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Rosmarie Barwinski: Trauma und Gegenübertragung

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 06.12.2023

Cover Rosmarie Barwinski: Trauma und Gegenübertragung ISBN 978-3-608-98098-1

Rosmarie Barwinski: Trauma und Gegenübertragung. Den Stand der Traumaverarbeitung erkennen und Behandlungsschritte planen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 272 Seiten. ISBN 978-3-608-98098-1. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR.
Reihe: Traumafolgestörungen vorbeugen, behandeln und rehabilitieren Hrsg. von Robert Bering und Christiane Eichelberg. .

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Autorin

Rosmarie Barwinski, Prof. em. Dr. phil. habil., Psychoanalytikerin; Psychotherapeutin SPV/FSP; bis 2022 Privatdozentin in Klinischer Psychologie an der Universität zu Köln; Supervisorin und Dozentin am Psychoanalytischen Seminar in Zürich und am Aus- und Weiterbildungsinstitut (AWI) für Psychoanalytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in Freiburg (DH); Gründerin und Leiterin des Schweizer Instituts für Psychotraumatologie in Winterthur (seit 2006), eigene Praxis in Winterthur

Thema

Die Gegenübertragungsanalyse ist seit Kernberg (1989) eines der wichtigsten Instrumente zur Diagnose unreifer Formen der projektiven Identifizierung. Mittels der bewussten Aspekte der Gegenübertragung und Phantasien zur unbewussten Gegenübertragung, von (gegenüber dem Patienten entstandenen) Gefühlen, Affekten und Handlungsimpulsen kann erschlossen werden, welche inneren „Objektbeziehungen“ eine Person in aktuell in der Übertragung aktiviert hat bzw. reinszeniert. Dieser Mechanismus trifft nach Ansicht der Autorin nicht nur auf Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörung zu, sondern auch auf komplex traumatisierte Menschen (ggf. auf Borderlinefunktionsniveau).

Entstehungshintergrund

Barwinski bezieht sich auf die Traumatheorie von Gottfried Fischer und Peter Riedesser (1989), zugrundelegend die kognitive Entwicklungstheorie von Pierre Piaget sowie die Theorie der Symbolisierung der italienisch-amerikanischen Psychoanalytikerin Anna Aragno.

Aufbau/​Inhalt

Das Werk gliedert sich in sieben Kapitel und ist weniger ein „Erfahrungsbuch“ und mehr ein Leitfaden zur Traumabewältigung, eine Art Manual. Barwinski hat eine eigene elaborierte psychodynamisch begründete Vorgehensweise entwickelt, die sie sehr differenziert mit vielen Tabellen entfaltet. Geschildert und erläutert wird eine spezielle Technik der Gegenübertragungsanalyse (mit weniger Fokus auf dem Gesamtprozess wie etwa bei Fischer, Streeck-Fischer oder Reddemann). Da sich therapeutisches Arbeiten im psychodynamischen Verfahren ja eher intuitiv gestaltet, stellt ihr Manual dabei keine direkte Arbeitsgrundlage dar sondern ist eher vorstellbar als ein Curriculum für eine mehrjährige Weiterbildung oder für ein Studium.

Kapitel 2: Wie kann die Gegenübertragung aus symboltheoretischer Sicht differenziert werden

In einer Tabelle differenziert die Autorin sechs psychostrukturelle Reifestufen mit den Phänomenzuordnungen betreffend die individuelle Ausdrucksform: Körpersymptome, etwa somatisierte Angstäquivalente, körpernahe Erinnerungen (Embodiments), sprachliche (rationalisierte) Erinnerungen bei denen das eigene Opfersein erfasst wird, auf der nächst reiferen Symbolisierungsstufe emotionales und kognitives Erkennen des Täters (nicht: ich bin schuld weil ich verführerisch war); erst auf der höchsten Stufe der Rationalisierung ist eine moralische Bewertung möglich [1]). Wer mit der Methode vertraut ist, kann über die empathische Kongruenz und über die Art der Kongruenz oder Inkongruenz der Gegenübertragung die Reife der psychischen Repräsentanz des traumatischen Geschehens erfassen.

In ähnlicher Weise benutzt Otto Kernberg die Gegenübertragung in der übertragungsfokussierten Psychotherapie als diagnostischen Zugang. Auch wenn eine solche Gliederung konsistent dargestellt werden kann, ist die Beurteilung der Reife der unbewussten Affektkommunikation die zudem anlassbezogen fluktuiert hohe therapeutische Kunst, die sich nur in mehrjährigen Trainings erwerben lässt. Rainer Krause konnte empirisch belegen, dass nicht wenige Therapeut:innen diese Fähigkeit nicht beherrschen. Die im deutschen Sprachraum verbreitete Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD leistet ähnliches, ist aber aufgrund des sehr differenziert ausgearbeiteten Leitfadens schon für psychodynamisch Weitergebildete in ihren klinischen Anfangsjahren nutz- und handhabbar.

