Ludo Vande Kerckhove: Autismus lesen lernen
Rezensiert von Dr. Richard Hammer, 09.11.2023
Ludo Vande Kerckhove: Autismus lesen lernen. Mompox Verlag (Leichlingen) 2023. 500 Seiten. ISBN 978-3-948070-08-3.
Thema
Mit dem Buch „Autismus Lesen Lernen“ bietet uns der Autor das Ergebnis aus seiner Arbeit mit und für Menschen aus dem Autismus Spektrum. Er präsentiert dies als offenen Ansatz mit dem Fokus, Menschen mit Autismus zu verstehen und das Miteinander zu erleichtern. Dies führt zum Erfolg, wenn es gelingt, die Welt aus der Perspektive der Autisten zu betrachten.
Autor
Ludo Vande Kerckhove machte seinen Master in Reha- und Bewegungswissenschaften und vertiefte sich anschließend in die kritische Entwicklungsbegleitung (F.J.P. Hendrickx). Seit weit mehr als 30 Jahren arbeitet er mit autistischen Menschen, vertieft sich in ihre Welt und setzt sich kritisch mit allen bekannten theoretischen und therapeutischen Ansätzen auseinander. Zurzeit bietet er Fort- und Weiterbildungsangebote sowie praxisnahe Coachings für Teams um einzelne Autisten und für Kompetenzteams in Einrichtungen an (https://fo-co.org/).
Aufbau
Wer einen Menschen mit Autismus befähigend begleiten will, muss ihn „lesen, seine Art zu erkunden, seine Art zu funktionieren durchleuchten und verstehen, (…) also erkennen, was durch die autistischen Aspekte seines Seins geprägt ist und wo Dinge, anders als spontan interpretiert, nur vor diesem Zusammenhang zu verstehen sind“ (S. 12).
Um dies zu leisten, braucht es Wissen aus vier Bereichen, welche in den 4 Kapiteln des Buches dargestellt werden:
- Autismus Lesen Lernen – ALL
- Lesart Autismus/Erklärungsmodelle
- Lesbar orientieren
- Alternativ Lesen
Zahlreiche Schaubilder bieten einen guten Rahmen, der uns hilft die Inhalte der einzelnen Kapitel einordnen zu können. Im Anhang finden wir ein Glossar, in dem die wesentlichen Begriffe des Buches erläutert werden.
Inhalt
Im 1. Kapitel wird zunächst die Leitidee in ihren Komponenten und dem Zusammenspiel von Erhalt von Informationen und erlebter Sicherheit erläutert. Danach wird das Leitprinzip ausführlich beleuchtet, also der Frage nachgegangen, wie man im Betreuungsprozess aus einer oft negativ drehenden Spirale des Regierens ins Agieren kommt und wie aus der sich daraus ergebenden Regulierung im Alltagsprozess die Realisierung des Förderprozesses bewältigt werden kann. Um diesen Prozess professionell zu gestalten und zielführende Interventionen zu erarbeiten, folgt eine ausführliche Darstellung dessen, was den konkreten Menschen in seinem Kern des Funktionierens ausmacht, wo seine blinden Flecken in seiner Wahrnehmung sind und wodurch diese mit kompensatorischen Strategien ersetzt werden können.
Um den Menschen mit Autismus lesen zu lernen beschäftigt sich der Autor zunächst mit den Begriffen Sicherheit, Orientierung und Informationsgewinn. Sicherheit, da dies eine Grundvoraussetzung dafür ist, sich wohl zu fühlen und sein Leben befriedigend zu gestalten. Diese Sicherheit entsteht auf der Grundlage von guter Orientierung und Information, wobei der Einsatz von „Markern“ im Betreuungsprozess eine wesentliche Grundlage dafür ist. Es gilt also in der Arbeit mit Menschen mit Autismus – unter Berücksichtigung der Individualität des Einzelnen – gut herauszuarbeiten, in welcher Form Informationen angeboten werden um damit eine gute Orientierung im alltäglichen Handeln zu erreichen. Im Folgenden werden konkrete Beispiele aufgezeigt, wo im Alltag Probleme entstehen können und wie diese gut angegangen werden können.
