Christoph Schröder, Sarah Ganss et al. (Hrsg.): Verstehende Bildungsforschung
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 18.11.2024
Christoph Schröder, Sarah Ganss, Clemens Klein, Ralf Koerrenz (Hrsg.): Verstehende Bildungsforschung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 156 Seiten. ISBN 978-3-7799-7632-5. D: 26,00 EUR, A: 26,90 EUR.
Thema
Hermeneutik zählt zu den unverzichtbaren Methoden der Erziehungswissenschaft. Verstehen zählt aber auch unverzichtbar zu jedem Bildungsprozess. Der vorliegende Band aus der anthropologischen Pädagogik macht damit ernst und entwickelt ein Verständnis von Bildungsforschung, das zentral beim Verstehen ansetzt. Den Ausgangspunkt dieses Unterfangens bilden zentrale, aktuelle pädagogische Themenfelder wie Selbstkonstruktion, Lebenslauf, Demokratie und Digitalisierung.
Herausgeberin und Herausgeber
Die Herausgeber und die Herausgeberin arbeiten am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena: Christoph Schröder als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit den Forschungsschwerpunkten antisemitismuskritische Pädagogik sowie globale, postkoloniale und digitale Bildung; Sarah Ganss forscht zur Bildungs- und Erziehungsphilosophie, zu Fragen der Ästhetik und zu Gender- sowie Queerthemen; Clemens Klein arbeitet zu den Bereichen narrative Inszenierung, Zeitwahrnehmung, Konfliktethik und zur Erzähltheorie Paul Ricoeurs; Ralf Koerrenz schließlich beschäftigt sich mit der Konzeptualisierung einer kritisch-operativen Pädagogik, die den Herausforderungen der globalen Vernetzung, der post- und dekolonialen Einsprüche und der digitalen Entwicklung standzuhalten vermag.
Kontext
Zum einen gehen die Beiträge des Bandes auf eine Konferenz mit gleichnamigem Titel zurück, die im Februar 2023 an der Universität Jena stattfand, angeschlossen an das Projekt „Globale und Postkoloniale Bildung“, das Teilvorhaben „Lehrkräfte als Agenten der Demokratie“ sowie das Forschungs- und Doktorandenkolleg „Bildung.Forschung.Dialog“. Beide Projekte sind Teil des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „Professionalisierung von Anfang an im Jenaer Modell der Lehrerbildung“. Mitbeteiligt an der Tagung war ferner das Kolleg für Globale Bildung am Institut für Bildung und Kultur der Universität Jena.
Zum anderen ordnet sich der Band thematisch in die Arbeit am letztgenannten, 2008 gegründeten Instituts ein. Die vorliegende Veröffentlichung führt einen früheren Werkstattbericht fort, der 2022 unter dem Titel „Vergleichende Pädagogik als politische Praxis“ im selben Verlag vorgelegt worden war. Katja Grundig de Vazquez bezieht sich in ihrem Beiträg über den Menschen „als Natur- und Kulturwesen“ ausdrücklich auf die Bildungstheorie, die Ralf Koerrenz in Jena entwickelt hat.
Aufbau
Der Band gliedert sich in fünf Hauptteile mit je zwei Beiträgen, die zentralen Themen der pädagogischen Anthropologie gewidmet sind:
- Anthropologie und Bildung
- Anthropologie und Lebenslauf
- Anthropologie und Selbstkonstruktion
- Anthropologie und Demokratie
- Anthropologie und Digitalisierung
Gerahmt werden diese Zugänge durch eine gemeinsame Einführung des Herausgeberteams zu Beginn und ein Bilanzkapitel von Ralf Koerrenz – unter der Überschrift: Stichworte.
Inhalt
Einführung
Verstehende Bildungsforschung geht von einem doppelten Zusammenhang aus. Zum einen strebt der Mensch danach, sich verstehend zu sich selbst, zu seiner Mit- und zu seiner Umwelt zu verhalten. Der Mensch ist bildsam und lernfähig, aber auch bildungs- und lernbedürftig. Zum anderen ist der Mensch aber auch in der Lage, sich verstehend zum eigenen Lernen in ein selbstreflexives Verhältnis zu setzen. Ja, mehr noch: Er muss dies sogar, da er sein Reden und Handeln verantworten muss.
