Guido Thaler: Lehrjahre sind keine Herrenjahre
Rezensiert von Prof. Dr. Reinhold Weiß, 25.01.2024
Guido Thaler: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Eine Grounded Theory über die vorzeitige Lehrvertragsauflösung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 144 Seiten. ISBN 978-3-7799-7564-9. D: 58,00 EUR, A: 59,70 EUR.
Thema
Die Untersuchung geht der Frage nach, warum junge Menschen im österreichischen Bundesland Tirol ihren betrieblichen Ausbildungsvertrag vorzeitig gelöst haben und in eine überbetriebliche Ausbildung gewechselt sind.
Autor
Guido Thaler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck und dort im Lehr- und Forschungsbereich Generationen-, Jugend- und Bildungsforschung tätig.
Entstehungshintergrund
Die Veröffentlichung ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck entstanden ist.
Aufbau
Die Untersuchung gliedert sich in sieben Kapitel. Nach der Einführung wird der Untersuchungskontext, das heißt die Funktion der überbetrieblichen Lehrausbildung des AMS Tirol erläutert. Es schließt sich eine Beschreibung des konzeptionellen Vorgehens und der Durchführung der Studie an. Kern der Studie ist das vierte Kapitel. Darin entwickelt der Autor anhand der „grounded theory“ einen Erklärungsansatz für vorzeitige Vertragslösungen in Tirol. Die Einbettung in den Forschungsstand erfolgt im nachfolgenden fünften Kapitel. Die beiden abschließenden Kapitel dienen der Diskussion der Befunde sowie dem Ausblick auf mögliche Konsequenzen.
Inhalt
Im Mittelpunkt der qualitativen Untersuchung stehen, wie der Autor schreibt, „ausschließlich die Perspektive der Subjekte, nicht die Perspektive auf die Subjekte“. Sie werden retrospektiv anhand wenig strukturierter Interviews mit 16 Lehrlingen erfasst. Ergänzend wurden einige Interviews mit Ausbildern aus Betrieben und der überbetrieblichen Ausbildung geführt. Auf der Grundlage der Gesprächsaufzeichnungen wurden Kategorien gebildet und Interpretationen vorgenommen. Der „grounded theory“ zufolge wird dieses Vorgehen „theoretical sampling“ genannt. Bewusst hat der Autor auf eine eingehende Literaturanalyse im Vorfeld verzichtet, um die Interviews möglichst unvoreingenommen führen und auswerten zu können. Erst im Nachhinein werden die eigenen Ergebnisse im Lichte ausgewählter wissenschaftlicher Quellen gespiegelt.
Als zentrale Ursache für die vorzeitigen Vertragslösungen werden „Enttäuschungen“ der jungen Menschen während der betrieblichen Berufsausbildung herausgearbeitet. Als Ursachen werden eine mangelnde Anerkennung, eine unzureichende Unterstützung, eine Über- oder Unterforderung sowie ein soziales Fehlverhalten von Kolleg:innen und Ausbilder:innen identifiziert. Aus Sicht der Befragten werden somit qualitative Mängel in der betrieblichen Berufsausbildung verantwortlich gemacht. Von dem Wechsel in die überbetriebliche Berufsausbildung versprechen sich die Befragten mehr Anerkennung, eine bessere Betreuung und eine qualitativ bessere Berufsausbildung, die sie befähigt und motiviert, die Abschlussprüfung erfolgreich abzulegen.
Hintergrund der Untersuchung ist das spezifische Modell der Berufsausbildung in Österreich. Anders als in der Bundesrepublik haben Überbetriebliche Bildungseinrichtungen keine die betriebliche Ausbildung ergänzende Funktion, sondern sie stellen eine Alternative für junge Menschen dar. Die Angebote wenden sich an Schulabgänger:innen, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz gefunden haben oder ihren Ausbildungsvertrag vorzeitig gelöst haben. Ersatzweise können sie ihre Ausbildung teilweise oder vollständig in diesen Einrichtungen absolvieren. Dieses Modell spielt aktuell in der Bundesrepublik eine Rolle in der politischen Diskussion. Denn es ist Vorbild für das im Koalitionsvertrag der „Ampel-Koalititon“ vereinbarte Vorhaben, eine „Ausbildungsgarantie“ einzuführen (BMAS 2022).