Der 2. Abschnitt dieses Kapitels entfaltet, wie aus einem Reagieren im Betreuungsprozess ein Agieren werden kann. Das Agieren muss sein:
- vorausschauend
- sprachlich abgestimmt
- sachlich
- einheitlich und erkennbar
- permanent verfügbar
- verlässlich
Wie dies in der konkreten Praxis aussehen kann, sehen wir in den Situationen: Lebensbewältigung, Alltag, Schule Freizeit, Arbeit und am Beispiel des Sozialen Lernens und der Kommunikation.
Der 3. Abschnitt dieses Kapitels geht ein auf die typischen Verhaltensweisen eines Menschen mit Autismus im Alltag, und auf die Analyse der Verhaltensbesonderheiten. Dabei zeigt der Autor, wie mit der Formulierung eines „Ursatzes“ die Verhaltensproblematik auf den Punkt gebracht und daraus eine Intervention abgeleitet werden kann.
Ein Beispiel (S. 113): Aufgrund der Verhaltensbeobachtung formuliert der Autor den Ursatz: „Ich bin hungrig nach Halt“. Der Leitsatz (den er dem Klienten in den Mund legt) lautet: „Bietet mir bitte verständlich, sachlich, verlässlich den Halt den ich brauche UND der mir zusteht – als Plan, Als Stecker, als Übersicht, als Box – nicht gönnerhaft, nicht in Reaktion auf mein Tun, nicht als Erlaubnis, sondern weil es mir zusteht – achtsam, im Vorfeld und meine Souveränität wahrend. SO halten wir zusammen!“
Daraus entsteht eine TO- Do-Liste und Interventionen, die inhaltlich optimiert, kognitiv vermittelbar, praktisch umsetzbar und emotional tragfähig sein müssen.
Das 2. Kapitel bietet eine Übersicht über die neuropsychologische Erklärungsmodelle von Autismus und die daraus hervorgehende Vorgehensweise. Die Modelle „Theorie of Mind“, „Zentrale Kohärenz“ und „Exekutiven Funktionen“ werden in der beobachtbaren Erscheinung und ihrer Relevanz für konkrete Verhaltensweisen erläutert, also vor dem Hintergrund der Frage, wie sich verschiedene Aspekte im alltäglichen Leben eines Menschen mit Autismus durch diese Modelle erklären lassen. Die Darstellung der drei Modelle folgt dem gleichen Aufbau: Nach den zentralen Elementen der jeweiligen Theorie werden spezifische Informationen erläutert, die für Menschen mit Autismus schwer zu lesen sind. Daraus folgen Schwierigkeiten und typische Verhaltensweisen und Konsequenzen für die Praxis.
Der Mangel an Fähigkeiten der „Theorie of Mind“ (ToM) bedeutet, dass Menschen mit Autismus Schwierigkeiten habe, die Gedanken, Meinungen, Beweggründe und Empfindungen anderer Menschen zu erkennen. Differenziert werden die Probleme dargestellt, die aus der Unzulänglichkeit beim Lesen von Informationen entstehen und welche Schwierigkeiten im sozialen Kontext daraus entstehen. Probleme bestehen im der Fähigkeit Verallgemeinerungen zu bilden, Regeln zu generieren, Perspektivwechsel durchzuführen, „zwischen den Zeilen zu lesen“, Zweideutiges oder Humor zu erkennen und Empathie zu empfinden. Die daraus für den Menschen mit Autismus entstehenden Schwierigkeiten können wir abfedern, indem wir im Kontakt mit ihm, bei der Vermittlung von Informationen „explizit, konkret, präzise und direkt wahrnehmbar“ sind (S. 158).
Beeinträchtigungen in der „Zentralen Kohärenz“ verweisen auf Probleme, „Dinge in unserem Umfeld passend zu einem sinnbildenden Konstrukt zusammenzufügen. Das betrifft im Wesentlichen die dingliche Welt und das soziale Gefüge“ (S. 134). Das heißt, „Autisten bemerken viele Einzelheiten, dafür erkennen sie kaum spontan die Zusammenhänge dahinter. Ihr Handeln bezieht sich daher auf Einzelheiten. Weil ihnen oft der Überblick fehlt, fehlen ihnen auch die Sicherheit und die Fähigkeit, sich aus diesem Überblick heraus zu steuern, zu kontrollieren oder zu hemmen – sie sind im Hier und Jetzt“ (S. 163).