Die Tabelle 2–2 „Zuordnungen von Symbolisierungsstufen, Ausdrucksformen traumatischer Erfahrungen und Empathie zu Gegenübertragungsmanifestationen“ gründet sich auf Überlegungen Anne Aragnos (1997) und stellt eine Art Leitfaden zur Orientierung durch die emotionalen (Gegenübertragungs-)Reaktionen dar.

Diskussion

Rosemarie Barwinski legt ein erfahrungsgesättigtes, differenziertes und kleinteiliges Werk vor, das uns einen sehr komplexen Eindruck von der Arbeit mit der Gegenübertragung in allen traumarelevanten Therapie- und Beratungsformen gibt. Grundlage ist ein psychoanalytischer Verstehenszugang, der durch kognitionswissenschaftliche und neurobiologische Kompetenzen ergänzt wird. Barwinski steht auf dem Boden empirischer psychodynamischer Forschung, sodass Ergebnisse der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD), der Bindungstheorie, der neueren Psychotherapieprozessforschung eine große Rolle spielen, während esoterische analytische Schulen ausgespart bleiben. Barwinski ist vor allem Weiterbilderin, sodass dem Werk seine didaktische Ausrichtung anzumerken ist; hier wird weniger an impliziten Erfahrungen gearbeitet als vielmehr an kognitiv vermitteltem Wissen. Der Fokus der Gegenübertragung trägt bei zu einer sicheren Arbeitsbeziehung, über den Inhalt der verbalen Mitteilungen hinaus. Die Bearbeitung unbewusster Problemkonstellationen über die bewussten Botschaften hinaus grundiert den therapeutischen Prozess psychodynamisch und schafft Boden für Verstehen und Nutzbarmachung von Beziehungsdynamik und innerem Konflikt. Vermutlich werden Psychotherapeut:innen mit längeren Behandlungszeiten einen größeren Nutzen daraus ziehen können als Berater:innen oder Pflegepersonal, jedoch kann z.B. in der Supervision oder Intervision der Fokus auf die Gegenübertragung auch diesen Berufsgruppen beim Verstehen von individuellen Traumafolgestörungen helfen. Mit seiner kognitiven Orientierung ist der Text auch für Therapeut:inen aus dem Bereich der neueren Verhaltenstherapie hilfreich, die nie verstanden haben, was psychodynamische Therapie eigentlich soll.

Fazit

Rosmarie Barwinski hat ein etwas sperriges, aber didaktisch gut gestaltetes Buch über den Umgang mit Gegenübertragung geschrieben. Neben Psychotherapeut:innen jeder theoretischen Orientierung können auch Berater:innen und Angehörige sozialpflegerischer Berufe für ihre theoretische Grundierung aber vor allen für ihren klinischen Alltag profitieren.

Literaturverzeichnis

Arbeitskreis OPD (2006): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Huber Verlag,

Antonowsky, Aron (1987): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (in: Forum für Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis Bd. 36) Tübingen: DGVT-Verlag

Aragno, Anna (1997): Symbolization: proposing a developmetal paradigm for a new psychoanalytic theory of mind, Madison, CT: International Universities Press, 435 pp

Fischer, Gottfried; Peter Riedesser (2009): Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Ernst Reinhardt (UTB)

Fischer, Gottfried (2000): Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie MPTT, Heidelber: Asanger

Kernberg, O. F:, M. Selzer, H.W. Koenigsberg, A.C. Carr, A. H. Appelbaum (1989): Psychodynamic Psychotherapy of Borderline Patents, New York: Basic Books, dt. Psychodynamische Therapie bei Borderline Patienten, Bern: Hans Huber 2008

Krause, Rainer (2012): Allgemeine psychodynamische Behandlungs- und Krankheitslehre. Grundlagen und Modelle. Stuttgart: Kohlhammer

Piaget; Jean (1975):L'equibratin des Strukture cognitives, Pressee Universitaires de France, deutsch: Kognitive Stukturen ausbalancieren (keine deutsche Publikation gefunden)

Reddemann, Luise (2004):Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie PITT: Das Manual. Stuttgart: Pfeiffer

Streeck-Fischer (2018): Trauma und EntwicklungAdoleszenz – frühe Traumatisierungen und ihre Folgen, Stuttgart: Schattauer


[1] Vgl. Antonowskys jüdische lagerüberlebende Frauen, die auf der höchste Stufe des sense of coherence, in der Lage waren mit ihren Bewachern von der SS Mitleid zu empfinden

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 42 Rezensionen von Ulrich Kießling.

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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 06.12.2023 zu: Rosmarie Barwinski: Trauma und Gegenübertragung. Den Stand der Traumaverarbeitung erkennen und Behandlungsschritte planen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-608-98098-1. Reihe: Traumafolgestörungen vorbeugen, behandeln und rehabilitieren Hrsg. von Robert Bering und Christiane Eichelberg. . In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31448.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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