Diskussion
Das Innovative der Untersuchung besteht in der konsequenten Umsetzung der Handlungsanweisungen einer „grounded theory“ nach Barney Glaser. Anders als bei einer quantitativen Forschung geht dieses Konzept einer qualitativen Forschung nicht von Hypothesen aus, die mit Hilfe empirischer Instrumente auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Empirie, in diesem Fall eine begrenzte Zahl von persönlichen Interviews mit Lehrlingen in der überbetrieblichen Berufsausbildung. Auf dieser Basis werden Kategorien gebildet, Interpretationen und Bewertungen vorgenommen sowie letztlich Bausteine einer eigenen Theorie entwickelt.
Die Untersuchung greift eine Frage auf, die auch in Deutschland überaus relevant ist, da die Zahl der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge seit Jahren tendenziell ansteigt (BIBB 2023, S. 143 ff.). Mehr als jeder vierte neu abgeschlossene Ausbildungsvertrag wird inzwischen vorzeitig gelöst. In einigen Ausbildungsberufen liegt die Lösungsquote noch deutlich höher.
Die Ergebnisse aus Tirol sind allerdings eingeschränkt übertragbar. So schränkt die geringe Zahl der befragten Lehrlinge wie auch die Konzentration auf Auszubildende, die ihre Ausbildung in einer ÜBA fortgesetzt haben, den Geltungsbereich der Ergebnisse von vornherein ein. Hinzu kommt, dass die Befragten ihren Ausbildungsvertrag erst gegen Ende der Ausbildung gelöst haben. In Deutschland werden die meisten Ausbildungsverträge hingegen im ersten Ausbildungsjahr, vielfach bereits in der Probezeit, gelöst. Auch scheint es sich bei der Stichprobe vor allem um ehemalige Auszubildende aus Handwerksbetrieben und Kleinbetrieben gehandelt zu haben.
Aufgrund des gewählten Untersuchungsansatzes bleibt die Vielzahl möglicher Gründe und Motive für eine Vertragslösung ebenso ausgeblendet wie alternative Bildungs- und Berufswege der jungen Menschen nach der Vertragslösung. Hierzu bräuchte es ergänzender Untersuchungen der Bildungsverläufe sowie der Einbeziehung von Lehrern und Ausbildern, ebenso des familiären und sozialen Hintergrunds der Auszubildenden. Studien weisen überdies auf den Einfluss des Bildungsniveaus hin. All diese Faktoren müssten genauer untersucht werden, bevor grundlegende Strukturreformen erwogen und vollzogen werden.
Der Autor ist sich der Grenzen seiner Untersuchung sehr wohl bewusst. Dennoch legen seine Schlussfolgerungen weitreichende Strukturreformen nahe. Sie laufen letztlich darauf hinaus, die (klein-)betriebliche Ausbildung durch ein Modell der überbetrieblichen Ausbildung zu ersetzen. Dies wird jedoch allein durch die Befunde der Untersuchung nicht hinreichend legitimiert.
Fazit
Der Wert der Untersuchung basiert in der Fokussierung auf die subjektive Sicht der Auszubildenden, die aus einer betrieblichen in eine außerbetriebliche Ausbildung gewechselt sind. Sie macht die individuellen Beweggründe, Erwartungen an eine Ausbildung sowie die erlittenen Enttäuschungen transparent. Der „dringlichen Empfehlung“ des Autors für eine „bestmögliche Förderung eines wertschätzenden Umgangs bzw. einer wohlwollenden Haltung bei der Vermittlung von Inhalten sowie eines Raumes zur Integration individueller reflexiver Momente innerhalb einer ökonomisch gerahmten Lehrausbildung“ kann daher uneingeschränkt gefolgt werden.
Quellen
BIBB – Bundesinstitut für Berufsbildung: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2023. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn 2023. [Abruf am 5.1.2024] URL: https://www.bibb.de/dokumente/pdf/bibb_datenreport_2023.pdf
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Gesamtkonzept zur Ausbildungsgarantie. Berlin, Dezember 2022. [Abruf am 5.1.2024] URL: https://www.bmas.de/SharedDocs/​Downloads/DE/Aus-Weiterbildung/​gesamtkonzept-zur-ausbildungsgarantie.pdf?__blob=publicationFile&v=1
Rezension von
Prof. Dr. Reinhold Weiß
Forschungsdirektor Bundesinstitut für Berufsbildung (im Ruhestand)
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Es gibt 2 Rezensionen von Reinhold Weiß.
Zitiervorschlag
Reinhold Weiß. Rezension vom 25.01.2024 zu:
Guido Thaler: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Eine Grounded Theory über die vorzeitige Lehrvertragsauflösung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7564-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31431.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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