Der Autor geht hier zunächst ein auf unterschiedliche Konzepte und Sachverhalte, die Autisten nur schwer lesen können (Werte, Funktionen, Sinn, Normen, Relevanz, Emotionen, Rollen, Kontexte) um dann die daraus entstehenden Schwierigkeiten in folgenden Themenbereichen aufzuzeigen: Zeit, Ordnung, Lebensbereiche Moral und Gewissen, Geld, Wert und Finanzen, Eigentum, Hierarchie von Regeln, Nachtruhe und Mahlzeiten, Privatsphäre, Höflichkeit und Benehmen, Hygiene und Gesundheit, Konventionen. Die hilfreichen Konsequenzen für die Praxis runden den 2. Abschnitt dieses Kapitels ab.
Das Modell der „Exekutiven Funktionen“ beschäftigt sich mit der Frage „wie passe ich mein Handeln optimal meiner Umgebung und der jeweiligen Situation an“ (S. 134). Dies stellt Menschen mit Autismus vor sehr große Herausforderungen. „Die Berücksichtigung von Zielsetzungen, Kriterien, Prioritäten und anderen Aspekten fällt ihnen schon deshalb schwer, weil sie Zusammenhänge nur eingeschränkt erfassen können. Hinzu kommen weitere Hindernisse: Das Arbeitsgedächtnis ist durch die ständige Detailerfassung bereits am Limit, Zeitdruck und externer Stress belasten zusätzlich. All das führt zu einer ganzen Bandbreite von Bewältigungsstrategien: Starre Handlungen, Vermeidung im schlimmsten Fall Entgleitung etc.“ (S. 269). Diese Zusammenfassung stellt das Kernproblem von Menschen mit Autismus bzgl. der Exekutiven Funktionen dar. Der Autor geht im Text wieder differenziert ein auf die Probleme bei der Aufnahme von Informationen und den daraus resultierenden Schwierigkeiten: sinnvolle Reihenfolge herzustellen, Handlungsvollzüge zu gestalten, den Handlungsimpuls zu kontrollieren, den „roten Faden“ zu behalten und im Handlungsprozess flexibel und variabel zu sein. Und er zeigt auf, wie wir als Betreuer*innen die Situation hilfreich gestalten können.
Ein kurzes, 3. Kapitel bietet eine Übersicht an Informationen und Orientierungen sowie eine Systematik zur Erstellung von Instrumenten und Markern, welche für die Arbeit mit Menschen mit Autismus hilfreich und notwendig ist, da ihnen damit die Erwartungssicherheit geboten wird, die ihm hilft, Bevorstehendes einzuschätzen. Erforderlich sind hierfür „Marker“, als Träger der Informationen und als Grundlage sachlicher Interventionen. „Alles entscheidend in diesem Prozess sind die passende Sprache und die exakte Information“ (S. 276). Diese Informationen beziehen sich auf die Bereiche: Zeit, Raum und Handlung, und sie müssen exakte Aussagen machen über die Dosierung (wie lang, wie oft, …), das gewünschte, erwartete Verhalten und die Zuständigkeit, also wer macht was.
Um als objektive Informationsquelle wirksame Marker zu erstellen schlägt der Autor das „Rad der Orientierung“ vor. Anknüpfend an die vorhin genannten Bereiche, gilt es Überlegungen mit einzubeziehen, die sich beziehen auf die Wirkung, das passende Format (z.B. die Sprache) und der Mehrwert, der daraus zu erzielen ist.
Im 4. Kapitel wird es sehr konkret. Hier werden die vorher gezeigten Aspekte im Zusammenhang mit dem „autistischen Funktionieren“ aufbereitet und für spezifische Problemverhalten dargestellt, also Leitfäden, Pfade und Variablen für unser Handeln entwickelt.
Es greift nochmal das Thema „Lesefehler“ auf, die entstehen, wenn wir Situationen, Verhaltensweisen ausschließlich aus unserer Sicht betrachten. Hilfreich ist es autismusgerechte Perspektiven mit einzubeziehen. Dies macht der Autor deutlich an den Wortpaaren:
- Austesten – oder erinnern?
- Provozieren – oder absichern?
- Egoistisch – oder autistisch?
- Hilfsbereit – oder weiterführend?
- Faul – oder abwartend?
- Verweigern – oder zuvorkommen?
- Verrückt nach etwas – oder verloren?
- Konzentrationsschwach – oder verausgabt?
Der nächste Schwerpunkt bezieht sich auf die „Stufen der Sicherheit“, wobei der Autor differenziert zwischen: Risikosicherheit, Erwartungssicherheit, Reaktionssicherheit, Bindungssicherheit, Blicksicherheit – eine hierarchische Struktur, die hilft das Verhalten des Menschen mit Autismus zu verstehen und adäquate Interventionen anzubieten.
