Harry Friebel: An den Nationalsozialismus erinnern
Rezensiert von Johannes Schillo, 09.11.2023
Harry Friebel: An den Nationalsozialismus erinnern. Entwicklung der Erinnerungskultur und zukünftige Perspektiven. Ein Essay. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2023. 99 Seiten. ISBN 978-3-8474-2739-1. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR.
Thema
Thema des Büchleins ist die NS-Erinnerungskultur, die in der Bundesrepublik Deutschland etabliert wurde. Auf die analoge Entwicklung in der DDR wird nur kurz hingewiesen, im Mittelpunkt stehen Defizite des gegenwärtigen Geschichtsbewusstseins und Ausblicke auf eine „Erinnerungsarbeit für die Zukunft“ (S. 76).
Autor
Prof. em. Dr. Harry Friebel war im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und an der dortigen Evangelischen Hochschule „Rauhes Haus“ tätig.
Aufbau und Inhalt
Die Einleitung benennt den Ausgangspunkt: „dass antisemitische und rassistische Ressentiments in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik“ nicht verschwunden sind, sondern zum öffentlichen Leben dazu gehören (S. 7). Dem will die Publikation „im Sinne eines unvollständigen Essays“ entgegentreten und speziell aus interdisziplinärer Perspektive „auf Verschränkungen von individueller und kollektiver Problematik, auf den Zusammenhang von NS-Geschichte und Gegenwart, auf die Perspektiven der Täter und Opfer hinweisen“ (S. 9). Als methodische Grundlage wird dazu die „Life Course Theory“ von Glen Elder herangezogen, um damit die NS-Diktatur „doppelt“ zu lesen: „Sowohl in der Subjekt- als auch in der Strukturperspektive“ (S. 9).
Das zweite Kapitel will eine „exemplarische Analyse des NS-Staates“ (S. 10) liefern und skizziert dazu den – weitgehend – reibungslosen Übergang zur faschistischen Diktatur per „Machtergreifung“ und „Gleichschaltung“. Dass es z.B. aus Gewerkschaften und christlichen Kirchen keinen nennenswerten Widerstand gab, erklärt Friebel damit, dass Arbeiterbewegung und Kirchen sich mit einem völkischen Aufbruch arrangiert, ja zu großen Teilen im Einklang befunden hätten. Hauptgrund dafür sei die Verweigerung einer gesunden psychischen Entwicklung gewesen – „unter den Daseinsbedingungen einer militarisierten Gesellschaft zwischen den zwei Weltkriegen: eine sozialisierte Gewaltgeschichte in männlichen Körpern“ (S. 24).
Das dritte Kapitel steht unter der Überschrift „Verleugnen, Verdrängen, Beschweigen und Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit“ (S. 26) und greift dazu einzelne Fälle auf, z.B. die seinerzeit hochgelobte Hitler-Biografie von Joachim C. Fest, die in die verbreitete – bis heute fortlebende, etwa in der AfD anzutreffende – Relativierung der NS-Verbrechen eingeordnet wird. Die psychologischen Probleme einer solchen „kollektiven Verleugnung“ (S. 36) thematisiert Friebel dann auf der Makroebene (Staat, offizielle Geschichtspolitik), der Mesoebene (Zivilgesellschaft) und der Mikroebene („Familiengedächtnis und -loyalität“).
Anschließend an die intergenerationelle Problematik einer familialen, schönfärbenden Überlieferung des Zeitgeschehens geht das vierte Kapitel auf Beispiele ein, die die damit gegebene „Realitätsverweigerung“ (S. 60) und die einschlägigen „Traumatisierungen“ (S. 61) aufzuarbeiten versuchen. Dabei wird auch an Fälle aus der DDR erinnert, also an Konflikte im Generationenverhältnis, die zu „Zerreißproben des Familiengedächtnisses“ (S. 66) führen. Solche Ansätze – ob ge- oder misslungen – sollen jedoch keine allgemeine Schlussfolgerung zulassen, denn „gleichwohl“ gelte: „Jeder dieser Berichte ist als etwas Einzigartiges wahrzunehmen“ (S. 74).