Diesen doppelten anthropologischen Zusammenhang stellen Herausgeber und Herausgeberin in ihrer Einführung an die Spitze ihres Bandes. Für eine verstehende Bildungsforschung ergibt sich daraus ebenfalls eine doppelte Perspektive: Zum einen ist Verstehen eine kritische Dimension von Bildung. Verstehende Bildungsforschung reflektiert auf die eigene Positionalität und die eigenen Perspektiven im Prozess der Bildung. Zum anderen nimmt verstehende Bildungsforschung aber auch eine wissenschaftliche Beobachterperspektive ein und nutzt hermeneutische Zugänge als eine spezifische Form der Erfoschung von Bildung und ihrer Rahmenbedingungen.
Anthropologie und Bildung
Der Mensch ist, wie Katja Grundig de Vazquez im Auftaktbeitrag deutlich macht, immer beides Zugleich: Kultur- und Naturwesen. Oder anders gesagt: Auch als Kulturwesen kann er sich nicht aus dem Kontext des Natürlichen herauslösen. Wenn Bildung als ethisches Projekt so verstanden wird, dass der Mensch zur Freiheit und Verantwortung gerufen ist, kann er operativ diesem Ruf nur in einer biozentrischen Perspektive entsprechen. Menschsein bestimmt sich für die Autorin in der historischen Gemeinschaft des Lebendigen.
Was es bedeutet, als bildsames Wesen zur Verantwortung gerufen zu sein, expliziert Christoph Schröder am „Testfall“ Antisemitismus. Das sich bildende Subjekt ist dazu aufgerufen, die eigenen „Vor-Urteile“ beständig zu reflektieren. Geschieht dies, wie im Fall des Antisemitismus, nicht, wird das eigene Vorurteil am Ende zur „Welt“, zum festen Weltbild, dem man gerade glaubt, obwohl man wissen könnte, dass es falsch ist.
Anthropologie und Lebenslauf
Unsere Lebensgeschichte ist Teil der Weltgeschichte, beides Erfahrungen von Zeit. Unsere Zeiterfahrungen wiederum prägen die pädagogische Wirklichkeit. Verstehende Bildungsforschung, so Clemens Klein, erfasst biograhische Zeiterfahrung nicht allein über durch Interviews gewonnene Erzählungen, sondern ist gleichfalls daran interessiert, wie Zeit aktiv durch das Selbst konstituiert wird. Erzählungen sind deshalb interessant, weil sie viel über unsere Verantwortung ausdrücken. In ihnen weisen wir Verantwortung ab oder schreiben wir Verantwotung zu. In unseren biographischen Erzählungen realisieren wir uns als Menschen, die in Verantwortung stehen – wenn wir auch niemals eigene Autorschaft für die Weltgeschichte beanspruchen können.
Die Überlegungen werden von Johanna Lehmann weitergeführt, indem sie ausdrücklich Zeit- und Raumerfahrung zusammenbringt und danach fragt, wie sich in Lebensgeschichte(n) zugleich Raumerfahrung ausdrückt.
Anthropologie und Selbstkonstruktionen
Lena Köhler greift Hannah Arendts und Richard Rortys Kritik an platonischer Erkenntnistheorie auf und fragt, welche bildungstheoretischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Bildende Philosophie stelle nicht Erkenntnis an die erste Stelle, sondern die hermeneutische Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Pluralität. Bildung ermöglicht die Reinterpretation unserer vertrauten Umwelt, indem sie diese neu beschreibt und so ein modifiziertes Verständnis des Bekannten ermöglicht. Dieser Prozess ist grndsätzlich unabschließbar. Bildung meint nicht Selbstoptimierung, sondern die beständig neue Orientierung in einer Welt, die wir niemals vollständig erfassen können.
Sarah Ganss zeigt auf, wie Bildung hilft, die eigene Geschlechtlichkeit zu verstehen -und zwar in einem doppelten Sinne: Denn im Geschlecht drückt sich zum einen die Beziehung meines Selbst zu anderen, zur Welt aus, zum anderen steht Geschlecht für ein Selbstverhältnis. Welt- und Selbstverhältnis prägen sich gegenseitig, prägen in wechselseitigem Bezug den Lebenslauf. Verstehen bezieht sich auf das Subjekt, das in diesem Sinne ständig in Bewegung ist, sich verändert und sich selbst auf den Prüfstand stellen kann. Verstehen ist somit dreifach zu entschlüsseln: als Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Selbstumgang.