Stellt sich Sicherheit nicht ein und gelingt es nicht eine „objektive Orientierung“ anzubieten, so kann dies zu „Herausforderndem Verhalten“ führen. Sehr detailliert geht der Autor auf unterschiedliche Formen ein (z.B. fremd- und selbstverletzendes Verhalten, Sachzerstörung) und er zeigt auf, welche Faktoren dazu führen und wie damit umzugehen ist.
Als eine besondere Form des Problemverhaltens wird das „Weglaufen“ aufgelistet, wobei hier differenziert wird zwischen: Hinläufer, Fortläufer, Davonläufer, Grenzgänger, Grenzspieler und Entdecker. Auch hier werden wieder detailliert die Auslöser und möglichen Ursachen erläutert und vorgeschlagen, wie in den einzelnen Fällen damit umzugehen ist.
Auch im nächsten Abschnitt ist herausforderndes Verhalten ein zentraler Punkt, es geht aber hier um die Frage „Macht, Ohnmacht, Verantwortung“. Im pädagogischen Prozess, bei der Entwicklung von Strategien spielt dies stets eine wesentliche Rolle, für beide Seiten. Das Thema wird entfaltet an den Begriffen: verweigern und ignorieren, sich widersetzen, sich der Macht entziehen, sich gegen sich richten, sich unterwerfen.
Bei der Begleitung von Menschen mit Autismus stellt sich immer die Frage, welchen Stil wir dabei benutzen: „kontraproduktiv oder fokusorientiert“? In diesem Abschnitt mach der Autor den wesentlichen Unterschied deutlich: durch ständiges eingreifen, korrigieren und reglementieren entmündigen wir den Klienten, machen ihn abhängig und provozieren Krisen. Bieten wir aber sachliche Orientierung, machen wir ihn selbständig und weitgehend unabhängig von uns.
Der folgende Abschnitt widmet sich unterschiedlichen Formen des „Repetitiven Verhaltens“. Es beschreibt die Situationen, aus denen heraus dieses Verhalten entstehen kann, verbunden mit der Frage, ob dies eine Form ist, mit dessen Hilfe sich der Klient Sicherheit verschafft. Die Erfahrung zeigt, dass dies in der Regel der Fall ist, dass sie Halt, Fluchtweg, Schutz oder auch Entspannung darstellen. Es ist deshalb nicht zielführend, dieses Verhalten zu unterbinden, sondern es gilt „herauszufinden, wie der Mangel entsteht oder woher die Überreizung kommt, und dann Wege zu finden, diesen Auslöser auszugleichen“ (S. 392).
Ein Thema, das im Zusammenhang mit Autismus immer wieder genannt wird, sind die „Reize“. Die „andere“ Wahrnehmung der Menschen mit Autismus führt häufig zu befremdlichen Verhaltensweisen, führt zu Verunsicherung und oft zu Anspannungen und Überlastungen. Der Autor differenziert hier zwischen physischer Ebene, bestimmt von der grundlegenden Sensibilität gegenüber Sinnesreizen, die konzeptionelle Ebene, bei der die neuropsychologischen Erklärungsmodelle im Mittelpunkt stehen und die psychische Ebene, d.h. die Situation in der der Betroffene steht, ob er sich unsicher fühlt, gestresst oder überlastet ist. Auch hier werden wieder mögliche Probleme und der Umgang damit aufgezeigt.
Mit „endlosen Verhaltensmustern“ beschreibt der Autor Situationen im Alltag, in denen das Rad sich dreht, zunächst langsam, dann immer schneller bis es eine Dynamik entwickelt, die kaum noch zu stoppen ist. Dieser Abschnitt zeigt uns die unterschiedlichen Varianten dieses Prozesses, wie sie entstehen und wie der Weg zu finden ist um aus dieser Endlosschleife herauszufinden.
Der Abschnitt „fragendes Verhalten“ geht ein auf die unterschiedlichen Bedeutungen, welche die oft endlosen Fragen der Menschen mit Autismus haben. Es geht nicht immer um die Suche nach Antworten, sondern häufig auf den Wunsch nach Gewissheit, nach Sicherheit, nach Aufmerksamkeit und Beziehung. Dies herauszufinden ist Grundlage für die angepassten Antworten und Reaktionen.
