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Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus

Rezensiert von Thomas Barth, 21.11.2023

Cover Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus ISBN 978-3-89438-809-6

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. PapyRossa Verlag (Köln) 2023. 123 Seiten. ISBN 978-3-89438-809-6. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.

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Thema

Ein brennendes Thema, eine wichtige Frage: Kann der neoliberale bzw. digitale Kapitalismus den Menschen einen Sinn vermitteln, der die Anstrengungen, Entbehrungen und Opfer lohnt, die er ihnen abverlangt? Der Neoliberalismus hat sich als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt – er hat ihre Erfüllung sogar ins absurder Weise verhindert. Die von Jürgen-Michael Reimer geübte Kritik ist funktionalistisch, macht den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich: Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation und deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchdringt, auch durch Digitalisierung, Soziale Medien und Plattformkonzerne wie Amazon, Google oder Facebook.

Autor

Der 1940 geborene Jürgen-Michael Reimer studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen; langjährige Tätigkeit als Professor für Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Human Ressource Management an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), Hamburg, Publikationen zu Verhaltenswissenschaft, Managementlehre und Klimawandel.

Aufbau und Inhalt

In Gesprächen über die Klimakrise, so Reimer einleitend, tauche immer wieder der absurde Gedanke auf, wir könnten uns zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus: Es geht um die Absurdität unseres heutigen neoliberalen Kapitalismus. Im ersten Kapitel zum begrifflichen Konzept des Kapitalismus markiert der Autor den Kernbegriff des Kapitalismus anhand in den vier Merkmalen Klassengesellschaft, freie Arbeitsmärkte, Akkumulation des Kapitals, die zum Selbstzweck wird, und Märkte, deren Ausweitung immer mehr Lebensbereiche der Warenform unterwirft. Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Produktivitätssteigerung, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen, die in unfreiwilliger Askese leben muss. Sie diente als Drohkulisse zur Disziplinierung der Arbeiterschaft, heute noch sichtbar in der Programmatik von Hartz IV. Damit verlege man gemäß neoliberaler Ideologie Probleme des Arbeitsmarktes in das Subjekt, das, weil angeblich zu träge und unfähig, durch Druck aktiviert werden müsse.

Nach John Rawls strebe eine freiheitliche Gesellschaft nach Gerechtigkeit. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. Thatcher und Reagan folgten diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientierten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Investorenschutz, Deregulierung -vor allem der Finanzmärkte. Die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache auch in neoliberalen Steuersenkungen liege, werde als „Demokratieversagen“ umgedeutet. Lobbyarbeit des Kapitals ziele hierzulande auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden.

Im zweiten Kapitel wird ein kritischer Ideologiebegriff abgegrenzt (Marx, Engels, Gramsci, Althusser). Ideologien kämen häufig als Narrative, die kollektive Erfahrungen verdichten, Erwartungen, Weltbilder und Identitäten leiten. Kollektive Suggestionskraft entfalte sich im Kapitalismus in Narrationen, die Grundmuster von Leistung, Wettbewerb, Wachstum, Fortschritt und Wohlstand verbreiten. Ideologien manifestieren sich in Institutionen wie Behörden, Bildungswesen, Massenmedien, Lobbyorganisationen und Thinktanks.

Im dritten Kapitel geht es um die Absurditäten des neoliberalen Kapitalismus, etwa bei Margaret Thatchers „There is no such thing as society“. Die absurde Verneinung der Tatsache der Gesellschaft würde einen barbarischen Rückfall zum Recht des Stärkeren bedeuten. Die versprochene Freiheit werde für die meisten Menschen zur Illusion. Neoliberalismus führe zur Zerstörung des Gesundheitswesens, der sozialen Gerechtigkeit und letztlich unseres Planeten. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den heutigen Krisen erbracht (S. 75). Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter, dabei hätte der neoliberal regierte Staat die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, etwa durch deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes. Die Reichen hätten sich durch Steuervermeidung bedankt, bis hin zu den „Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S. 80).

Besonders die Gerechtigkeit sei „Der blinde Fleck des Marktes“ und des Neoliberalismus. Weltweit werden die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer. Der Bildungsbereich benachteilige hierzulande Kinder aus prekären Verhältnissen, das Gesundheitswesen bevorzuge reichere Schichten. Gehorsam sichern sich neoliberale Regime durch Erziehung und Propaganda: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S. 93).

