beständig. Alles fließt und jede Erscheinung wandelt sich im Laufe der Zeit“ – kann als Wahlspruch und Richtungsweiser für den notwendigen Perspektivenwechsel verstanden werden, wie ihn 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Mit dem Projektband „Vom Werden“ werden Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach den Imponderabilien, dem Gewordenen, und den Zufälligkeiten des Lebens thematisiert; es wird nach dem Menschengemachten und -gewollten gefragt; Es geht um das Dialogische sowohl zwischen den Menschen, als auch zwischen Mensch, Natur, Kosmos und Kultur. „Jeder weiß es und spürt es: Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Transformation“. Die Geschwindigkeiten der lokalen und globalen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse nehmen zu. Die Analysen und Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt und der Menschheit zeigen vielfältige Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten. Mit ihnen umzugehen und mit ihnen zu leben erfordert ein intellektuelles, aufgeklärtes Bewusstsein und die Erkenntnis, dass es dringend geboten ist, ohne quantitatives Wachstum auszukommen, die Begrenztheit unseres Planeten anzuerkennen und gegenwärtigen und künftigen Generationen eine Zukunft durch die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu ermöglichen [7].
Fazit
Die indisch-britische Philosophin und Kapitalismuskritikerin Amia Srinivasan gibt zu bedenken, dass viele der Theorien und Praktiken zur Humanisierung und Verbesserung der Welt auf ein individualistisches, kapitalistisches Wohlfühldenken ausgerichtet sind: „Der Kapitalismus hat sich mal wieder seine stärksten Kritiker einverleibt“. Es fehle den Konzepten eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Institutionen, den nationalen und egoistischen, lokalen und globalen staatlichen Strukturen und Normvorstellungen, um die Ursachen der lokalen und globalen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu beseitigen und einen makroökonomischen und -gesellschaftlichen Perspektivenwechsel vollziehen zu können. Es kann also nicht das Eine allein sein, sondern es bedarf sowohl das Eine, als auch das Andere [8]!
[1] Heiner Hastedt, Hrsg., Deutungsmacht von Zeitdiagnosen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25798.php
[2] William MacAskill, Welche Superkräfte retten die Zukunft, DIE ZEIT, Rubrik „Sinn und Verstand – Die philosophische Seite, Nr. 39 vom 14. 9. 2023, S. 47
[3] Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​16223.php
[4] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​11224.php
[5] Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29229.php
[6] William MacAskill, Gutes besser tun. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/​20648.php
[7] Beatrice Voigt, Hrsg., Vom Werden. Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellshaft: Perspektiven einer zukunftsoffenen Wertekultur im Dialog von Wissenschaft, Kunst und Bildung, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​27299.php
[8] siehe dazu auch: Daron Acemoglu/​Simon Johnson, Macht und Fortschritt, Siedler-Verlag, 2023, 539 S.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.12.2023 zu:
William MacAskill: Was wir der Zukunft schulden. Warum wir jetzt darüber entscheiden, ob wir die nächste Million Jahre positiv beeinflussen. Siedler Verlag
(München) 2023.
ISBN 978-3-8275-0179-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31423.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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