Als Resümee bleiben dann vor allem die Notwendigkeit einer Anknüpfung an die „Gefühlserbschaften als Nachwirkungen des Nationalsozialismus“ (S. 74) und die geforderte Schaffung einer neuen „Erinnerungskultur“ (S. 76), der sich das abschließenden fünfte Kapitel widmet. Mit der zunehmenden historischen Distanz, mit dem Aussterben der Zeitzeugen, würden solche Bemühungen an einen „Wendepunkt“ (S. 77) gelangen. Friebel schließt sich dabei an Per Leo an, der eine Vertiefung der „Historisierung des Nationalsozialismus“ (S. 79) gefordert hat, was vor allem als Kritik an der Ritualisierung der Erinnerungskultur verstanden werden sollte. In diesem Ausblick kommen aber auch wieder andere Fragen zur Sprache, so „die Verwobenheit zwischen Kolonial- und NS-Verbrechen“ (S. 83), damit die neuere Debatte um die Singularität des Holocaust. Was als entscheidende Perspektive zukünftiger Erinnerungsarbeit bleibt, ist der Verweis darauf, dass die eigene Betroffenheit zur Sprache kommen soll. Man müsse erkennen, das übernimmt Friebel von der Psychologin Marina Chernivsky, „dass man Teil der Geschichte ist, die man auch anders weiter erzählen kann.“ (S. 87)
Der kurze Anhang bringt einige Dokumente zur NS-Vergangenheit und zu ihrer Aufarbeitung. In der Hauptsache verdeutlicht er die Kontinuität der Relativierung und Verdrängung, die von der Adenauerära bis zur AfD-Gründung festzustellen ist. Friebel erinnert auch an die „Integration von zigtausend NS-Tätern in die frühe Phase der Bundesrepublik“ (S. 89) und an den Einschnitt, der hier erst mit der 68er-Bewegung erfolgte.
Diskussion
Friebels Veröffentlichung auf knappem Raum ist im Grunde mit ihrer Themenstellung überfordert: Sowohl Analyse des Faschismus als auch Auseinandersetzungen mit Positionen aus Psychologie, Geschichtswissenschaft und Pädagogik sollen hier geleistet werden. Auf Glen Elders Buch „Children of the Great Depression“ (1974) wird zwar als methodische Grundlage verwiesen, eine Entfaltung dieser Theorie oder eine Reflexion hinsichtlich ihrer Anwendungsmöglichkeiten findet aber nicht statt; das Buch wird noch nicht einmal (obwohl im Text beiläufig erwähnt) im Literaturverzeichnis aufgeführt. Oder die Debatte um Faschismustheorien wird recht apodiktisch mit dem Bezug auf Klaus Theweleits „Männerphantasien“ (1977/78) abgeschlossen, obwohl dessen Herleitung des Faschismus aus einer ‚toxischen Männlichkeit‘ – es gebe „Körper, überwiegend männliche Körper, die nicht leben können, d.h., die nicht atmen können, ohne irgendjemanden oder irgendetwas aus dem Weg zu schaffen“ (S. 23ff) – äußerst umstritten ist. In ähnlicher Weise ist der Anschluss an Per Leos Ideen zu einer Renovierung der Erinnerungskultur unterm Stichwort „Historisierung“ fragwürdig. Was historische oder politische Bildung betrifft, sind dessen Vorschläge oft nur Trivialitäten, die allein die Unzufriedenheit mit einem eingespielten Erinnerungsbetrieb zum Ausdruck bringen, der Jugendliche abstößt, statt sie ‚mitzunehmen‘. In diese Debatten steigt das Buch nicht näher ein, tippt sie nur an. Damit hat es auf der anderen Seite den Vorteil, dass es eine ganze Reihe wichtiger Stationen aus der bundesdeutschen Entwicklung – Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“, der Aufbruch der 68er, der Streit ums Holocaust-Mahnmal – zur Sprache bringen kann.
Fazit
Das Büchlein thematisiert die in vielerlei Hinsicht misslungene NS-Vergangenheitsbewältigung, die in der Bundesrepublik nach 1945 zur Pflichtveranstaltung wurde, die aber nicht wirklich als breite zivilgesellschaftliche Aktivität oder als allgemeine Änderung des Geschichtsbewusstsein zur Geltung kam. Der Charakterisierung des Autors, es handle sich bei seiner Schrift um einen „unvollständigen Essay“ kann man zustimmen: Ein streng durchgeführte Auseinandersetzung mit Faschismustheorien, einer (Sozial-)Psychologie der Erinnerung oder mit politisch-pädagogischen Erfordernissen wird nicht geleistet. Als Sammlung von Denkanstößen und sachdienlichen Hinweisen kann das Buch aber zur Einführung in den Themenkomplex genutzt werden.
Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 09.11.2023 zu:
Harry Friebel: An den Nationalsozialismus erinnern. Entwicklung der Erinnerungskultur und zukünftige Perspektiven. Ein Essay. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2023.
ISBN 978-3-8474-2739-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31445.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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