Das „große Paradox“, der Gleichzeitigkeit von erzwungener Askese und obszönem Luxus basiert auf der Ideologie angeblicher Leistungsgerechtigkeit: „Das Leitbild des guten Lebens der Mittelschicht im neoliberalen Kapitalismus ist Selbstverwirklichung. Dieses Leitbild ist für einen großen Teil der Gesellschaft nicht nur nicht erreichbar, sondern gar nicht erst im Blickfeld. Die Lebensperspektive schränkt sich dann auf ein muddling through ein: sich im Leben irgendwie durchschlagen“ (S. 99). Es etabliere sich eine „Marketinggesellschaft“, die auf Manipulation setze, digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies um Aufmerksamkeit gebuhlt würde. Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S. 108). Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus einzuhegen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen“ (Schlusssätze S. 119).

Diskussion

Das Buch greift die bekannte Kritik am Neoliberalismus auf: Demokratische Prozesse werden etwa durch neoliberale Eingriffe immer mehr ausgehebelt und durch betriebswirtschaftliche Methoden ersetzt, etwa demokratische Kontrolle der Machtausübung durch Controlling der Effizienz (Barth 2006); Geld- und Machteliten manipulieren durch Medien und Think Tanks die Öffentlichkeit und die Regierungen (Krysmanski 2009). Reimer versteht es, pointiert zuzuspitzen und aktuelle Aspekte wie die Digitalisierung und den Plattformkapitalismus einzufügen. Der spezielle Dreh, sich auf das Absurde zu fokussieren öffnet immer wieder neue Einsichten. Dass Reimer sich dabei auf die Duden-Definition beschränkt und eine Diskussion der heftigen Debatten zum Absurden vermeidet, ist einerseits eine elegante Straffung. Andererseits entgehen ihm damit eine kritischere Bewertung von Albert Camus: Wolfgang Fritz Haug, ein Nestor der marxistischen Kapitalismusanalyse, befasste sich schon in seiner Doktorarbeit mit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965). Haugs Kritik besonders an Camus war, dass dort ein Kult leerer Freiheit sich selbst in elitärer Ferne zur Gesellschaft sah und darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, statt aktiv gegen Ursachen der kapitalistischen Entfremdung anzukämpfen (Haug 1991, S. 40 f., S. 190 f.). Insofern wäre Reimer vielleicht bei Camus Gegenspieler Sartre besser aufgehoben gewesen, um Auflehnung gegen neoliberale Ungerechtigkeit zu fördern. Seiner funktionalistischen Kritik tut dies jedoch keinen Abbruch.

Das Buch von Jürgen-Michael Reimer thematisiert die Absurdität einer Wirtschaftsweise, die ihre Versprechen nicht einlöst, ihre eigenen Grundlagen untergräbt und letztlich unseren Planeten zerstört. Die neoliberale Ideologie stellt ein falsches Bewusstsein dar, da sie die Realität nur verzerrt wahrnimmt, ihre angeblichen Beiträge zum Gemeinwohl sind illusionär. Die von ihr dominierten Gesellschaften sind ungerecht, verwüsten Bildungs- und Gesundheitswesen ebenso wie Natur und Klima. In der ideologisch verschleierten, aber mit Finanzialisierung und Digitalisierung weiter wachsenden Entfremdung könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden mit Albert Camus auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um den Neoliberalismus einzuhegen. Eine wirtschaftswissenschaftlich fundierte und gut lesbare Einführung in die Kritik am digitalen Kapitalismus und Neoliberalismus als dominierender Ideologie und Wirtschaftsform.

Eine ungekürzte Version der Rezension kann auf dem Blog des Rezensenten gelesen werden.

Fazit

Jürgen-Michael Reimer thematisiert die Absurdität des Neoliberalismus, der seine Versprechen nicht einlöst, seine eigenen Grundlagen untergräbt und letztlich unseren Planeten zerstört. Die vom Neoliberalismus dominierten Gesellschaften sind ungerecht, verwüsten Bildungs- und Gesundheitswesen ebenso wie Natur und Klima und sorgen mit Finanzialisierung und Digitalisierung für weiter wachsenden Entfremdung: Eine wirtschaftswissenschaftlich fundierte und gut lesbare Einführung in die Kritik am digitalen Kapitalismus und Neoliberalismus als dominierender Ideologie und Wirtschaftsform.

Literaturangaben

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S. 101–111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl. Hamburg 1991 (Or.1966).

Krysmanski, Hans: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S. 25–37.

Reimer, Jürgen-Michael: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay, Köln 2023, Paperback, 123 Seiten, 16,00 Euro. ISBN 978-3-89438-809-6

Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Es gibt 21 Rezensionen von Thomas Barth.

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Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 21.11.2023 zu: Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. PapyRossa Verlag (Köln) 2023. ISBN 978-3-89438-809-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31446.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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