Auch „Ausweichendes Verhalten“ kann unterschiedliche Ursachen und Bedeutungen haben – entsprechend der Situation. Sind es Momente, in denen Entscheidungen abverlangt werden, handeln erfordert wird, Botschaften zu erfassen sind oder Antworten gefordert werden. Werden Menschen mit Autismus in diesen Situationen unsicher und geraten in Stress, entwickeln sie ihre eigenen Vermeidungsstrategien. Es ist unsere Aufgabe ihnen Brücken zu bauen, „die weg von der Insel führen“. Methoden und Strategien dazu werden in diesem Abschnitt ausführlich erläutert.
Das Buch befasst sich zum Ende mit dem Thema „Haltung“, als „innere Kohärenz der höheren Ordnung, aus der heraus wir uns in unserem täglichen Handeln steuern oder hemmen“ (S. 307). Sich dieser eigenen Haltung stets zu versichern schafft die Grundlage für sicheres und kompetentes Handeln mit innerer Orientierung und eigenem Leitsystem. Die Aspekte um die es hier geht sind: Norm und Anspruch, Verstehen und ein Bemühen darum, Fokus und Umsetzung, Geduld und Respekt, Macht und Ermächtigen. Integrität und Bewertung, Achtung und Anerkennung. „Sich an den hier aufgeführten Punkten entlang zu hangeln, darin zu reflektieren beziehungsweise auch reflektieren zu lassen, sich zu differenzieren, zu korrigieren und sich überhaupt darin zu entwickeln, wäre ein toller Beitrag zu einer individuellen und auch gemeinsam gelebten Haltung in unserem täglichen Tun“ (S. 500f).
Diskussion
Es ist bemerkenswert, dass ein Buch über Autismus mit mehr als 500 Seiten nicht das DSM V oder ICD 11 erwähnt, nach denen Autismus diagnostiziert wird und auch nicht auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie eingegangen wird, in denen die in der Fachwelt zurzeit anerkannten Positionen zu Diagnostik und Therapie von Menschen mit Autismus dargestellt werden. Und es gibt auch kein Literaturverzeichnis und nur wenige Verweise auf Quellen oder weiterführende Literatur. Der Autor gibt dafür selbst die Erklärung: „ich bin aber viel mehr Praktiker als Wissenschaftler“ (S. 132).
So haben wir auch kein wissenschaftliches Werk zum Thema Autismus vorliegen. Der Autor hat vielmehr nach 30 Jahren Berufstätigkeit mit autistischen Menschen „einen Methoden-Cocktail entwickelt und gebündelt“ mit dem Ziel „Autisten lesen zu lernen“. „Dieses Buch ist der Versuch, all das in eine Übersicht zu bringen: gesammeltes Wissen, welches über viele Jahre gereift ist und sich in der Praxis vielfach bewährt hat. Im Mittelpunkt steht dabei, den Autismus zugänglich zu machen, Zusammenhänge aufzuzeichnen und zum neuen Betrachten anzuregen – immer wieder fokussiert auf das einzelne Individuum und die konkrete Situation“ (S. 10).
Der Versuch ist gut gelungen. Wir können mittels einer Vielzahl von Beispielen aus seiner Arbeit als Coach eintauchen in die Welt der Menschen mit Autismus und ihr oft ungewöhnliches Verhalten besser verstehen lernen. Hilfreich dafür ist auch, dass immer wieder der Bezug zu den neuropsychologischen Erklärungsmodellen hergestellt wird.
Fazit
„Das ganze Buch ist ein Reiseführer“ (308) dahin, Menschen mit Autismus „lesen zu lernen“. Als solcher kann das Buch gelesen werden. Wer mit autistischen Menschen arbeitet, wird bei der Lektüre immer wieder auf Beispiele stoßen, die bekannt sind, schon selbst erlebt wurden. Die Erklärungen und Anregungen dazu bieten eine Fundgrube an hilfreichen Vorschlägen für die eigene Praxis.
Rezension von
Dr. Richard Hammer
Dipl. Motologe
Mailformular
Es gibt 31 Rezensionen von Richard Hammer.
Zitiervorschlag
Richard Hammer. Rezension vom 09.11.2023 zu:
Ludo Vande Kerckhove: Autismus lesen lernen. Mompox Verlag
(Leichlingen) 2023.
ISBN 978-3-948070-08-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31440.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.