Anthropologie und Demokratie
Demokratiepädagogik ist gegenwärtig en vogue. Mitunter wird dabei ein harmonisierendes Bild von Demokratie vorausgesetzt. Umso bemerkenswerter ist, dass Ilka Hameister gerade das Konflikthafte im demokratischen Umgang in den Mittelpunkt ihres Beitrags stellt: Es geht um konfliktbehaftete Themen im Curriculum, um Konfliktorientierung als didaktisches Prinzip oder um konfliktbehaftete Begegnungen, um konfliktbehaftete Äußerungen zwischen Lehrkräften und Lernenden. Diese Konflikte können – abhängig von unseren Demokratiebildern – unterschiedlich wahrgenommen werden, mal tragisch, mal romantisch. Aus Bildungsperspektive bleibt wichtig: Wir müssen über diese Verständnisse von Konflikt und unsere Bilder von Demokratie reflektieren, wir müssen uns dazu im Lernprozess verhalten. Verstehende Bildungsforschung kann aufweisen, wie aus einem solchen Lernen Verantwotung erwächst, weil wir uns bereits im Lernen als verantwortlich erweisen müssen.
Pia Diergarten greift in ihrem Beitrag Skepsis als Grundmodell des demokratischen Handelns auf. „Audiatur et altera pars“ – im demokratischen Diskurs soll ausdrücklich auch die Gegenseite gehört werden und Gehör finden. Die Aktualität des Themas zeigt sich etwa beim pädagogischen Umgang mit „Fake news“, bei dem die Lernenden ausdrücklich dazu aufgefordert werden, den vermeintlichen Wahrheitsangeboten gegenüber skeptisch zu sein. Skepsis – hier bieten sich einige Schnittstellen zwischen Demokratie und Bildung, wie der Beitrag zeigt, die für politikdidaktische Interventionen genutzt werden können.
Anthropologie und Digitalisierung
Technische Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung können – so Till Buchinger in seinem Beitrag „Algorithmen und Menschenwürde“ – gesellschaftliche Probleme auslösen, verstärken, abschwächen, zudecken, aufdecken oder lösen – mithin: Sie sind zunächst einmal neutral. Es kommt auf den Umgang mit ihnen an. Für den Bildungs- und Erziehungsbereich heißt das: Digitalisierung verlangt nach pädagogischen Entscheidungen. Anliegen verstehender Bildungsforschung sollte es sein, Technik verstehbar zu machen und so pädagogisch verantwortet und pädagogisch verantwortliche Entscheidungen zu ermöglichen.
In ähnlicher Weise argumentiert Siyuan Xu im abschließenden Beitrag zum Mensch-Maschinen-Verhältnis: Technik berge Nutzen und Gefahren. Entscheidend ist: Wir sind diesen nicht ausgeliefert. Warum? Weil wir bildsame Wesen sind. Bildung könne uns vorbereiten, die Technik besser zu verstehen, ihre Nutzen und ihre Gefahren abzuwägen und dieser gestaltend gegenüber zu treten.
Stichworte
Anschaulich fasst Ralf Koerrenz am Ende des Bandes die Anliegen verstehender Bildungsforschung zusammen. Ausgangspunkt ist die anthropologische Verfasstheit des Menschen, wir erkennen etwa Arnold Gehlen im Hintergrund: Der Mensch ist zum Verstehen befähigt, er ist aber auch auf Verstehen angewiesen: „Die Gestaltung sozialer Bezüge ist gemeinhin das allgemeinste und verbindende Merkmal von (jeglicher) Kultur“ (S. 144). Zum einen geht es um Texthermeneutik: Der Einzelne steht Etwas-zu-Verstehendem gegenüber und versucht, durch Verstehen Kontrolle über dieses zu erlangen. Zugleich kann der Einzelne das Zu-Verstehende im Verhältnis zu dessen Umwelt zu verstehen suchen. Die Existenzhermeneutik nimmt gegenüber diesem Verständnis von Hermeneutik eine wichtige Verschiebung vor: Der Einzelne nimmt sich nicht in einem Gegenüber zu etwas wahr, sondern seine Beziehung zu etwas wird selbst zum Gegenstand. Dabei beeinflussen sich Subjekt und Objekt wechselseitig. Die Person wird dabei in Verantwortung gerufen, nicht nur das Verhältnis zum Zu-Verstehenden zu klären, sondern auch den Verstehensprozess selber, Verantwortung zu übernehmen für die eigenen „Vor-Urteile“ und Urteile: „Existenzhermeneutik als Wahrheit der Verantwortung folgt einem Pfad erkenntnistheoretischer Skepsis und weist die Methode an die verstehenden Subjekte zurück, die Wahrheit als Verantwortung für die Schaffung, Aufrechterhaltung oder Infragestellung von Normalität vor sich und anderen zu rechtfertigen haben“ (S. 151).
Diskussion
Die Beiträge des vorliegenden Bandes rekurrieren mal mehr, mal weniger explizit auf das von Koerrenz entwickelte Modell verstehender Bildungsforschung. Die Beiträge sind inspirierend zu lesen, nicht zuletzt wegen ihrer skeptischen Perspektive. Verstehen ist ein komplexer, existentieller Prozess (von Koerrenz in vier Zirkeln dargestellt), bei dem nicht einfach ein Beobachter neutral etwas beobachtet – und so Datenmaterial gewinnt. Eine oberflächliche, naive Wahrnehmung empirischer Forschung kann mitunter diesen Eindruck erwecken. Vielmehr verändern sich Beobachter und Zu-Beobachtendes im Prozess des Verstehens. Dies gilt etwa für Demokratie oder Beteiligung, die nicht einfach pädagogisch „bereitgestellt“ und gefördert werden können, sondern sich verändern – eben dadurch, dass sich das Subjekt zu ihnen und ihren Möglichkeiten in ein aktives, subjektiv bestimmendes Verhältnis setzt. Verstehende Bildungsforschung wehrt pädagogisch ein mechanistisches Verständnis des Lehr-Lern-Prozesses ab. Pädagogik lässt sich nicht mechanistisch steuern, indem ein bestimmter Output durch einen bestimmten Input generiert wird. Ein solches Modell übersieht eine entscheidende Variable: das verstehende Subjekt.
Pädagogische Prozesse sind Verstehensprozesse. Sie sind damit aber keineswegs willkürlich, sondern – wie der vorliegende Band immer wieder deutlich macht – zugleich Verantwortungsprozesse. Wer verstehen will, muss sich der Autorität der Sache stellen, damit er am Ende mit dieser ein Einverständnis erzielt (Koerrenz greift hier auf Hans Gadamer zurück). Es geht um eine verstehende Aneignung und Durchdringung, die dann einordnende, verstehende Entscheidung ermöglicht. Verstehende Bildungsforschung bleibt also selbst skeptisch: gegenüber quantifizierbaren Vorstellungen von Bildung als auch gegenüber naiven Vorstellungen einer Pädagogik, die immer schon zum Guten führt. Nein, wir können im Verstehen eigenen „Vor-Urteilen“ aufsitzen und müssen daher immer wieder auch Verantwortung für unseren Verstehensprozess selbst übernehmen. Gerade dieses selbstreflexive Moment wird oft übersehen, wenn von „kritischer“ Pädagogik die Rede ist: Kritik und Selbstkritik müssen Hand in Hand gehen.
Wie verhalten sich jetzt Bildung und Verstehen zueinander: Beide erklären sich wechselseitig. Der Verstehensprozess ist ein Bildungsprozess. Und Bildung ist Ausdruck von Verstehen. Insofern kann verstehende Bildungsforschung auch dazu beitragen, Bildung zu veranschaulichen. Der vorliegende Band verbleibt im Rahmen der Bildungsforschung, verdiente aber eine bildungsethische Fortsetzung. Denn die hermeneutischen Kriterien, die verstehender Bildungsforschung zugrundeliegen, müssen sich ethisch ausweisen, da aus einem bestimmten Wollen des verstehenden Subjekts nicht schon ein bestimmtes Sollen abgeleitet werden kann.
Fazit
Der Mensch ist – frei nach Gehlen – ein hermeneutisches Wesen von Natur aus. Der Mensch ist zum Verstehen fähig und auf Verstehen angewiesen. Dies muss pädagogisch konkret werden. Bildung und Verstehen erklären und durchdringen sich wechselseitig. Dies zeigt der Band – an aktuellen Themen der pädagogischen Debatte – anschaulich und schlüssig auf.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Zitiervorschlag
Axel Bernd Kunze. Rezension vom 18.11.2024 zu:
Christoph Schröder, Sarah Ganss, Clemens Klein, Ralf Koerrenz (Hrsg.): Verstehende Bildungsforschung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7632-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31430.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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